Grégoire de Visme

 

Seit der Ankunft der Arier (auch Veden, Aryas oder Indo-Arier genannt) in Indien und ihrer religiösen und kulturellen Vorherrschaft ist es keiner Tradition, nicht einmal dem Islam, gelungen, die Hegemonie, die Vorherrschaft und die Prägnanz des Hinduismus vedischer Tradition zu erschüttern.

Diese indoeuropäische Volksgruppe, die aus dem indo-iranischen Zweig stammt, drang nach dem Untergang der Indus-Zivilisation zwischen 1000 und 1500 v.d.Z. über Kaschmir nach Indien vor, jedoch nur in den Norden des Punjab (Aryana, Arya-Varta). Es handelt sich um eine Volksgruppe mit heller Haut und hellem Haar. Die Ansiedlung der Arier im Norden Indiens drängt viele Bewohner der Ufer des Indus, der Yamuna und des Ganges nach Süden. Die Mundas werden nach Osten zurückgedrängt, die Proto-Draviden auf die Halbinsel und den Dekkan.

Um das Jahr 1000 v.d.Z. kämpften die arischen Völker um die Vorherrschaft im Norden des Subkontinents. Es war die halb legendäre Schlacht der zehn Könige, in der die mächtigsten arischen Stämme irgendwo zwischen Indus und Yamuna (wahrscheinlich im Punjab oder in Haryana) aufeinander trafen. Diese Schlacht inspirierte den Kontext des Mahabharata.

Um 500 v.d.Z. beherrschten die Arier die Städte am Ganges, deren Mythen und Riten sie übernahmen. Kashi-Varanasi, eine heilige Stätte der Mundas-Bergvölker, wurde zu einer ihrer heiligen Städte. Die Sanskritisierung des Landes war vollständig: Jeder Mythos, jede Erzählung, jeder religiöse Gedanke und jede Philosophie wurde in Sanskrit zusammengestellt und niedergeschrieben.

Während das städtische Indien sehr schnell die vedischen Referenzen übernahm, blieben die ländlichen Gebiete noch lange Zeit dem ursprünglichen Schamanismus und dem volkstümlichen Sadhusismus treu.

Die arische Zivilisation ist pantheistisch und polytheistisch geprägt nach einem Modell, wie es auch in Europa und im Nahen Osten zu finden ist. Die Götter verkörpern elementare Kräfte, die man beschwörend oder sühnebringend anruft, aber auch in Form von Gelübden und Gebeten. Getragen von einer Kaste von Reiterkriegern (Kshatriyas) und später von einer Priesterkaste (Brahmanen) brachten die Arier mythologische Bezüge nach Indien, die von der proto-indoeuropäischen Heimat ihrer Vorfahren inspiriert waren: dem Norden Eurasiens und insbesondere Süd- und Zentralsibirien.

So stammt im Hinduismus alles, was nicht aus dem Vedismus oder seinen Nachfolge- oder Splittersekten stammt, notwendigerweise aus einer vorvedischen Kultur.

Der Einfluß der abrahamitischen Religionen ist gering, aber dennoch spürbar bei späteren indischen Denkern wie Nanak, dem Begründer des Sikhismus, Kabir, Ramakrishna, Gandhi oder Osho. Auch wenn im modernen Hinduismus islamische und christliche Einflüsse zu erkennen sind, bleiben diese weitgehend marginal, oberflächlich und ohne tiefgreifenden Einfluß auf Riten, Theologie oder Kosmogonie und haben die Struktur des hinduistischen Glaubens (dessen verbindendste, aber auch vom abrahamitischen Monotheismus am stärksten abgelehnte Prinzipien – Reinkarnation, Polytheismus,  Vegetarismus und die Gewaltlosigkeit –sind) nicht verändert.

Gestützt auf eine jahrtausendealte Zivilisation blieb die indische Tradition trotz der arischen Eroberung prägend und ist in der arischen Spiritualität durchscheinend erkennbar. Es ist diese zum Randphänomen gewordene, aber immer noch wirksame Lehre, die den arischen Vedismus zum synkretistischen Brahmanismus entwickelt hat.

Auch wenn sie geheimnisvoll und schwer faßbar ist, bleibt die indische Spiritualität doch die Grundlage des modernen Hinduismus, der vom Vishnuismus, Krishnaismus und Shivaismus dominiert wird – allesamt vorvedische Traditionen, deren kulturelle Wurzeln in der spirituellen Tradition im Jainismus zu finden sind.

