Salvo Ardizzone

 

Der weise Menschen würde sagen, daß wir in interessanten Zeiten leben, Zeiten, die in die Geschichtsbücher eingehen werden. Wir erleben zweifellos einen Machtwechsel, den Übergang von der Unipolarität zur Multipolarität, genauer gesagt zum Polyzentrismus, aber dieser Wandel führt zu einer weltweiten geopolitischen Revolution, deren Ausmaß dasjenige nach dem Zusammenbruch der UdSSR noch übertrifft.

Von außen betrachtet erleben wir einen scheinbaren Wahnsinn, in dem die Vereinigten Staaten ihr ehemaliges Imperium und dessen Instrumente liquidieren, während ihre europäischen Untertanen, anstatt sich über diese Befreiung zu freuen, daran festhalten. Insbesondere an der NATO. Tatsächlich hat Washington, nachdem es weltweit unzählige Regierungsumstürze und Staatsstreiche provoziert hat, in einer letzten Ironie der Geschichte selbst einen radikalen Regimewechsel erlebt, der die Grundlage der amerikanischen Macht erschüttert.

Um diese Kuriosität zu verstehen, muß man sich den Weg ansehen, der zur aktuellen Situation geführt hat. Die Vereinigten Staaten gingen als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervor und übernahmen die Kontrolle über Westeuropa. Sie beraubten die vom Krieg zerrütteten europäischen Nationen des Konzepts des Westens, entleerten es seines kulturellen, historischen und politischen Inhalts und füllten es mit ihrem eigenen Inhalt, der nichts, aber auch gar nichts mit dem Original zu tun hatte, und machten es zum Banner ihres neuen Imperiums.

Und um dieses neu errichtete Imperium zu verteidigen, und nicht Europa, gründeten sie die NATO. Diese Präzisierung ist notwendig, da offiziell behauptet wurde und immer wieder wie ein Mantra wiederholt wird, daß sie zur Verteidigung des europäischen Kontinents gegründet wurde: Das ist Unsinn!

Abgesehen davon, daß die NATO 1949 gegründet wurde, sechs Jahre vor ihrem erklärter Gegner, dem 1955 gegründeten ›Warschauer Pakt‹, wurde das Wesen des Atlantischen Bündnisses von seinem ersten Generalsekretär, dem Briten Sir Lionel Ismay, treffend zusammengefaßt, der erklärte, es diene dazu, „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten“, also, klar gesagt, jede europäische Nation, die sich erheben wollte. Das europäische Territorium war nur die vordere Verteidigungslinie der Vereinigten Staaten gegen ihren Gegner, die Sowjetunion.

Zahlreiche entschlüsselte Dokumente bestätigen, daß der Krieg, sollte er ausbrechen, in Europa stattfinden sollte, da die Vereinigten Staaten niemals das Risiko eingegangen wären, Boston oder New York zu zerstören, um eine europäische Stadt zu verteidigen. Denn in der NATO gab es nie Gleichheit, sondern einen – gut erkennbaren – Herrn und Diener.

Progagandaplakat der Deutschen Bundeswehr zugunsten der NATO. Bildquelle: Metapedia

Fast achtzig Jahre lang wurde uns erzählt, daß Artikel 5 des Atlantikpakts die europäischen Länder vor jeder Aggression schütze, weil ein Angriff auf eines von ihnen „automatisch“ einen Angriff auf alle anderen bedeuten würde, vor allem aber auf die Amerikaner. Wieder einmal Unsinn, der mit einer Heuchelei ausgesprochen wurde, die ihrer Böswilligkeit in nichts nachstand. Der wesentliche Passus des Artikels besagt wörtlich, daß jedes Mitglied des Bündnisses „die Maßnahmen ergreift, die es für notwendig erachtet, um den angegriffenen Parteien zu helfen“, was bedeutet: Es tut, was es will. Genau das geschieht heute mit der Ukraine, mit den bekannten katastrophalen Folgen. Und wenn man genau darüber nachdenkt, ist es kein Zufall, daß Stimmen laut werden, die vorschlagen, Kiew den Schutz von Artikel 5 zu gewähren, ohne es in die NATO aufzunehmen, also eine politische Geste, die faktisch nichts ändern würde.

