Grégoire de Visme

Teil 2

DER LETZTE URALTE POLYTHEISMUS

 

Die rituellen Praktiken sind klassisch für ein indoeuropäisches Volk. Die Gottheiten werden in Form von geschnitzten hölzernen Säulen oder Monolithen verehrt, wie es auch die Kelten oder Slawen taten. Diese Totems sind anthropomorph, mit weißen Steinen, die die Augen darstellen.

Hölzerne Ikone einer Göttin auf einer Bergziege, wahrscheinlich Disane oder Krumai

Es werden Tieropfer dargebracht. Jeder Gottheit des Kalasha-Pantheons wird ein Tier zugeordnet: Imra[1] werden Kühe geopfert, Gish Ochsen und Widder, Bagisht[2] Schafe und gelegentlich Ziegen oder ein Ochse. Ziegen werden Mahadeo (und manchmal auch ein Ochse) und den anderen Göttern geopfert. Die Kuh ist das Tier, das das größte Opfer darstellt, da dieses Tier viel teurer ist als ein Schaf oder eine Ziege. Von den beiden letztgenannten Tieren ist der Widder wertvoller als die Ziege. Der Widder kann auf den Flachdächern der Häuser geopfert werden. Ähnlich wie bei den arischen Opfern, die z. B. im königlichen Pferdeopfer (Ashvameda) beschrieben werden, werden die Opfer durch Enthauptung praktiziert, wobei das Blut als Trankopfer dargebracht und der Körper anschließend zerteilt und in das heilige Feuer geworfen wird. Solche Praktiken wurden bereits 6500 v.d.Zt. auf ähnliche Weise durchgeführt, wie die Stätte von Merhgarh, die älteste neolithische Stätte Indiens, belegt (Opferung eines Widders und Verteilung des Blutes).

Geopfert wird auch, um einen Streit zu beenden oder ein Bündnis zu schließen. Das Blut der Opfer wird mit Mehl, Wein und reinem Wasser zu Fladen geformt und auf dem Altar des Tempels ausgelegt. Wie in der gesamten Himalaya-Welt üblich, wird bei den Zeremonien Sandelholz verbrannt. Symbolisch steigt der Rauch zum Himmel auf und trägt die Opfergaben mit sich, die an die Gottheiten gerichtet sind.

Die Priester bilden eine Kaste, deren Berufsstand vererbt wird. Diese müssen die heiligen Gesänge beherrschen, wie es auch die vedischen Brahmanen tun, und sind mit der Fähigkeit ausgestattet, während der Rituale die Geistwesen wahrzunehmen. Sie sind Dichter und Schamanen, die während der Rituale ihren Kontakt mit dem Unbeschreiblichen pantomimisch darstellen. Sie beschäftigen sich mit Astronomie und interpretieren Prophezeiungen.

Die Kalasha praktizieren keine Menschenopfer und begraben ihre Toten auf Friedhöfen, ein Brauch, der sie mit der skythisch-kurganischen Welt in Verbindung bringt und sie deutlich von vedischen oder mazdäischen Praktiken unterscheidet. Wie die antiken und indoeuropäischen Völker beten die Kalashas jedoch nicht, sondern rufen die Gottheiten an und zelebrieren sie.

Leider werden die Friedhöfe und Monolithen sowie die Tempel der Kalasha immer wieder von muslimischen Fanatikern zerstört, daher werden keine imposanten Tempel oder Kultstätten zu Ehren ihrer Gottheiten mehr errichtet. Stattdessen bevorzugten sie Feuerstellen nach dem Vorbild der mazdäischen und vedischen Feuerstellen, die für die Verehrung („Trankopfer“ und „Opfergaben“) wesentlich und zentral waren. Ähnlich wie in Indien wird die Feuerstelle mit verschiedenen Holzarten befeuert, deren jeweilige Holzarten heilig und angemessen sind. Auch die Kalashas praktizieren das Umkreisen ihrer Götterbilder und Altäre. Das Umkreisen ist in Eurasien üblich, wurde früher im keltischen Raum praktiziert und heutzutage in Indien, Tibet und allen Ländern mit buddhistischer Tradition (China, Japan, Indochina).

