Bernard Marillier

ᛉ 2. August 1957 – ᛣ 23. Januar 2013

Die Begegnung des Wolfes mit den Menschen, die sich bereits in der frühesten Vorgeschichte ereignete, ist in Wirklichkeit eine mehrtausendjährige Chronik, die von Blut, Verfolgungen und Massakern aller Art geprägt ist. Selten wurden Tiere auf so viele Arten gejagt, gefangen und getötet wie dieses Tier, das mit so viel Haß gejagt und ausgerottet wurde, und das Opfer von Gerüchten und Fabulationen wurde, die die Angst der Menschen vor ihm widerspiegelten.

Diese uralte Angst, die durch den Triumph des Christentums noch verstärkt wurde, hatte jedoch ein Gegenstück: die Faszination, ja sogar die Bewunderung, die die Spezies Mensch immer mehr oder weniger unbewußt für die Gattung ›Canis lupus‹ empfunden hat, bis zu dem Punkt, an dem sie ihn, wenn nicht gerade zu einem „Gott“, so doch zu einem tabuisierten Tier gemacht hat, das mit zahlreichen kultischen und kulturellen Verboten belegt ist.

Als ambivalentes Symbol war der Wolf je nach Kulturraum der vermittelnde Psychopompos zum Jenseits, die segensreiche Verkörperung des Lichts – daher seine Verbindung zu den Sonnen- und Lichtgöttern wie Zeus/Jupiter, Belenus oder Apollo –, aber auch der Zerstörer/Regenerator am Ende von Zyklen, der die erschöpfte Schöpfung zerstört, damit sie sich erneuern und für eine gewisse Zeit ein neues Gleichgewicht finden kann.

Der Wolf, der bei den Indianern und Indogermanen als kriegerisches Symbol galt, wird oft als mythischer und/oder „physischer“ Vorfahre zahlreicher Dynastien dargestellt, insbesondere bei den mitteleuropäischen Völkern, oder, einfacher gesagt, als Führer von erobernden Nomadenstämmen, die auf der Suche nach neuem Land waren, oder als Held, der Reiche und Städte gründete.

 

Zerstörer und Regenerator

Unter den Wolfstypen, die in den zahlreichen heidnischen Mythen vorkommen, ist der nordische Fenrir der vollendetste Archetyp jener Wölfe, deren wesentlicher und notwendiger Zweck darin besteht, die hinfällig gewordene Schöpfung regelmäßig zu zerstören, damit sie auf ihren Trümmern eine neue Jungfräulichkeit erlangen und ihren Lauf fortsetzen kann.

Fenrir, Sohn des bösen Gottes Loki und der Hexe Angerboda und Bruder der Riesenschlange Jörmungandr, gehört wie die anderen Wölfe zur ursprünglichen Rasse der Frostriesen oder Frostthuren [hrìmthursar: Frostriesen], die, wie z. B. in den griechischen Mythen, die Materie verkörpern, die mit dem Verschleiß der Zeit in Bewegung gerät und zusammenbricht, aus sich selbst heraus und durch sich selbst stirbt. Dieser Prozess ist vergleichbar mit dem, was die Hindus māyā nennen: zugleich Form, Materie, Kraft, Illusion und Welt, die Shiva personalisiert, das Symbol des „verbrauchenden“ Lebens und damit des Todes, der Zeit, die alles vernichtet und regenerierend wirkt.

Aus den Riesen gingen die lichten Mächte hervor, die Götter der Asen in der deutsch-skandinavischen Mythologie, deren erster Ódhinn ist, der die Weisheit dieser Mächte verkörpert, die aus der Zerstückelung des Urriesen Ymir die Welt gestalten, aber eine Welt, die auf ihre Kosten errichtet wurde. Denn die Welt beruht auf dem Meineid der Götter – eine Tat, die „Schuld“ und damit den Keim der Involution in sich birgt und die Welt unweigerlich zerstört.

Daraus resultiert der Haß der Riesen auf die Welt der Götter und der Menschen und ihr Wille, sie zu zerstören. Um dies zu erreichen, rufen sie eine Reihe von Ungeheuern hervor, zu denen auch die Wölfe gehören. Diese verkörpern die dunklen und elementaren Kräfte, die dazu bestimmt sind, die Welt zu verderben und schließlich zu zerstören.