Die indo-iranischen Sprachen

Der Vedismus ist die Religion, die durch die Veden und vor allem durch die Hymnen des Rig-Veda, der ältesten Gebetssammlung der Menschheit, verbreitet wird. Obwohl sie erst zu Beginn unserer Zeitrechnung niedergeschrieben wurde, geht ihre mündliche Überlieferung vermutlich auf die Zeit zwischen 2000 und 1500 v.d.Z. zurück, als die Arier in Zentralasien und insbesondere zwischen der heutigen Ukraine und der heutigen Mongolei lebten (Andronovo– und Sintashta-Kulturen). Im alten Indien war der Vedismus also eine fremde Religion.

Ein vedisches Dorf, Gemälde von BK Mitra

Da die arische Religion ein sehr ritualisierter und kodifizierter Kult ist, haben einige Kommentatoren den Vedismus als abergläubische und rudimentäre Religion bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich um einen Pantheismus, der zumindest im Rig-Veda wenig metaphysische Überlegungen anstellt: Es ist eine Religion, in der den Ritualen mehr Bedeutung zukommt als metaphysischen Spekulationen. 

Der Vedismus ist ein einfacher Kult ohne Klerus, der von den Oberhäuptern der Familien ausgeübt wird und besonders für proto-agrarische Nomadengesellschaften geeignet ist. Er steht im Gegensatz zu den monotheistischen Religionen oder vielmehr den Shiva- und Vishnu-Monolatrien. Der arische Kult der etablierten Ordnung (Rta, Dharma) steht in starkem Kontrast zu den vorvedischen asketischen Lehren der Munda, Sadhu und Jains. Da sie insbesondere dank des vedischen und indoeuropäischen Korpus sehr gut dokumentiert ist, werden der arische Einfluß und der Vedismus häufig überschätzt, wenn es darum geht, ihren Anteil an der Entstehung des Hinduismus als homogenes Religionssystem zu bewerten. Zu Unrecht wird diese religiöse Schicht von Indologen und Enzyklopädisten oft als Grundlage des modernen Hinduismus, wenn nicht gar als Ursprung des Hinduismus selbst angesehen.

Der Vedismus ist jedoch ein Glaube nord-eurasischen Ursprungs, der in Indien eine starke Veränderung erfuhr und innerhalb weniger Jahrhunderte zum „Brahmanismus“ wurde, einer zwar arischen Mythologie, deren Mystik jedoch von der lokalen indischen Askese und Mystik inspiriert ist. Im vedischen Korpus läßt sich daher der Übergang von einer vegetativen Kosmogonie, die im ursprünglichen Korpus sogar ganz fehlt, zu einem einheitlichen, demiurgischen Schöpfungsglauben beobachten.

Der gerade aus den Steppen importierte arische Kult war noch sehr einfach; es handelte sich um eine Art Ritualismus, bei dem Zauberformeln und Opfergaben an Elementarkräfte gerichtet wurden. Erst später, unter dem starken Einfluß der spirituellen Meister des Jainismus (Sannyasins) und ihrer strengen nihilistischen (nichtsbejahenden) Metaphysik, wurde der Vedismus komplexer und entwickelte sich zum Brahmanismus (der nach dem Vorbild des Jainismus und Buddhismus zu einer echten Philosophie der Erleuchtung wurde).

Dies war die Geburtsstunde der Vedanta-Philosophie, die wörtlich „das Ende der Veden“ bedeutet, also das Ende des arischen Ritualkults und die Entstehung einer nicht-dualistischen Philosophie (und seit Shankara ist die Vedanta die Hauptströmung des klassischen Hinduismus).

Als sie südlich der Hänge des Pamir und Kaschmir zogen, gaben die Arier ihre Gottheiten auf: Varuna, unter dem Namen Ahura-Mazda, stand weiterhin im Mittelpunkt des iranischen Kultes, während er bei den indischen Ariern die Vorrangstellung mit Indra und Agni teilte. Mit(h)ra, Herr des Himmels und Sonnengott der Perser, ist Gegenstand nur einiger vedischer Hymnen.

Die Vorrangstellung dieser Gottheiten wurde in den späteren hinduistischen Epen nicht wieder aufgenommen. In den Kommentaren zum Rig-Veda (Brahmanas) werden die klassischen Gottheiten des Vedismus zwar noch erwähnt, aber sie sind nur noch Protagonisten moralischer Erzählungen. 

In der postvedischen mündlichen Überlieferung erteilen die Avatare von Vishnu, Durga-Kali oder Shiva selbst den alten arischen Devas unermüdlich Lektionen in Weisheit. Die einst mächtigen Devas, die mit unzähligen Kräften ausgestattet und allmächtig waren, werden nun zu untergeordneten Gottheiten herabgestuft, die von Selbstgefälligkeit und Arroganz geprägt sind.