Der Kalasha-Kalender ist von zahlreichen Festivals durchzogen. Dazu gehören das Frühlingsfest „Zosi“, das Erntedankfest „Uchao“ und das Weinfest „Pu“. Das wichtigste der Festivals ist das Chaumos-Fest, mit dem die Wintersonnenwende gefeiert wird. Während dieses Festivals entzünden die Dorfbewohner auf Berggipfeln, Hausdächern und an Kultstätten Feuerstellen, die vom heiligen Feuer belebt werden. Als Opfergaben werden dann Trockenfrüchte, Nüsse, Käse, Wein und die bereits erwähnten Tiere dargebracht. Zu den Feierlichkeiten gehören auch Volkstänze und Gesänge, die von den Frauen angestimmt werden, die in Gruppen umherziehen und dabei nicht aufhören zu singen.

Tanz der Frauen für die Götter

Diese Praktiken erinnern sowohl an die dionysischen Bacchanalien als auch an die Tänze zu Ehren Krishnas, die von der dravidischen Dichterin Andal beschrieben werden. Frauen aller Altersgruppen und Stände werden dazu ermutigt, sich zu schminken, sich schön zu machen, zu tanzen und zu singen, denn sie sind diejenigen, die den Sippen Wohlstand bescheren werden, sowohl in Bezug auf die Ernährung, indem sie auf den Feldern arbeiten, als auch in Bezug auf die Demografie, indem sie kräftige und zahlreiche Kinder gebären. Während des Festes nehmen die Frauen zahlreiche rituelle Reinigungsbäder.

Schließlich legen die Kalasha großen Wert auf die Auspizien, was zu einer Vielzahl von abergläubischen Annahmen führt, die jeder täglichen Aufgabe und jedem Bereich des Lebens Eigenschaften wie rein oder unrein zuweisen. Wenn sich diese reinen und unreinen Bereiche überschneiden und vermischen, dann ist das Gleichgewicht des Lebens gestört und das Böse ist die Folge. Derartiger Aberglaube findet sich auf dem gesamten indischen Subkontinent, sowohl in der Antike als auch in der Moderne, auf äußerst ähnliche Weise.

Die Besessenheit von der Unreinheit bringt die Kalasha dazu, ihre Frauen abzusondern, wenn sie ihre Periode haben. Bashalis, d. h. Häuser am Rande der Dörfer, wurden dann für blutende oder gebärende Frauen reserviert, damit sie den Rest der Gemeinschaft nicht verunreinigen (z. B. beim Kochen). In diesem Raum, der ausschließlich Frauen vorbehalten war und aus dem menstruierende Frauen nicht hinausgehen durften, wurde eine Statue der Göttin Disni, der Beschützerin der schwangeren Frauen und Göttin der Fruchtbarkeit, aufbewahrt.

Aus dieser binären Sicht des Daseins ergibt sich auch die Kalasha-Sicht, die die Täler, die von Barbaren bewohnt werden, und die Höhenlagen, die von den Kalasha bewohnt werden, klar voneinander trennt. Die Kalasha schreiben den Bergen die Domäne des Göttlichen, die wilde und unberührte Natur, das Hirtenleben und die heiligen Stätten zu, während sich im Tal die Friedhöfe, die menstruierenden Frauen und ihre Bashali sowie die Muslime, die in den umliegenden Tälern leben, befinden.

Diese Vision eines reinen und göttlichen Berges teilen die Kalasha mit den Shivaiten und dem Mythos des Berges Kailash, aber auch mit den arischen Kulturen. Für diese stellt der Berg den reinsten, inspirierendsten und weisesten Ort auf der Erde dar. Es handelt sich um den heiligen Berg Hara für die persischen Arier, den Berg Meru für die Inder, der bei den Buddhisten zu Sumuru wurde. König Brighu, viele Könige der Ishkavaku-Dynastie, Zarathustra, aber auch der Jain-Tirthankara Adinath – in den Bergen suchen die Hauptfiguren der indisch-persischen Mythologien die Erleuchtung, d. h. Ruhe, indem sie sich auf den Tod vorbereiten.

Das Kalasha-Universum besteht aus drei Dimensionen: dem Paradies, einem Bereich, der in sieben höhere Welten unterteilt ist, der Erde und den Unterwelten. Das heißt: das Immaterielle, das Materielle und das Nicht-Existente oder auch die Negation. Das traditionelle und mythologische Weltbild der Kalasha ist also klassisch für ein indoeuropäisches Volk, mit der Ausnahme, daß die Kalasha sich selbst nicht als aus dem Norden stammend betrachten, sondern aus dem Süden nach Chitral gekommen sind. Dieses südliche Stammland wird als ›Tsiyam‹ bezeichnet.