Neben Fenrir gibt es der Überlieferung zufolge eine Vielzahl weiterer bösartiger Wölfe wie den Wolfshund Garmr, der Gnijahelli, den „Riesenfelsen“ [auch Gnipahellir, die „überhängende Höhle“], [am Eingang zu Niflheim], die Welt der Toten, bewacht; Skoll und Hati, die die Sonne bzw. den Mond verfolgen; und die unzähligen namenlosen Wölfe, von denen der Gylfaginnig berichtet, daß sie eine gemeinsame Quelle besitzen:

Es gibt eine Riesin, die östlich von Midhgardhr in einem Wald namens Jarnvid („Eisenholz“) wohnt (…). Diese alte Riesin zeugt viele Riesensöhne, alle in Wolfsgestalt, und von dort stammen die besagten Wölfe ab.

Fenrir, der laut einer Prophezeiung der Völuspá den Göttern und den Menschen zum Verhängnis werden soll, bleibt jedoch der gefährlichste. Daher züchten die Götter ihn in der Hoffnung, ihn kontrollieren zu können. Doch als sie sahen, daß er mit jedem Tag größer wurde, da die Materie sich immer weiter involutionierte und das Ende des Zyklus immer näher rückte, beschlossen sie, ihn mit der magischen Kette Gleipnir zu fesseln und dafür die Hand des Gottes der Schwüre, Týr, zu opfern.

Für eine gewisse Zeit herrscht ein „metaphysisches“ Gleichgewicht zwischen der Welt der Riesen, der Welt der Götter und der Menschen. Das Universum besitzt ein Gesetz und einen Sinn, der Geist beherrscht die Materie. Dies wird im Mythos durch die Herrschaft Ódhinns über die beiden „guten Wölfe“ Geri (der Gierige) und Freki (der Gefräßige) symbolisiert, die an der Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung des Zyklus beteiligt sind.

Die wachsende Gefahr kann jedoch nicht aufgehalten werden. Fenrir wächst immer weiter, wird riesig, „berührt Himmel und Erde“ und bedroht die Schöpfung immer mehr. In Analogie dazu wächst auch die Unordnung unter den Menschen und Göttern. Tatsächlich wächst der Wolf in ihnen, weshalb sie ihn nicht töten können.

Das Ende des Goldenen Zeitalters, in dem die Menschen das Urprinzip direkt betrachten und mit den Göttern leben, ist nahe, wie die Völva [Prophetin] in der Völuspá immer wieder betont: „Die Bestie wird springen (…). Der Wolf Fenrir wird sich losreißen.“ Sobald Fenrir frei ist, verschlingt er die Schöpfung und löst damit den Ragnarök [Erfüllung des Schicksals der Mächte], die Verdunkelung des Göttlichen, aus: „Der Wolf Fenrir geht mit aufgerissenem Maul, den Unterkiefer gegen die Erde, den Oberkiefer gegen den Himmel. Er würde noch mehr aufklaffen, wenn er den Platz dazu hätte. Feuer strömt aus seinen Augen und aus seinen Nüstern.“ An diesem Ende eines Universums/Zyklus bekämpfen und vernichten sich die Riesen, die Götter und die Menschen: Heimdallr und Loki, Thórr und Jörmungandr töten sich gegenseitig. Ódhinn wird von Fenrir verschlungen, während Sol, die Sonne, von Skoll und der Mond von Hati verschlungen wird. Die Schöpfung scheint ausgelöscht.

Die Zerstörung der Welt durch die Riesen, Fenrir und die anderen Wölfe ist nicht endgültig. Sie ist nur das Durchschreiten einer Tür, der Übergang durch den Tod von einem erschöpften Zyklus zu einem rekapitulierenden und extrem gereinigten Zyklus, wobei der Tod ein anderes Leben einläutet. Dieser Übergang bezieht sich auf den grundlegenden Wechsel von Leben, Tod und Auferstehung, der in allen heidnischen Kulturen durch Mythen, Mysterienriten und schamanistische und/oder kriegerische Initiationen anzutreffen ist.

