Thierry Meyssan
Rußland hat gerade sein ›Außenpolitisches Konzept‹ veröffentlicht. Dieses Dokument erinnert an seine Position in der Welt und beschreibt das Ende der westlichen Vorherrschaft und die Bemühungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, Washingtons Hegemonie aufrechtzuerhalten. Es listet Moskaus Interessen und Ziele auf. Es betont den Vorrang des zeitgenössischen Völkerrechts (eine Schöpfung von Zar Nikolaus II.) und schließt mit einer Beschreibung der sich verändernden Welt.
Präsident Wladimir Putin traf am 31. März 2023 per Videokonferenz mit seinem Sicherheitsrat zusammen. Am Ende dieses Treffens verkündete er eine Aktualisierung des ›Außenpolitischen Konzepts der Russischen Föderation‹.
In diesem Dokument legt Rußland seine Vision seiner Rolle beim Aufbau der multipolaren Welt dar.
Erstens erinnert Rußland an seine bedeutenden Ressourcen in allen Lebensbereichen, seinen Status als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, seine Teilnahme an großen internationalen Organisationen und Verbänden, seine Atommacht und seine Eigenschaft als Rechtsnachfolger der UdSSR. Rußland sieht sich als eines der souveränen Zentren der globalen Entwicklung und betrachtet es als seine historische Aufgabe, das globale Gleichgewicht der Mächte aufrechtzuerhalten und ein multipolares internationales System aufzubauen.
EVOLUTION DER ZEITGENÖSSISCHEN WELT
Rußland stellt fest, daß das ungerechte Modell der globalen Entwicklungspolitik, das jahrhundertelang das beschleunigte Wirtschaftswachstum der Kolonialmächte durch die Aneignung der Ressourcen ihrer Kolonien sicherstellte, nun der Vergangenheit angehört.
Die Angelsachsen versuchen, den „natürlichen Lauf der Geschichte“ beizubehalten. Dabei kommt ein breites Spektrum illegaler Instrumente zum Einsatz, darunter die Anwendung von „einseitigen Zwangsmaßnahmen“ (fälschlicherweise als „Sanktionen“ bezeichnet), die Anstiftung zu Putschen, bewaffneten Auseinandersetzungen, Drohungen, Erpressungen etc. .
Der Ausdruck ›Angelsachsen‹ wird in dem Dokument nicht verwendet. Es ist eine Abkürzung, die ich im Hinblick auf die Erklärungen mehrerer Minister verwende. Moskau ist der Ansicht, daß der Feind vor allem die ›Vereinigten Staaten‹ sind, aber daß sie eine Koalition verfeindeter Staaten gebildet haben, in der das ›Vereinigte Königreich‹ eine zentrale Rolle spielt.
Da Rußland das am weitesten ausgedehnte Land der Welt ist, kann seine Armee seine Grenzen nicht verteidigen. Es kann leicht überfallen werden. Im Laufe der Geschichte hat es gelernt, Invasoren zu besiegen, indem es seinen riesigen Raum und sein Klima zu seinem Vorteil nutzt. Zwar kämpfte es gegen die Armeen Napoleons I. und Adolf Hitlers, doch vor allem verbrannte es sein eigenes Land, um die Feinde auszuhungern. Da es keine nahe gelegenen Rückzugsbasen gab, waren diese schließlich zum Rückzug gezwungen und wurden von ›General Winter‹ vollends erledigt. Im Gegensatz zu anderen Ländern bedeutet die Sicherheit Rußlands also, daß sich keine feindlichen Armeen an seinen Grenzen versammeln können.
Die Vereinigten Staaten und ihre Satelliten sehen das Erstarken Rußlands als Bedrohung für die westliche Hegemonie an und haben die Maßnahmen der Russischen Föderation zum Schutz ihrer vitalen Interessen in der Ukraine als Vorwand benutzt, um ihre langjährige antirussische Politik zu verschärfen und einen hybriden Krieg neuen Typs zu entfachen. Man muss verstehen, dass die Unterordnung der ukrainischen Armee unter das Pentagon nach dem Putsch von 2014 die vitalen russischen Interessen bedroht.
INTERESSEN UND ZIELE RUSSLANDS
Die nationalen Interessen Rußlands sind, ich zitiere:
1. Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung, Souveränität, Unabhängigkeit, territorialen und staatlichen Integrität der Russischen Föderation vor zerstörerischer ausländischer Einflußnahme;
2. Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität, Stärkung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit;
3. Stärkung des Rechtsrahmens für internationale Beziehungen;
4. Schutz der Rechte, Freiheiten und legitimen Interessen russischer Bürger und Schutz russischer Organisationen vor rechtswidriger ausländischer Einmischung;
5. die Entwicklung eines sicheren IT-Raums, der Schutz der russischen Gesellschaft vor ausländischer informationeller und psychologischer Beeinflussung, wenn diese destruktiv ist;
6. Erhaltung des russischen Volkes, Entwicklung des menschlichen Potenzials, Steigerung der Lebensqualität und des Wohlbefindens seiner Bürger;
7. Unterstützung der nachhaltigen Entwicklung der russischen Wirtschaft auf einer neuen technologischen Grundlage;
8. Stärkung traditioneller russischer spiritueller und moralischer Werte, Bewahrung des kulturellen und historischen Erbes des plurinationalen Volkes der Russischen Föderation;