Das Kalasha-Pantheon besteht aus Imra (oder Imro), dem zentralen Schöpfergott, Gish und Bagish sowie Mahadeo (der Kalasha-Version von Shiva Mahadeva). Zusammen bilden die Götter eine Gruppe, die den vedischen Devas und den nordischen Asen ähnelt, sie sind die Devalogs. Viele Kalasha-Mythen sind zwar nicht mit ihren entfernten vedischen Verwandten identisch, haben aber viele Anknüpfungspunkte, wie z. B. der Mythos von Purusha, dem kosmischen Wesen, das zerstückelt wurde, um Leben zu schaffen, oder die Abenteuer eines Gottes, der eine gefangene Sonne befreit.

Außerdem wurden die Kalasha-Führer früher auf „Ehrenthronen“ über den Schultern ihrer Anhänger getragen. Eine solche Praxis erinnert an die Bankette der sogdischen Aristokratie, aber auch an die Paraden der keltischen Stammesfürsten auf einem zeremoniellen Schild.

Das Pantheon

Die Kalasha besitzen also das letzte noch aktive indoeuropäische polytheistische Pantheon. Während in Indien die Devas nur noch unbedeutende Figuren des modernen Hinduismus sind, glauben die Kalasha noch genauso an die „Devalogs“, wie sie es schon Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor getan haben. Es stimmt jedoch, daß sich der Kalasha-Kult weiterentwickelte und das heutige Pantheon nicht nur eine einzige homogene Schicht von Gottheiten darstellt, sondern mehrere.

Die älteste Gottheit ist Imra, auch Dam Raj genannt. Er ist der Zentralgott, der die Welt erschaffen hat und Vater der anderen Götter ist, aber seine Verehrung ist irgendwie aus der Mode gekommen. Heutzutage sind die Götterfiguren von Gish, Bagisht und Mahadeo beliebter. Die letzte Gruppe von Gottheiten sind schließlich die Göttinnen, von denen Disni die bekannteste ist. Eine vierte Gruppe sind die Hausgottheiten, die als Hüter der Familien und Dörfer fungieren.

Nach den Studien des berühmten Anthropologen George Scott Robertson, dem ersten Ethnographen, der uns diese Kultur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert näher brachte, umfaßt das Kalasha-Pantheon 16 Gottheiten, wenn man die Hauptformen und die Nebenformen ihrer Inkarnationen mitzählt. Der Anthropologe Peter Parkes von der University of Kent zählte 1986 über 40 verschiedene Namen von Gottheiten. Zu den wichtigsten Schutzgottheiten, die von der Kalasha-Gemeinschaft allgemein verehrt werden, kommt in jedem Dorf eine Wächtergottheit hinzu. Imra, Gish, Moni und Disni haben ihre eigenen Tempel, während die anderen Gottheiten in den Häusern der Haupttempel untergebracht sind.

Die Namen der Kalasha-Götter erinnern zwar an die vedischen oder persischen arischen Gottheiten, doch sind diese Götter weder Variationen noch Anpassungen, sondern besitzen einen ganz eigenen Charakter. So fällt es schwer, Shiva in der Figur von Mon (Mahadeo) zu erkennen.

Ein weiteres Beispiel: Yama, der Gott des Todes und eine sekundäre Schutzfigur des Vedismus, läßt sich nur schwer mit Yam Raj, dem „König Yama“ der Kalasha, vergleichen, der eine zentrale und wesentliche Figur in ihrem Kult ist. Yama wird in der brahmanischen Literatur häufig als Gottheit inszeniert, die die Geheimnisse des Lebens hütet und stets bereit ist, den Sterblichen Ratschläge zu erteilen oder sie im Dharma zu unterrichten.

Yama ist nicht unheimlich oder schädlich, wie es ein Hades sein könnte. Erst unter dem Einfluß des Buddhismus, durch den Yama zum Haupthindernis für die Erleuchtung von Prinz Siddhartha wird, wird er eifersüchtig und böse. Im Laufe des ersten Jahrtausends wird Yama schließlich unter dem puranischen Einfluß zum Wächter der Unterwelt und zum gefürchteten Herrscher der Yamadutas (sadistische Kobolde).