Wie der alte Zyklus muß auch der alte Mensch „sterben“, damit der Mensch im Licht der Wahrheit und eines neuen Wissens neu entstehen kann. Dieser Mythos steht auch in Verbindung mit einer anderen Art von Wechsel: dem Wechsel von Tag und Nacht, von Tod und zyklischem Wiederaufleben der Zeit und der Jahreszeiten. Der Winter, der die verdorbene Natur des Herbstes – symbolisiert durch den Westen – wie ein Wolf verschlingt, um sie im Frühling –symbolisiert durch den Osten – wieder zum Leben zu erwecken.

Das Land der Morgenröte, welches das Wissen beherbergt, ist die Zeit, in der die Schöpfung „stirbt“, aber den Keim eines zukünftigen Lebens enthält, dessen Höhepunkt die Wintersonnenwende (21. Dezember), die längste Nacht des Jahres, ist. Die Sonne, die einen Moment lang „besiegt“ war, erscheint jeden Tag stärker und triumphiert schließlich über die Nacht.

Zur Frühlingstagundnachtgleiche (21. März) hat die Sonne die Dunkelheit endgültig besiegt und die Welt erlebt ein neues Aufblühen. Die kathartische Wirkung des Wolfes symbolisiert somit die Schöpfung, die an ihrem Wendepunkt angelangt ist und der nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst zu verzehren. Dieser Prozeß kann unter anderem durch den griechischen Mythos von Lykaon veranschaulicht werden, der, weil er Zeus das Fleisch seines Enkels Arkas serviert hatte, von dem Gott in einen Wolf verwandelt wird. Lykaon steht also für denjenigen, der sein eigenes Fleisch vernichtet, so wie die involutive Schöpfung dazu verurteilt ist, sich selbst zu zerstören. Die Folge ist Deucalions Sintflut, also das Ende eines Zyklus.

Daraus ergibt sich die Vorstellung, daß der Wolf die Waffe der Götter ist, um böse Menschen zu bestrafen, ein Thema, das vom Christentum aufgegriffen wird, wie Jeremia darlegt: Gott schickt Wölfe – und andere wilde Tiere – gegen sündige Menschen, die sich gegen seinen Willen auflehnen und ihren Glauben vergessen. In seiner zerstörerischen/regenerativen Funktion ist der Wolf nicht nur mit dem Winter, sondern auch mit dem Norden und der Farbe Schwarz verbunden, was auf dasselbe hinausläuft: Der Norden und die Farbe Schwarz stehen für die ursprüngliche Ununterscheidbarkeit, die Materia prima, die das Potenzial für eine neue Welt in sich birgt, aus der das Urlicht hervorgeht, im weiteren Sinne jedes transzendente Prinzip göttlicher und königlicher Natur. Dies gilt für die Indogermanen, die Ural-Altaier, die Chinesen, die Indianer und die Vorkolumbianer.

Im vorchristlichen Griechenland wird der Wolf mit dem Steinbock in Verbindung gebracht, dem Teil des Tierkreises, der dem ersten Drittel des Winters entspricht. Mircea Eliade erläutert: „Die grundlegende Erfahrung wird durch die Begegnung der Angehörigen mit den Toten hervorgerufen, die vor allem um die Wintersonnenwende herum auf die Erde zurückkehren. Der Winter ist auch die Jahreszeit, in der sich die Eingeweihten in Wölfe verwandeln“. (…)

 

Leuchtend und psychopompös

Als dunkles Tier ist der Wolf aufgrund seiner Ambivalenz auch ein leuchtendes Symbol. Verschiedene Mythen und Kulte haben ihn mit leuchtenden Gottheiten wie Belenus, Balder, Amaterasu, Zeus, genannt Lykaios oder Lukios (in Wolfsgestalt), und vor allem Apollon, der oft als „wolfsgeboren“ bezeichnet wird, in Verbindung gebracht. Apollon, der Gott des Lichts, ist derjenige, der der Welt Form und Ordnung verleiht, indem er die chaotische Materie besiegt, und es ist ganz natürlich, daß sein Wirken parallel zu dem des Wolfs verläuft: Während der Wolf der Verderbnis der Welt ein Ende setzt, unterwirft und kanalisiert Apollon, die Emanation des Licht- und Sonnenprinzips, die zerstörerische Kraft des Wolfs positiv, so daß sie von Beginn ihrer Manifestation an segensreich wirken kann.