Ist die NATO also eine Verteidigungsorganisation? Sicherlich ja, aber für die Interessen der USA. Und deshalb hat sie mit der Auflösung der UdSSR keineswegs ihre Daseinsberechtigung verloren. Wir haben gesehen, daß sie parallel zur weltweiten Ausbreitung der hegemonialen Unipolarität die bewaffnete Projektion der amerikanischen Interessen in der Welt war. 1999 bombardierten sie Serbien, 2001 marschierten sie in Afghanistan ein, 2003 stellten sie, obwohl sie nicht offiziell intervenierten, ihre Ressourcen für die unglückselige Invasion des Irak zur Verfügung und gründeten die erste von vielen „Koalitionen der Willigen“. Im Jahr 2011 griff die NATO Libyen an, mit Folgen, die wir bis heute beklagen. Und dann die Ukraine, in die sie in den 1990er Jahren eindrang, sich dort festsetzte und das heutige Desaster herbeiführte, wo es nicht mehr darum geht, ob die Ukraine der NATO beitreten kann oder nicht, sondern ob die NATO sie nach Jahrzehnten verlassen muß.

Und das sind nur einige der endlosen Interventionen im Gefolge der Amerikaner, denen die Mitglieder in einer Reihe blutiger Kriege Mittel, Menschen und Hilfe zur Verfügung gestellt haben. Achtung: Alle Kriege der ›Guten gegen die Bösen‹, alle Kriege für die sogenannte Freiheit gegen Feinde, die mit dem Bösen gleichgesetzt werden und deshalb mit allen Mitteln vernichtet werden müssen, mit Bomben, die in jedem Fall gerechtfertigt sind, legitime, gute Bomben. Denn amerikanische Bomben sind immer legitim. Wie die, die auf Hiroshima und Nagasaki, auf Korea, auf Vietnam, auf Afghanistan, auf den Irak, auf Serbien, auf Libyen abgeworfen wurden, bis hin zu denen, die heute auf Gaza und den Jemen fallen, mit derselben Matrix, identisch. Die Guten, die sie abwerfen, gegen die Bösen, also Frauen und Kinder, die im Namen einer „überlegenen” Zivilisation massakriert werden.

In diesem Sinne hat die NATO im Laufe der Jahre aufgehört, sich auf die Sowjetunion und in jüngerer Zeit auf Rußland zu konzentrieren, um im Rahmen der neuen selbstzerstörerischen Konfrontation mit China die ganze Welt bis hin zum Indopazifik einzubeziehen. Sie wurde zur globalen NATO, zur weltumspannenden Nordatlantischen Allianz, einem funktionalen Oxymoron im Interesse des amerikanischen Herrschers.

Aber heute hat Amerika Bilanz gezogen und sich in den roten Zahlen wiedergefunden. Es ist gezwungen, seine imperialen Ambitionen aufzugeben, den Planeten sich selbst anzugleichen; es kann ein globales Amerika nicht mehr aufrechterhalten, es hat nicht mehr die Mittel dazu, und so kehrt es zu der Idee eines amerikanischen Amerikas zurück, oder besser gesagt einer egozentrischen Festung Amerika, das zu nichts anderem mehr gehören will. Es will nicht mehr im Namen eines Imperiums, das es heute ablehnt, der Westen sein, sondern einfach nur Amerika. Es ist die Rückkehr zu den Einflußsphären, was keineswegs bedeutet, daß es darauf verzichtet, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen, ganz im Gegenteil. In dieser Phase ist es ihr egal, ob sie Verbündete hat, selbst symbolische, sie will nur Instrumente, die ihren Interessen dienen.

Deshalb löst es die NATO nicht auf, sondern versetzt sie in einen „Ruhezustand“(„latent”) – so lautet der Modebegriff in Washington heute –, um sie nach Belieben zu aktivieren, ohne die Lasten zu tragen, die alle auf die anderen Mitglieder abgewälzt werden. Aber sie will ihre sogenannten Partner ausnutzen, indem sie ihnen den Kauf ihrer eigenen Waffensysteme und Gas zu drei- oder viermal höheren Preisen aufzwingt, ihre Volkswirtschaften für ihre räuberische Finanzpolitik öffnet und dann Zölle und politische Bedingungen aller Art auferlegt. Kurz gesagt, reine Schikane nach eigenem Gutdünken, in der wahrlich zweifelhaften Überzeugung, die Stärkste zu sein.