Eine weitere Ähnlichkeit: So wie bei den Vedischen Yama der Vater von Manu, dem ersten Menschen, ist, so ist der Yam Raj kalasha der Vater der Menschheit und insbesondere des ersten Menschen, eines „Baba Adam“. Daraus läßt sich schließen, daß die Kalasha eine uralte Form von Yama verehren, und zwar als Hüter des Lebens und als Schöpfer und Zerstörer des Universums, und nicht nur als bloßer Wächter der Unterwelt.

Der Name ›Adam‹ ist eine Anleihe aus der islamischen Anbetung, der die Kalasha zugestimmt haben, da die monotheistische mythologische Figur des Adam nicht weit von der ihren entfernt ist. Dasselbe gilt für Imra, die in den Volksliedern zu ›Allah‹ wird. Imra, der allmächtige Gott, der allen anderen Gottheiten der Kalasha überlegen ist, der das Universum wie auch die Menschen erschaffen hat, der den Tod bewacht und versorgt, ist in der Tat eine Figur, die mit dem einen Gott des abrahamitischen Monotheismus durchaus vergleichbar ist. So versuchten die Kalasha, der Verfolgung zu entgehen, indem sie die Kodizes der muslimischen Invasoren freiwillig oder gezwungenermaßen annahmen.

Auch die Yeziden im Nahen Osten nahmen die gleiche Haltung ein, die in der muslimischen Welt als Taqiya bezeichnet wird und die darin besteht, seinen wahren Glauben zu verbergen, um nicht den Zorn einer Gesellschaft auf sich zu ziehen, die gegen solche Überzeugungen ist. Normalerweise wird Taqiya von Muslimen in nicht-islamischen Ländern praktiziert, kann aber auch von Anhängern einer nicht-islamischen Glaubensrichtung im islamischen Land praktiziert werden.

Imra, Yama Raj

Imra (oder Imro auf Kamviri), Dezau („der Schöpfer“), Khodaii (auf Persisch), Yama Raj („der König des Todes“ auf Sanskrit) oder Mara („der Tod“ auf Nuristani), ist der Schöpfergott, Vater der anderen Götter und des ersten Menschen. Die anderen Götter sind ihm untergeordnet. Die Göttin Disni, auch Dezalik („die Schwester von Dezau“) genannt, wird als ihre Schwester dargestellt, aber sie haben keinen gemeinsamen Vater oder eine gemeinsame Mutter, da beide Urgötter sind. Wie Vishnu Narayana, der auf einer Schlange unterhalb des Urozeans liegt, aus dem alle Schöpfung ihren Ursprung hat, ist Imro der Herrscher über das, was ist, und das, was nicht ist. Das heißt, was erschaffen und unerschaffen ist, was vergänglich und unvergänglich ist. Er ist also Herrscher über die Unterwelt und den Himmel. Die anderen Götter leben von seinem Atem.

Die Verehrung von Imra ist weniger prunkvoll als die von Gish oder Disni. Zwar gibt es in jedem Dorf ein Wachhäuschen oder eine kleine Kapelle zu ihren Ehren, die ein hölzernes oder monolithisches Götzenbild beherbergt, doch sind diese Räume bescheiden und unterscheiden Imra in keiner Weise von einer anderen Gottheit. Dasselbe gilt für den Schöpfergott der Hindus, Brahma, der in Indien nur sehr wenige Tempel besitzt und trotz seiner bedeutenden Rolle in der Mythologie im Vergleich zu Shiva oder Vishnu eine Gottheit von bescheidener Größe ist.

Heutzutage, da die Kalasha das letzte Jahrzehnt ihrer Existenz erleben, ist die Verehrung von Imra aus der Mode gekommen. Einst befand sich sein größter Tempel in Kushteki, in der Mitte des Tals. Nach der Besiedlung Peristans durch afghanische Muslime wurde Kushteki zum einzigen religiösen Zentrum und zur wichtigsten Pilgerstätte der Kalasha aus den umliegenden Tälern. Der Tempel wurde seitdem zerstört. Außer in der Erinnerung der Kalasha und im Werk von G. S. Robertson (der den Tempel Ende des 19. Jahrhunderts besuchte und das Glück hatte, sich ihm zu nähern und ihn wahrheitsgetreu zu beschreiben) ist nichts mehr von ihm übrig geblieben.