Diese Wolfsgötter hatten zahlreiche Kultstätten auf griechischem Boden, wie Plinius, Pausanias oder Plutarch berichten. Siehe das Lyzeum in Athen! Daher sahen viele Kulturen im Wolf den Beschützer der Sonne, deren Lauf er am Himmel lenkt, den Beschützer des Polarsterns, des Großen und des Kleinen Bären. Aufgrund seiner Fähigkeit, in der Nacht zu sehen (Nyctalopie) und einen Blick zu besitzen, der die materielle und geistige Dunkelheit durchdringt, wurde der Wolf immer als Hüter der Schwelle zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten gesehen, deren Seelen-Geist-Führung auf den gefährlichen Wegen ins Jenseits er übernimmt. Alle heidnischen Kulte, von den Ebenen der Ureinwohner Amerikas über Europa und den Mittelmeerraum bis nach Sibirien, kannten diese Besonderheit. (…)

 

Befruchtend und nährend

Zu diesen Aspekten fügt der Wolf noch die Fruchtbarkeit hinzu, die übrigens nicht ohne Zusammenhang mit dem Lichtaspekt des Tieres steht, da diese oft durch einen vom Himmel ausgehenden Lichtstrahl erfolgt. Dieser Aspekt der Fruchtbarkeit betrifft übrigens eher die Wölfin als den Wolf, der als Verkörperung des männlichen und aktiven Prinzips dennoch immer an der Seite der Wölfin zu finden ist, die das weibliche und passive Prinzip in Form eines Vogels vertritt: der Adler bei den Indianern, der Marsspecht, der der Wölfin beim Stillen der römischen Zwillinge hilft, der Rabe – ein apollinisches Tier –, der mit der irischen Wolfsgöttin Bodb oder Morrigan in Verbindung gebracht wird, etc.

Der Befruchtungsprozeß ist fast immer derselbe: Eine Göttin (Leto, die Apollo und Artemis gebärt, Rhea Silvia, Kybele, Bobd/Morrigan, Hekate) verwandelt sich in eine Wölfin, bevor sie sich den Menschen offenbart und Helden oder zukünftige Gründer von Völkern oder Reichen gebärt.

Im Fall des keltischen Merlin wurde dieser von einem Vogel gezeugt, aber sogleich von dem Einsiedler Bleiz, „Wolf“, der sich in einen Wolf verwandeln konnte und dessen Begleiter ein großer grauer Wolf war, „getauft“, also männlich „erkannt“. Wie ich bereits angemerkt habe, ist der befruchtende Aspekt des Wolfs manchmal mit dem Licht oder dem Blitz verbunden, der der den Samen ausstreut und eine Verbindung zwischen Himmel und Erde herstellt. Dies ist bei vielen Volksführern der Fall, das vollendetste Beispiel ist Dschingis Khan, der von einem blauen Wolf, Börte Tschino, abstammte, der sich mit einer Hirschkuh gepaart haben soll. (…)

In Rom gab es einen wichtigen Befruchtungsritus: die Lupercalia, deren Etymologie auf „Wolf“ und ›ircus‹ auf „Widder“ oder „Ziegenbock“ verweist. Am 15. Februar – dem Monat der Reinigung, der im Katholizismus zur Fastenzeit und zu Mariä Reinigung wird – opferte die Bruderschaft der Luperiker in der Höhle des Lupercal im Nordwesten des Palatin einen Ziegenbock oder eine Ziege und einen Hund. Dann zogen sie mit Riemen, die sie aus der Haut der Ziegen geschnitten hatten, durch Rom und geißelten die Frauen, um ihnen Fruchtbarkeit zu sichern.