9. Umweltschutz, Erhaltung natürlicher Ressourcen und Umweltmanagement, Anpassung an den Klimawandel.
Die Ziele der russischen Außenpolitik sind, ich zitiere:
1. die Errichtung einer gerechten und nachhaltigen Weltordnung;
2. die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, der strategischen Stabilität, der Gewährleistung friedlicher Koexistenz und der fortschreitenden Entwicklung von Staaten und Völkern;
3. Unterstützung bei der Entwicklung wirksamer komplexer Antworten der internationalen Gemeinschaft auf gemeinsame Herausforderungen und Bedrohungen, einschließlich regionaler Konflikte und Krisen;
4. die Entwicklung einer für beide Seiten vorteilhaften und gleichberechtigten rechtlichen Zusammenarbeit mit allen konstruktiv eingestellten ausländischen Staaten und ihren Bündnissen, die die Berücksichtigung russischer Interessen im Rahmen der Institutionen und Mechanismen der multilateralen Diplomatie gewährleistet;
5. Widerstand gegen die antirussische Aktivität bestimmter ausländischer Staaten und ihrer Bündnisse, Schaffung von Bedingungen für die Beendigung dieser Aktivität;
6. Aufbau gutnachbarlicher Beziehungen zu Nachbarstaaten, Hilfe bei der Vermeidung und Beseitigung von Spannungs- und Konfliktherden in ihren Territorien;
7. Unterstützung der Verbündeten und Partner Rußlands zur Förderung gemeinsamer Interessen, der Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihrer nachhaltigen Entwicklung, ungeachtet der internationalen Anerkennung dieser Verbündeten und Partner und ihres Status als Mitglieder internationaler Organisationen;
8. Freisetzung und Stärkung des Potenzials multilateraler regionaler Vereinigungen und Integrationsstrukturen unter Beteiligung Rußlands;
9. Stärkung der Position Rußlands in der Weltwirtschaft, Erreichung der nationalen Entwicklungsziele der Russischen Föderation, Gewährleistung der wirtschaftlichen Sicherheit, Realisierung des wirtschaftlichen Potenzials des Staates;
10. Förderung der Interessen Rußlands in den Weltmeeren, im Weltraum und in der Luft;
11. Schaffung eines objektiven Bildes von Rußland im Ausland, Stärkung seiner Positionen im globalen Computerraum;
12. Stärkung der Bedeutung Rußlands im globalen humanitären Raum, Stärkung der Stellung der russischen Sprache in der Welt, Beitrag zur Wahrung der historischen Wahrheit und der Erinnerung an die Rolle Rußlands in der Weltgeschichte im Ausland;
13. umfassende und effektive Verteidigung der Rechte, Freiheiten und rechtlichen Interessen russischer Bürger und Organisationen im Ausland (Rußland hat sich immer als Beschützer der Minderheiten der russischen Kultur im Ausland betrachtet);
14. die Entwicklung der Beziehungen zu den im Ausland lebenden Landsleuten und umfassende Hilfe für sie bei der Verwirklichung ihrer Rechte, dem Schutz ihrer Interessen und der Wahrung der allgemeinen russischen kulturellen Identität.
VORRANG DES RECHTS
Das heutige Völkerrecht wurde auf der Konferenz von Den Haag (1899) geschaffen. Es wurde vom letzten Zaren Nikolaus II. einberufen. 27 Staaten nahmen teil. Ziel der Konferenz war es, „die wirksamsten Mittel zu finden, um allen Völkern die Segnungen eines wirklichen und dauerhaften Friedens zu sichern“. Sie erstreckte sich über 72 Tage.
Drei Themen wurden diskutiert, aber nur die letzten beiden waren erfolgreich:
• die Begrenzung von Waffen, Arbeitskräften und Militärbudgets;
• die Einrichtung von Konventionen, die darauf abzielen, in Kriegszeiten den Einsatz der tödlichsten Waffen und unnötiges Leid zu verringern (die Konferenz verabschiedete die Martens-Klausel, wonach alles, was nicht ausdrücklich durch einen Vertrag verboten ist, auch erlaubt ist. Damit legt sie den Grundstein für das humanitäre Völkerrecht und wird die Existenz des Nürnberger Tribunals rechtfertigen);
• die Anerkennung des Schiedsgerichtsprinzips für geeignete Fälle (es wird auf französischen Vorschlag hin der ›Ständige Schiedsgerichtshof‹ in Den Haag geschaffen);
Die französische Delegation tat sich dabei besonders hervor. Ihr gehörten Léon Bourgeois, Paul d’Estournelles de Constant und Louis Renault an, drei spätere Friedensnobelpreisträger.
Diese Konferenz stellte zwei Neuerungen vor:
• rechtliche Gleichheit zwischen Staaten, was auch immer sie sind
• die Suche nach Kompromissen und ein einstimmiges Votum als Legitimitätsquelle.