Gish

Gish ist bei weitem die beliebteste Gottheit der Kailashas. Jedes Dorf hat einen Schrein zu seinen Ehren, wenn nicht sogar zwei. Er ist der Kriegsgott, der nach einem heroischen Leben, das er auf der Erde damit verbrachte, Gerechtigkeit zu verkörpern und die Feinde der Kalasha zu vernichten, zur Gottheit geworden ist. Gish ist der mythische Held, der sich den Muslimen entgegenstellte und die meisten ihrer Anführer (die die Kalasha-Mythologie als Dämonen registrierte) niedermetzelte. 

So wie Herakles bei den jungen Griechen und den Kriegern Spartas besonders beliebt war, zieht Gish die Gunst und Hingabe der jungen Kalasha auf sich. Ähnlich wie Rama, der vollkommene Gott des Hinduismus, stellt Gish den Typus des gerechten und mutigen Kalasha dar, der nicht zögert, seine Feinde niederzumetzeln.

Bagisht

Bagisht ist der Gott des Reichtums und des Wasserelements. Er herrscht über Flüsse, Seen und Quellen. Er wird bei Festen gefeiert, die mit der Landwirtschaft in Verbindung stehen. Die Monolithen, die ihm geweiht wurden, standen an Seen. Die Tiere, die ihm geopfert werden, werden ins Wasser geworfen. Indem sie Bagisht opferten, glaubten die Kalasha, Reichtum auf sich zu ziehen.

„Gott des Reichtums“ bedeutet für ein Volk wie die Kalashas, daß es sich um eine Gottheit handelt, die über das Vieh und die verschiedenen Herden wacht. Auch in den Veden werden Kühe als Symbol für den Reichtum der Mutter Erde dargestellt, aber auch als die wichtigsten Tiere, die ein Brahmane in seiner Nähe haben muß, um leben zu können. Eine Kuh gibt Milch, die für Säuglinge nützlich ist, aber sie zeugt auch Ochsen, die für die Arbeit auf dem Feld nützlich sind.

Der Veda oder das Avesta beschreiben Kühe als begehrtes Gut der arischen Krieger. Diese waren nicht darauf spezialisiert, Gebiete zu erobern oder zu verwalten, sondern Frauen zu rauben und Rinder zu stehlen – beides unverzichtbare Garanten für den Wohlstand eines Clans oder Stammes. Solche Praktiken finden sich im Gründungsmythos von Rom und in der berühmten Episode der Entführung der Sabinerinnen wieder. Die Entführung von Frauen konnte ein wirksames Mittel sein, um das Bevölkerungswachstum einer schrumpfenden Gesellschaft anzukurbeln, ebenso wie ein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Inzucht. Letzteres betrifft vor allem abgelegene Orte, insbesondere Täler in höheren Lagen.

Mon (oder Mahadeo)

Mon scheint die älteste der kleineren Gottheiten zu sein. Mon, der von den Kalasha auch Mahadeo genannt wird, ist in anderen Sprachen als Mahadeva („der große Gott“) bekannt. Meistens handelt es sich dabei um eine Bezeichnung für Shiva, ein Mitglied der indischen Triade (Trimurti). Shiva ist der Gott der Zerstörung, und das Gleiche gilt für Mon, der traditionell die Gottheit ist, die von Imra ausgewählt wird, um die Dämonen zu bekämpfen.

 

Trimurti, von links nach rechts: Brahms, Vishnu, Shiva

Mon ist wie Shiva der Gott der Felder, der mit Attributen ausgestattet ist, die mit Fruchtbarkeit zu tun haben. Wie der indische Shiva ist Mon auch der „Hüter der Traditionen“, der über die Einhaltung der Bräuche und alles, was mit Reinheit und dem Einhalten des Wortes zu tun hat, wacht. Als Hüter der Versprechen und Günstling des Schöpfergottes, um Aufträge zur Vernichtung des Bösen zu erfüllen, ist Mon somit auch mit dem Mithra des Avesta zu vergleichen.