Ziegen, Widder und Böcke sind die reproduktiven Tiere schlechthin und symbolisieren Fruchtbarkeit, Energie und die verschwenderische Natur. Während die Ziege aufgrund ihrer Verbindung mit dem fruchtbaren Blitz und ihrer nährenden Natur einen eher weiblichen Aspekt hat, wie die Ziege Amalthea, die Zeus als Kind auf dem Berg Ida nährte, besitzen der Widder und der Ziegenbock einen stärkeren männlichen und sexuellen Aspekt, der oft mit dem lebensspendenden Feuer verbunden ist.

Der zodiakale Widder markiert den Beginn der Frühlingstagundnachtgleiche (21. März) und löst den Wolf als Wintertier ab. In dieser Zeit mutiert der Wolf zum Widder, d. h. die Natur erwacht aus ihrer „winterlichen Unfruchtbarkeit“ und wird wieder verschwenderisch mit ihren Früchten.

Der Hund ist ein Ersatz für den Wolf und bezieht sich auf die Zerstückelung des kosmischen Riesen, während die Höhle die dunkle und fruchtbare Materie symbolisiert, aus der die neue Sonne hervorgehen wird. (…) Der nährende Aspekt der Wölfin findet sich bei mehr als einem heidnischen Volk: Man denkt sofort an die Wölfin auf dem Palatin, Mater Romanorum, die Mutter der Römer, die Söhne von Mars und der Wölfin. Sie säugt die Zwillinge Romulus und Remus und verleiht ihnen Kraft und die besonderen Tugenden, die Rom groß machten.

 

Die Wolfsvölker

Die kollektive oder individuelle Abstammung von Wölfen ist im indoeuropäischen Raum sowie bei den uralisch-altaischen Völkern und bei einigen nordamerikanischen Indianerstämmen häufig anzutreffen. Die Mongolen, Türken und Römer bezeichneten sich selbst als „Söhne des Wolfes“, wie wir bereits festgestellt haben, aber auch andere Völker waren nicht minder wolfig. In Italien finden wir die Lukanier, deren größter Wolfsheld laut Plinius ›Lucius‹ war, der mit dem lykischen Apollon gleichgesetzt wurde.

Für diese Völker war der Wolf ein Totem und das Zentrum ihrer kultischen und initiatischen Praktiken, die auf blutigen und heroisch-virilen Riten basierten. Auf griechischem Boden gehörten die Wolfsvölker der Louviten, Lykaoner und Lykier zu den berühmtesten.

Die antiken Autoren berichten uns, daß sie sich selbst „Wölfe“ nannten, den Wolf verehrten und „nach Art der Wölfe“ lebten. Wahrscheinlich ist dies ein Vermächtnis der Dorer, des letzten indoeuropäischen Volkes, das Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. in Griechenland einfiel. Als raues und kriegerisches Volk werden die Dorer von einigen antiken Autoren als „Wölfe“ in jeder Bedeutung des Wortes dargestellt.

In nordöstlicher und östlicher Richtung finden sich die Daker (die heutigen Rumänen), Geten oder Thraker, deren Name ›daoi‹ laut StrabonWölfe“ oder „die, die wie Wölfe leben“ bedeutet. Herodot [VII, 64] nennt uns die Haumavarkā [oder Sakāhaumavargā. Griechisch: Amyrgioi Sákai: Amyrgische Sassen, d. h. die Sassen des Königs Amorgès], die „Wölfe des Haoma“, die in der Nähe des Kaspischen Meeres lebten und zur indoeuropäischen Familie (Skythen) gehörten. Haoma [Soma auf Sanskrit; in manchen Gegenden bezeichnet es Hopfen] ist eben ein heiliges Getränk, das Kraft und Ekstase verleiht. Es wurde im Rahmen von schamanistischen oder kriegerischen Riten verwendet.

Alle Völker, die von einem wölfischen Vorfahren abstammten oder nach Art der Wölfe lebten, waren indoeuropäisch oder standen zumindest in engem Kontakt mit den Indogermanen, deren Gesellschaft stark hierarchisch gegliedert war und deren Kult sich auf Praktiken männlicher und heroisch-viriler Natur konzentrierte, die auf eine „wölfische“ Initiation und das Nomadentum ausgerichtet waren, zumindest ein ursprüngliches Nomadentum, das sie über Jahrtausende hinweg praktizierten, vielleicht infolge einer Katastrophe, die ihr Ursprungsland unbewohnbar gemacht hatte: den Norden.