Die Methode dieser Konferenz, die Rußland immer respektiert hat, stellt seine Denkweise dar (und die der französischen Radikalen von Léon Bourgeois). Moskau ist der Ansicht, daß es seinen aktuellen Ausdruck in der Charta der Vereinten Nationen (1945) und in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts über freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen (1970) findet.
Im Gegensatz zum Völkerrecht, das gemeinsam in der UNO definiert wird, versucht der Westen, es durch ein ›Regelwerk‹ zu ersetzen, das von ihm in Abwesenheit aller anderen definiert wird. Nur wenn die gesamte internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen in gutem Glauben auf der Grundlage eines Gleichgewichts der Mächte und Interessen vereint, kann die friedliche und schrittweise Entwicklung großer und kleiner Staaten wirksam gewährleistet werden.
In dem Dokument vom 31. März erinnert Rußland daran, daß seine spezielle militärische Operation in der Ukraine durch Artikel 51 der UN-Charta autorisiert ist. Es bezieht sich auf den von der ukrainischen Regierung geplanten Angriff auf den Donbass, von dem es inzwischen einen der Texte mit handschriftlichen Anmerkungen der ukrainischen Generalstabschefs veröffentlicht hat. Daraus wird ersichtlich, daß die Anerkennung der Donbass-Republiken als unabhängige Staaten, die mit Rußland verbündet sind (am Tag vor der Sonderoperation), eine notwendige Bedingung für die Anwendung von Artikel 51 war.
Es geht darum, vertragliche Beziehungen zwischen den Staaten herzustellen, in dem Wissen, daß der Stärkste immer in der Lage sein wird, sein Wort zu brechen und den Schwächsten zu vernichten. Deshalb muß das Abkommen mit Garantien einhergehen, die denjenigen, der in einer stärkeren Position ist, davon abhalten sollen, sie zu mißbrauchen. Diese Garantien können nur dann überzeugen, wenn Rußland, wie alle anderen auch, freien Zugang zu den Welträumen, einschließlich der Raumfahrt, hat und wenn Mechanismen zur Verhinderung eines Wettrüstens eingerichtet werden.
BESCHREIBUNG DER MULTIPOLAREN WELT
Moskau nähert sich der multipolaren Welt durch ein kulturelles Weltbild. Es beabsichtigt, Beziehungen zu allen Kulturen zu pflegen und jede von ihnen zu ermutigen, zwischenstaatliche Organisationen zu gründen.
Es bekräftigt, daß es die Staaten in seiner Nähe zwar auffordert, keine Truppen und Militärstützpunkte feindlicher Staaten bei sich zu Hause zu stationieren, aber bereit ist, ihnen bei der Stabilisierung zu helfen. Dazu gehört auch, ihnen bei der Unterdrückung von Destabilisierungsmanövern zu helfen, die von feindlichen Staaten in ihrem Land unternommen werden. Es geht nicht darum, gleichgültig zuzusehen, wie andere Länder dem ukrainischen Weg folgen und gewählte Behörden mithilfe von militanten Gruppierungen sogenannter „Neo-Nazis“ stürzen.
Das Dokument legt großen Wert auf die Stärkung der Zusammenarbeit mit China und die Koordinierung mit dessen internationalem Handeln. Es geht also tatsächlich um die Geburt einer multipolaren Welt, die jedoch von den beiden Hebammen Moskau und Peking entbunden wird. Auf militärischer Ebene verweist Moskau auf seine strategische Partnerschaft mit Indien.
Eine besondere Passage befaßt sich mit der islamischen Welt, die sich mit dem Sieg Syriens und dem Friedensabkommen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien aus der westlichen Vorherrschaft löst.
Was Westeuropa betrifft, hofft Moskau, daß es seine Fehler erkennt und sich von den Angelsachsen löst. Bis zu dem Zeitpunkt misstraut es nicht nur der NATO, sondern auch der Europäischen Union und dem Europarat.
Rußland positioniert sich nicht als Feind des Westens, isoliert sich nicht von ihm, hegt keine feindseligen Absichten ihm gegenüber und hofft, daß der Westen sich in Zukunft der Sinnlosigkeit seiner konfrontativen Politik erkennt und sich den Prinzipien der souveränen Gleichheit und der Achtung gegenseitiger Interessen anschließt. Vor diesem Hintergrund erklärt die Russische Föderation ihre Bereitschaft zum Dialog und zur Zusammenarbeit.
Rußlands Politik gegenüber den Vereinigten Staaten hat einen doppelten Charakter und berücksichtigt einerseits die Rolle dieses Staates als eines der einflußreichen souveränen Zentren der Weltentwicklung und andererseits als Inspirator, Organisator und wesentlicher Regisseur der aggressiven antirussischen Politik des Westens, die Quelle wesentlicher Risiken für die Sicherheit der Russischen Föderation, den internationalen Frieden und die ausgewogene, gerechte und progressive Entwicklung der Menschheit (›Menschheiten‹, Anmerkung der Redaktion) ist.