Darüber hinaus ist Mon die Botengottheit, die von der göttlichen Welt in die irdische Welt reist, um den Göttern ihre Opfergaben und den Menschen im Gegenzug den Segen der Götter zu bringen. Auch hier läßt sich wieder eine Analogie zu Rudra-Shiva ziehen, der in einem Mythos als Störer der Zeremonie der Rishis und Devas dargestellt wird, da er sich als unverzichtbares Element jeder wahren Anbetung aufdrängt. Mon ist das Bindeglied zwischen den Feierlichkeiten des Chaumos-Festivals und den Devalogs, an die sie sich richten.

Mon ist bei den Kalasha beliebt und wird täglich verehrt, aber er hat nicht die Begeisterung, die Gish genießt, und auch nicht die Bedeutung, die Imra einst hatte. Die Feuerstellen, die ihm gewidmet werden, bestehen aus ein paar Zweigen und Ästen, die unter einem großen Stein angezündet werden. Dies ist jedoch kein Zeichen für die geringe Bedeutung dieses Gottes, denn für die pantheistischen Völker und Erben des Schamanismus ist der schönste Tempel, um ein Opfer darzubringen, die Natur selbst.

Indr (Indra)

Indr, auch ›Shura‹ oder ›Shura Verin‹ genannt, ist eine mit Verethragna und Indra verbundene Figur, die mit dem göttlichen Getränk und dem Wein in Verbindung gebracht wird. Die Kalasha bringen ihm vor jeder Weinprobe ein Trankopfer dar. In der Form von ›Verin‹ (Waren, Warendr oder Warin) ist er der mächtigste und furchterregendste Gott des Kalasha-Pantheons. Mehr noch als Gish oder Mon ist Indr der wichtigste Beschützer der Täler und des Viehs.

Wie der vedische Indra ist er der Herrscher über die Regenfälle im Frühling. Im Rumbur-Tal ist ihm ein Tempel gewidmet, der „Sajigor“, ein Begriff, der oft mit dem Namen des Gottes selbst verwechselt wird (die letzten Kalascha-Patriarchen definieren ›Sajigor‹ jedoch nicht als die Gottheit, sondern als den Ort, an dem seine Verehrung gefeiert wird). Indr besitzt ein dämonisches Alter Ego: Jestan, den Hund der Unterwelt. Jestan wird von den Devalogs[3] bekämpft, die ihn mit Steinen bewerfen: das sind die Sternschnuppen.

Balumain

Der funkelnde Reiter Balumain („der, der den Reichtum teilt“), der manchmal als Bruder von Indr, manchmal als einer seiner Avatare dargestellt wird, ist ein Held der Kalasha-Mythologie. Er wird besonders während des Chaumos-Festes verehrt. Dem Mythos zufolge ist es Balumain, der jedes Jahr das Land Kalash besucht und die Erneuerung des Frühlings bringt. Außerdem bringt er den Kalasha Wohlstand und gute Gesundheit.

Balumain wird zusammen mit der Fruchtbarkeitsgöttin Kushumai mit Opfergaben und Anrufungen bedacht. Einer der Mythen von Balumain und Kushumai ist dem indischen Mythos von Shiva und Parvati sehr ähnlich: Kushumai verläßt Balumain, um in ihre eigenen Berge zu gehen, und läßt ihren Partner allein zurück. Dieser wandte sich nach innen und besetzte den Platz, den Kushumai freigelassen hatte.

In der shivaitischen und shaktistischen Tradition sitzen der Große Gott und die Große Göttin auf demselben Thron und haben daher denselben Körper. Eine weitere Ähnlichkeit mit der shivaitischen Mythologie besteht darin, daß Balumain manchmal mit beiden Geschlechtern ausgestattet dargestellt wird, die er nach Belieben verkörpern kann. In diesem Fall begegnen wir Shiva Ardhanarishvara, dem „androgynen Herrn“, der als die Vereinigung von Shiva und Parvati in einem Körper und damit als Überwindung des Prinzips der Bipolarität oder Differenzierung dargestellt wird; Ardhanarishvara ist die ultimative Form des Göttlichen.

Wie Shiva ist auch Balumain ein zivilisatorischer Held. Er war es, der den Menschen die Rezepte für Opferkuchen aus Ziegenblut beibrachte, und er war der Begründer des ersten Chaumos-Festes, das er mit den Kalasha feierte.