Unter diesen Umständen wurde der Wolf, der einst für seine Qualitäten geschätzt wurde, zu einem verfluchten und geächteten Tier, dem Feind der seßhaften Völker. Verkörperung der in der Welt auftauchenden Kräfte des Bösen. Das Christentum konnte den immer wiederkehrenden Geist des Wolfes, der die Lebenskraft repräsentiert, zwar nicht ausrotten, versuchte aber, ihn durch Exorzismen in Grenzen zu halten und das Bild des Wolfes in die für Menschen wahren Glaubens verbotene Welt der bösen Kräfte (Hexen und Werwölfe, Besessene) zu verbannen, die einer gnadenlosen Verfolgung unterworfen waren.

 

Die Bruderschaften der Wolfskrieger

Der Wolf ist ein großes Raubtier der nördlichen Hemisphäre mit hervorragenden Eigenschaften (Ausdauer, Schlauheit, Mut, Schnelligkeit und Selbstlosigkeit) und der Jäger schlechthin. Aus diesem Grund wurde der Wolf durch eine symbolische Verschiebung zum Symbol der Kriegerkaste vieler Völker, deren Eigenschaften denen des Jägers ähnelten.

Aus diesem Grund wurde der Wolf von vielen kriegerischen und militärischen Truppen als Symbolfigur übernommen. Man findet ihn neben Adlern, Stieren und Wildschweinen an der Spitze römischer Legionen (die Wölfin der Legio II Italica), keltischer und dakischer Einheiten (der Drachenwolf), auf mongolischen, türkischen (der Goldene Wolf), persischen und griechischen Vexillen etc.

Am deutlichsten war die Identifikation von Krieger und Wolf jedoch bei den Kriegerbruderschaften oder „Männerbünden“. Spuren solcher Gesellschaften, die auf die Bruderschaften der Bronzezeit oder sogar der Jungsteinzeit zurückgehen, finden sich in vielen Erzählungen indoeuropäischer oder indoeuropäisierter Völker, aber auch bei den Ureinwohnern Amerikas und einigen asiatischen Völkern (China und Japan).

Diese Bruderschaften bildeten die Elite der Kriegerkasten der herrschenden Völker, die seßhafte, bäuerliche und friedliebende einheimische Völker erobert hatten. Die berühmtesten ihrer Verbindungen waren die Berserkir, „Krieger mit Bärenhüllen“, oder Ulfhednar, „Männer mit Wolfsfellen“, die in der Ynglingar-Saga oder im Hrafnsmál erwähnt werden.

Der Skalde Thorbjörn Hornklofi beschreibt sie im Kampf wie folgt: „Dort heulten die Berserkir – die Schlacht entbrannte –wild heulende Wolfspelze, die Speere wirbelten“, während die Ynglingar-Saga berichtet, daß sie „wütend wie Hunde oder Wölfe waren und ihre Schilde zerbissen (…). Sie töteten die Menschen, aber ihnen tat weder Eisen noch Feuer leid“.

Ähnliche Bruderschaften gibt es auch in Germanien (die Wolfskrieger, die im Mabinogi von Math erwähnt werden), Italien (die Lukaner, Hirpini und Hirpi Sorani [Wölfe des Sorakts; Hirpi = samnitischer Name für Wolf]), Kreta usw. Die meisten dieser Bruderschaften sind jedoch nicht in der Lage, sich mit den Wölfen zu identifizieren.

Abgesehen von den Namen, die je nach Volk variieren, sind das Verhalten und die Eigenschaften der Mitglieder dieser Bruderschaften identisch, die sich, um in die Bruderschaft aufgenommen zu werden, einer harten magisch-kriegerischen Initiation unterziehen müssen. Das erste und vielleicht wichtigste Ritual besteht darin, das Fell eines Wolfes anzuziehen, was einer Veränderung des Persönlichkeitszustands gleichkommt.