Nach der vollständigen Akkulturation der Arier in Indien und der Vermischung ihrer Religion durch die Einbeziehung der wichtigsten Gottheiten des indischen Pantheons (Pashupati, Rama, Krishna), Munda (Varaha, Matsya, Garuda, Hanuman, Ganesh) und Dravid (Shiva, Vishnu) entsteht ein göttliches Wesen, das über allen anderen Gottheiten steht: Es handelt sich um das Wiederaufleben des indischen monotheistischen Gottes, des Proto-Shiva, der Siegel von Harappa und Mohenjo-Daro sowie des Adinath der Jains und Sadhus.

Über mehr als ein Jahrtausend hinweg entwickelte sich die arische Mythologie zu einem großmütigen und beschützenden Gott, wobei die zwölf Devas und ihre ultimative Verehrung für Indra und Varuna durch einen pseudomonotheistischen Kult ersetzt wurden, der zunächst auf Brahma und später auf Vishnu und Shiva ausgerichtet war.

Steinskultur der Hinduistischen Trinität: Brahma, Vishnu, Shiva

Eine weitere wichtige Entwicklung in der arischen Mythologie: Ausgehend von einem ursprünglichen Pantheon, das nur sehr wenige Göttinnen zuließ, verbanden die Arier in Indien systematisch Paraderinnen mit ihren Hauptgöttern (nur die Präsenz von Ushas „Morgendämmerung“ und Uma „materielles Universum“ ist im Rig-Veda bemerkenswert, und nur Anahita ist im avestischen Pantheon vertreten).

Während die Anwesenheit von Gemahlinnen für die westeuropäischen Indogermanen (Kelten, Germanen) typisch ist, ist sie bei den Ariern eher anekdotisch: Abgesehen von Dyaus, dem Gott des Himmels, und seiner Gefährtin Prithvi, der Erde, sind himmlische Duos im Rigveda und im avestischen Korpus eher selten. Nach der brahmanischen Periode sind sie jedoch Legion: Zu nennen sind beispielsweise das Paar Brahma/Sarasvati (bereits im Veda vorhanden), aber auch Shiva/Parvati, Vishnu/Lakshmi, Indra/Indrani, Ganesh/Ganeshi, Rama/Sita, Krishna/Radha

Krishna und Radha

In seiner ursprünglichen, ritualistischen und pantheistischen Form wurde der Vedismus daher innerhalb weniger Jahrhunderte aufgegeben, ohne jemals den Einheimischen aufgezwungen worden zu sein. Umgekehrt belegen die mythologischen Sammlungen der Epen Ramayana von Valmiki (um 300 v.d.Z.) und Mahabharata von Vyasa (um 500 v.d,Z.), daß die Arier die lokale Mythologie übernahmen, deren wichtigste Figuren Rama und Krishna waren.

Rama

Durch den Kontakt mit den indischen Religionen entwickelte sich das vedische Pantheon stark weiter, insbesondere durch eine Verringerung der Gottheiten. Ebenso entwickelten sich die Rituale und Opfergaben von blutigen Tieropfern zu veganen und symbolischen Opfergaben.

So ist die in der Bhagavad Gita vertretene Philosophie nur teilweise arisch geprägt. Man erkennt darin einen erheblichen indischen Einfluß, insbesondere in Bezug auf das Konzept der Bhakti (Verehrung des Göttlichen), die Ablehnung des Kampfes (auch wenn dieser Punkt widerlegt wird) oder die Reinkarnation.

Die heiligen Epen Indiens sind übrigens zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen: Krieg führen und das Dharma annehmen oder Askese üben und sich nihilistisch verhalten.

Aber was wird aus einem Königreich, wenn sein König keine Opfer mehr bringt, sondern nur noch sein persönliches Heil sucht? Kurz gesagt, die Wahl zwischen einem Leben in der Welt und der Entsagung kann nicht frei von jeglichen Verpflichtungen getroffen werden. Es gilt, den Fortbestand dieser Welt, die niemand untergehen sehen will, mit der Erlangung eines endgültigen persönlichen Heils in Einklang zu bringen. [Madeleine Biardeau, Vorwort zur Mahabharata].

Daraus läßt sich schließen, daß es die Vorfahren der hohen Würdenträger des Indus waren, die durch ihre religiösen Bräuche und ihre ausgereifte Lebensphilosophie die vedischen Brahmanen beeinflußt haben, denn ein solcher Einfluß kann nicht den Wald- oder Bergbewohnern zugeschrieben werden. 

Was den Vedismus beeinflußt und die ritualistische und vereinfachende Lehre der ursprünglichen Veden korrumpiert, sind die verführerischen Konzepte der Indus-Zivilisation, darunter moralische Askese, fanatischer Pazifismus, absolute Gewaltlosigkeit, Vegetarismus, Monolatrie, wenn nicht gar Monotheismus, die Verehrung der göttlichen Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Sohn… All diese Konzepte fehlen im ursprünglichen vedischen Korpus.