Disni und die Kalasha-Göttinnen

Dezalik oder Disni ist die Göttin der Fruchtbarkeit. Wie die griechischen Schutzgöttinnen ist sie die Kraft der Zerstörung, die im Dienst der Erhaltung des Lebens steht. Sie ist die Beschützerin der Kinder, der gebärenden Frauen und des weiblichen Geschlechts im allgemeinen. Disni ist die Kalasha-Version der Großen Göttin, die auch Erdgöttin ist. Disni wird abwechselnd als Tochter oder Schöpfung von Imra dargestellt und bildet mit ihm ein Paar, das an Brahma und Sarasvati erinnert. Disni ist auch mit der himmlischen Aphrodite zu vergleichen. Mit dem Unterschied, daß diese aus den Fluten des Urmeeres geboren wurde, während Disni in einem See entstand.

Wie die anderen Gottheiten ist auch der Kult um Disni vom Aussterben bedroht. Ethnologen, die ihre Kultur dokumentierten, berichteten, daß bei Festen, die ihr gewidmet sind, zwar noch zu ihren Ehren getanzt wird, die Texte der Lieder jedoch in Vergessenheit geraten sind.

Als Göttin der Erde wurden ihr die Kühe zugeordnet. Sie war ihre Hüterin und Spenderin ihrer Milch (ihre Statuen wurden mit Butter-Trankopfern bedeckt). Wie die große Hindu-Göttin verband ihr Mythos sie mit dem Baum des Lebens (in den sie sich geflüchtet hatte). Jedes Mal, wenn ein Junge geboren wurde, wurde ihm ein Ziegenbock geopfert. Ihr wurden große Feste gewidmet, die von den Muslimen als „Eid der Ungläubigen“ bezeichnet wurden, da ihr so viele Opfer dargebracht wurden.

 

Über eine Statue von Disni wird eine sehr repräsentative Begebenheit erzählt. Während der afghanischen Massenbekehrungskampagnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerieten die Kalasha in Panik, ihr Idol könnte verbrannt werden, und versetzten die große Disni-Statue und stellten sie als Bank in einer Küche auf, wobei die geschnitzte Seite der Statue zur Wand zeigte, damit sie nicht entdeckt werden konnte. Mehr als 80 Jahre später wurde die Statue wieder hervorgeholt und von denjenigen aufgestellt, die ihren Glauben an die alten Bräuche und Traditionen der Kalasha bewahrt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war sie in gutem Zustand und wies sogar die Spuren eines Kults auf, der 80 Jahre lang heimlich mit Buttertrankopfern gepflegt worden war. Inzwischen waren die meisten Kalasha konvertiert, und einer der Enkel desjenigen, der die Statue versteckt und später wiederentdeckt hatte, war ein Hadschi, d. h. ein eifriger Moslem, der nach Mekka pilgerte. Dieser nahm es auf sich, die Statue zu verbrennen, da sie seiner Meinung nach ein untragbares Zeichen von Heidentum war. Glücklicherweise setzte sich die pakistanische Regierung für die Kalasha ein und verbot die Zerstörung der Statue.

Die Statue stellte eine sitzende Dezalik (Disni) dar, deren Geschlecht von einem Widderkopf verdeckt wurde, dessen Hörner sie hielt. Ein anderer Totempfahl im Gebiet von Disni zeigt sie sitzend, in den Händen eine Art Speer haltend und mit Hörnern auf dem Kopf. Die Hörner, die dem Bock, der Kuh oder dem Widder zugeschrieben wurden, waren in der antiken Welt ein Symbol für Fruchtbarkeit.

Krumai, Jestak, Nirmali, Kotsomaiush und Saranji

Krumai ist eine Göttin, die ihren Tempel auf der afghanischen Seite der Grenze in Badawan auf dem Berg Tirich Mir (übrigens der Feenberg in der Kalasha-Mythologie) besaß. Dort wurden ihr Ziegenböcke und Ziegen geopfert. Krumai, die auf einer Ziege dargestellt wird, teilt einige Mythen mit Disni. Sie ist die Mutter von Mon, den sie gebar, nachdem sie in den Urin eines Dämons getaucht war und sich in einem Baumstamm versteckt hatte. Ihr gehörntes Aussehen wird durch den Kopfschmuck der Frauen nachgeahmt. Kalasha-Zeremonien sollen mit lustigen Tänzen zu ihren Ehren enden.