In den vedischen Texten markiert das Wechseln der „alten Haut“ den Beginn eines neuen Zyklus oder eines neuen Menschen. In der skandinavischen Völsunga Saga ziehen sich die Helden Sigmund und Sinljoetli ein Wolfsfell an, das es ihnen dann ermöglicht, die Sprache der Wölfe zu verstehen und übermenschliche Leistungen zu vollbringen.

Der Krieger transzendiert so seine Individualität und gelangt in eine übermenschliche Realität, in der überindividuelle Kräfte, die seiner Funktion entsprechen, zum Einsatz kommen. Hinzu kommt die Einnahme von heiligen Getränken wie Haoma, Soma und Amrita, die Unsterblichkeit verleihen und die körperliche Verwandlung in einen Wolf ermöglichen. Zu diesen magischen und fast schamanistischen Riten fügen wir noch Riten hinzu, die direkter kriegerisch sind und ein typisches Wolfsverhalten beinhalten.

Dies gilt für die bei allen Initiationen dieser Art anzutreffenden Ritualmorde, die mit Anthropophagie und/oder Omophagie einhergehen, wie etwa im Lykaon-Mythos, und die das ursprüngliche Opfer der Gottheit, die die Welt erschaffen hat, rekapitulieren sollen (Zerstückelung des skandinavischen Riesen Ymir, des griechischen Uranos, des vedischen Purusha, des ägyptischen Osiris etc. ), und das Rauben, das die nicht Eingeweihten terrorisierte, aber die Assimilation der zukünftigen Krieger an Wölfe ermöglichte.

Schließlich mußte sich das Mitglied dieser Bünde furchterregenden körperlichen Prüfungen unterziehen, deren Ziel es war, die Beherrschung, den Mut und den Willen des Kriegers zu testen. In der Regel ging es darum, ein Raubtier (Bär, Stier, Wildschwein usw.) mit oder ohne Waffen zu besiegen.

Laut Tacitus fanden diese Praktiken bei den Germanen statt. Die griechischen Kureten mußten einen Stier besiegen und in einer Höhle anketten. Die Gesamtheit der Praktiken, Riten und Konditionierung mündete in den heroischen Zorn. Dieser stellt sich als eine Steigerung der Eigenschaften (Mut, Eifer, Geschicklichkeit, Ausdauer usw.), die der Wolfskrieger besitzt, mithilfe einer Trance oder eines Zorns dar. Durch diese Raserei erlangt der Wolf eine Energie, die seine menschlichen Fähigkeiten übersteigt. Siehe den keltischen Helden Cúchulainn, dessen Táin Bó Cúailnge besagt, daß seine Kriegswut den Schnee dreißig Meter von ihm entfernt schmelzen ließ. Die Skandinavier nannten diesen Zustand die Berserkerwut. Die Entwicklung dieses heiligen Zorns und damit die Verbreitung von Wärme oder Energie von großer Intensität ist mit der Erschaffung eines neuen Zyklus oder eines neuen Menschen verbunden, was sich mit den zerstörerischen, regenerativen und befruchtenden Aspekten, die mit der allgemeinen Symbolik des Wolfes verbunden sind, deckt.

Abschließend sei darauf hingewiesen, daß es diese Praktiken und vor allem ihr Ergebnis – die Verwandlung eines Menschen in einen Wolf – waren, die mit kriegerischen Bruderschaften verbunden waren und die, da sie für den Großteil der Menschen unverständlich wurden, bereits in der Antike den degradierten Mythos des Werwolfs und des Lykanthropen, des Wolfsmenschen, hervorbrachten, einen Mythos, der die Landschaften des eurasischen Kontinents für Jahrhunderte in Angst und Schrecken versetzen sollte.

 

Bibliografische Referenzen des Artikels:

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Quelle: https://www.terreetpeuple.com/les-indo-europeens/7599-le-symbolisme-du-loup.html

Gottheiten der Unterwelt, des Jenseits und der Mysterien

Zalmoxis

Der Philosoph und der Wolf

Wolfslied. Nordisches Schlaflied. Video

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