Erwähnen wir auch den Mythos vom „Jüngsten Gericht”, den man in Ägypten, China und in der puranischen Literatur findet, der aber wiederum im vedischen oder avestischen Korpus völlig fehlt. Ebenso ist der Begriff des Karma, der in den eurasischen Steppen unbekannt, aber in allen Lehren des Subkontinents prägend ist, im rig-vedischen Korpus ebenfalls nicht zu finden.

Fassen wir zusammen. Während der Jungsteinzeit entwickelte sich in Nordeuropa ein subarktischer Schamanismus. Dieser ritualistische und elementare Kult, der von den Ur-Ariern ausgeht, verbreitete sich in Südeurasien vom Mesolithikum bis in die Antike. 

Um 2000 v.d.Z. kristallisierte sich unter mesopotamischem Einfluß der iranische Arierkult um Varuna heraus, der zu Ahura-Mazda, dem Großen Gerechten und Weisen, wurde. Um 1500 v.d.Z. standen die indischen Arier vor den Toren des indischen Subkontinents, den sie ab 1000 v.d.Z. vom Indus bis zum Ganges unterwarfen. Sie folgten einer pantheistischen, polytheistischen Religion, die direkt aus den euroasiatischen Steppen stammte.

Um 600 v.d.Z. wurde aus dem Vedismus der Brahmanismus. Nach nur wenigen Jahrhunderten in Indien gaben die Arier ihr Pantheon aus mehreren Dutzend Göttern auf, sodaß nur ein Konzept übrig blieb: Brahman (der weniger ein Gott als vielmehr ein göttlicher Bereich ist, der nur den Weisen zugänglich ist).

Die Devas standen nicht mehr im Mittelpunkt der Kultpraxis: Die Brahmanen zogen es vor, den göttlichen Bereich der Rishis und dessen Schutzgottheit, den Demiurgen Brahma, zu verehren, anstatt den kriegerischen Indra und Indrapura, seine himmlische Stadt, die den im Krieg gefallenen Helden vorbehalten war. 

Die religiöse Macht geht von den Kriegern auf die Priester über, während der Einfluß des indischen Asketismus und der Heilsreligionen (Jainismus, Sadhismus) dazu beiträgt, den Vedismus in Brahmanismus zu verwandeln.

Arjuna befragt Krishna vor der Schlacht / Mahabarata

Der Brahmanismus entspricht einem grundlegenden Wandel in der Spiritualität der Arier, die sich niederlassen und nach einer ausgefeilteren Spiritualität streben, die weniger Wert auf die strikte Einhaltung von Ritualen legt, sondern vielmehr auf metaphysische Spekulationen und die Erlösung der Seele. 

Wenn sich die Upanishaden (ca. 600 bis 400 v.d.Z.) und ihre Philosophie so stark vom Kanon der vier Veden (ca. 2000 bis 800 v.d.Z.) unterscheiden, dann deshalb, weil sie den perfekten Ausdruck der theologischen und metaphysischen Synthese darstellen, die sich zwischen der ritualistischen und pantheistischen Tradition der Arier und dem indischen Asketismus und seinem pseudomonotheistischen Kult vollzog, der eher einen paläo-afroasiatischen als einen paläosibirischen Mythos mit sich brachte.

Der arische Einfluß in Indien ist nach wie vor immens, insbesondere dank der weit verbreiteten Verwendung des Sanskrit, das sowohl als heilige Sprache als auch als profane und Verwaltungssprache der gesamten Bevölkerung Süd- und Zentralasiens diente und über mehr als tausend Jahre vom Tarimbecken (im Inneren Chinas) bis nach Bali (in Indonesien) verwendet wurde.

Diese Sprache legte in mehr oder weniger volkstümlichen, archaischen oder klassischen Versionen den Grundstein für die epische und religiöse Poesie in Asien, wobei sich das Modell der langen, rhythmischen Strophen, die ihren Ursprung im vedischen Korpus haben, verbreitete.

Darüber hinaus bildete die komplexe indoeuropäische Mythologie in Indien eine pädagogische und mnemonische Grundlage, die die Entwicklung des Theaters, der Philosophie, der Etymologie, der Astrologie, der Astronomie, der Botanik, der Medizin (Ayurveda) und aller Wissenschaften im allgemeinen ermöglichte.

Quelle: https://arya-dharma.com/2025/04/les-aryens-vediques-en-inde-en-influence-et-acculturation.html

Die Völker der Steppen

Die ›Hybrid-Theorie‹ des Max-Planck-Instituts über den Ursprung der Indogermanen

Die Kalasha – Der letzte Stamm

Die indoeuropäische Triade

Die Slawen

Die Kalasha-Religion