Jestak (Jeshtak) ist die Göttin des Heims, des häuslichen Lebens, der Familie und der Ehe. Am Neujahrsabend wird ihr in allen Haushalten eine Zeremonie gewidmet. Im Frühling wird ihr ein Stier geopfert. Brot und Käse sind ihree geistige Nahrung (Opfergabe). Folgendes Gebet wird an sie gerichtet:

Wir haben soeben den Frühlingsstier als Opfergabe dargebracht.

Auf daß wir in Frieden leben

Und daß wir viele Kinder bekommen

Nun wollen wir von dieser rituellen Speise essen.

Du, Jeshtak, Hüterin des Hauses,

So iß nun deinen Anteil an den Gaben und schenke uns Frieden,

Halte Probleme und Leid von uns fern.

Nirmali, die „Unbefleckte“, ist die Göttin, die über gebärende Frauen und ihre Babys wacht, eine Rolle, die sie zusammen mit Disni einnimmt.

Kotsomaiush ist die Göttin der Weiblichkeit, die den Kalasha-Frauen befahl, sich um sie zu kümmern und sich mit Perlen, Halsketten und anderen Schmuckstücken zu schmücken. Sie ist es, die die bösen Geister von den Feldern, Obstgärten und Kindern fernhält.

Saranji schließlich ist die Schutzgöttin des Dorfes Pontzgrom im Bashgul-Tal.

Die Kalascha-Feen

Zur Mythologie der Kalasha gehören auch Bergfeen, die Peris (ein persisches Wort, das im Sanskrit Apsara und im Lateinischen Nymphe bedeutet). Sie helfen den Jägern, indem sie dafür sorgen, daß ihre Waffen das Ziel treffen. Sie sind auch die Beschützerinnen der Wildtiere, da sie entscheiden, ob sie diese den Jägern ausliefern (oder ob sie deren Pfeil ablenken). Der Steinbock (Markhor) ist ihr Totemtier. Sie werden geehrt, damit die Getreideernte reichlich ausfällt. Als Besitzerinnen magischer Kräfte können sie auch die Menschen mit besonderen Fähigkeiten ausstatten.

Markhor, Totemtier

Es gibt verschiedene Arten von Naturgeistern: die Suchi, die den Jägern helfen, die Varoti, ihre männlichen Partner, und in einem anderen Register die Jach, die Feen der hochgelegenen Felder und Weiden.

Die Feen halten sich in Seen, auf Berggipfeln und Gletschern auf. Bevor der Winter beginnt, steigen sie wieder auf die Weiden hinab, weshalb sie gebeten werden, das Vieh zu verschonen. Der Berg Tirich Mir (7708 m) in Chitral wird als „Berg der Feen“ bezeichnet, da die Tradition besagt, daß Feen auf seinem Gipfel leben sollen.

Der Berg Tirich Mir könnte der berühmte Berg Meros sein, der von Alexander dem Großen auf seiner Reise durch das Land der Kalasha besucht wurde. Der heilige Berg der Kalasha kann mit dem Berg Kailasha in Westtibet verwechselt werden und teilt mit dem gleichnamigen tibetischen Berg die gleiche pyramidenförmige Silhouette. Das Rumbur-Tal, ebenfalls in Chitral, ist ein weiterer Ort, von dem man annimmt, daß er elfisches Leben beherbergt.

Den Elfen (Feen) werden Opfergaben dargebracht. Einige von ihnen besitzen Altäre in den Tälern, auf denen Käseopfer niedergelegt werden. Auch Ziegen werden ihnen zu Ehren geopfert. Robertson berichtet, daß die Dorfbewohner des Kam-Stammes einer bestimmten Fee namens Charmo Vetr Ziegenböcke und Kinder opferten. Im Gegenzug „war diese Fee eine große Hilfe, wenn es darum ging, die Feinde der Kam auszurotten“. (George Scott Robertson, The Kafirs of the Hindu Kush).

 

[1] Imra war der wichtigste vorislamische Gott des Nuristani-Volkes

[2] https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/34348/1/Holzwarth_1994_Sich_verst%C3%A4ndlich_machen.pdf Seite 193

[3] Devalogs sind übernatürliche Wesen, Engel

 

Quelle: https://www.terreetpeuple.com/les-indo-europeens/7256-la-religion-kailasha-le-dernier-polytheisme-ancestral-partie-2.html
Originalquelle: http://www.arya-dharma.com

 

Die Kalasha – Der letzte Stamm

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