Zurück zur heutigen Situation: Wie ist die Kluft zwischen den derzeitigen europäischen Staats- und Regierungschefs und den Vereinigten Staaten zu interpretieren? Vielleicht weil sie endlich ihre Autonomie einfordern wollen? Oder weil sie ihre eigenen nationalen Interessen verfolgen wollen, die bisher mit Füßen getreten wurden? Nein, ganz und gar nicht. Weil sie seit drei Generationen dank Washingtons Unterstützung aufgewachsen sind und ihre Loyalität viel früher den Vereinigten Staaten als ihren eigenen Nationen geschworen haben.

Unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt, sind sie mit dem ehemaligen amerikanischen Imperium verbunden, in dem Sinne, daß sie sich darin wiedererkennen, weil es das einzige ist, das mit ihrer eigenen Machtsphäre vereinbar ist, daß sie Waisen dieses Imperiums sind und daß sie an diesem Modell festhalten wie Schiffbrüchige in einem Sturm, den sie nicht begreifen. Deshalb verbünden sie sich mit einem Teil des amerikanischen ›Deep State‹, der aus dem alten System die Logik und die Praktiken seiner eigenen Macht geschöpft hat, was zu einem internen Konflikt führt, der das zerreißt, was gestern noch der amerikanische Westen war.

In dieser Phase werden andere Führungskräfte des ›Alten Kontinents‹, wie das Frankreich Macrons oder das Vereinigte Königreich Starmer, zu Protagonisten eines zynischen und unbewußten Aktivismus, der zwar unfruchtbar und völlig unrealistisch ist, aber potenziell verheerende Folgen haben kann, weil sie mit einem nuklearen Konflikt spielen.

Schaubild von der Netzpräsenz ›Swiss Policy‹ (2017)

 

Vor diesem Hintergrund sind die Nachrichten zu lesen, von denen bis gestern noch nichts zu hören war: Das Pentagon bleibt bewußt dem doppelten Treffen der Verteidigungsminister der Atlantischen Allianz fern und distanziert sich offen von den „Freiwilligen“, die den Ukraine-Konflikt weiter schüren wollen; die US-Präsidentschaft erwägt, die militärische Führung der Atlantischen Allianz an die Europäer abzugeben, eine Rolle, die bisher immer den Amerikanern vorbehalten war; hochrangige Beamte flüstern der Presse zu, daß das Pentagon beabsichtigte, mindestens 10.000 Soldaten aus dem Irak abzuziehen, um sie in Europa zu stationieren, und mindestens 10.000 Soldaten aus Polen und Rumänien abzuziehen. All dies geschieht, während Washington versucht, den Krieg in der Ukraine zu beenden und die europäischen Spitzenpolitiker alles tun, um die Verhandlungen zu sabotieren.

Um mit Mao Tse-tung zu sprechen, könnte man sagen:

Die Verwirrung unter dem Himmel ist groß, daher ist die Lage ausgezeichnet.

Ja, denn heute bietet sich eine einmalige Gelegenheit, aus der NATO auszutreten oder besser noch, sie aufzulösen und uns von einer achtzigjährigen Knechtschaft zu befreien; wieder Akteure unserer eigenen Geschichte zu werden und nicht mehr Werkzeuge der Geschichte anderer, unsere verlorene Souveränität wiederherzustellen. Denn entgegen der vorherrschenden Meinung ist es ein Widerspruch, Mitglied der NATO zu sein und sich als souverän zu bezeichnen.

Mehr noch, es ist ein Widerspruch, Mitglied der NATO zu sein und sich als Patriot zu bezeichnen. Mitglied der NATO zu sein bedeutet, die eigenen Interessen zugunsten anderer mit Füßen zu treten. In der NATO zu sein bedeutet, ein Untertan zu sein.

Es ist Zeit, daß das aufhört.

Salvo Ardizzone

 

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2025/04/17/une-occasion-historique-de-quitter-l-otan.html
Originalquelle: https://www.ariannaeditrice.it/articoli/e-l-occasione-storica-di-uscire-dalla-nato
Beitragsbildquelle: https://www.pressenza.com/de/tag/nato-austritt/

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