Robert Dun
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke?
Nietzsche als entlarvender Loki
Schon vor rund achtzig Jahren prägte Hans Prinzhorn auf Nietzsche bezogen den Begriff der „Entlarvungspsychologie“. Man könnte kaum eine bessere Bezeichnung der verneinenden Seite seiner ungeheuren Botschaft geben. Aber diese Botschaft hat nicht nur eine negative Seite, obgleich wir seit über einem Jahrhundert immer wieder zu lesen bekommen, Nietzsche sei zwar ein feuriger, schlauer Kritiker, auch ein beflügelter Dichter, biete aber nichts Aufbauendes.
Dem ist nicht so. Denn obgleich er die altgermanischen Überlieferungen nie erwähnt, verkörpert Nietzsche die Gestalten Lokis, Thors und Baldurs: die gnadenlose Wahrheit, den Heldenkampf, die neue Reinheit.
Bleiben wir zuerst bei Loki. Die ›Genealogie der Moral‹ entlarvt die neid-und haßerfüllten „Sanftmütigen“. Alle Lehren der weltweiten Bruderschaft, der Gewaltlosigkeit, des Mitleids sind halbbewußte Erfindungen der Minderwertigen, der Schwachen und Feigen, die damit den Gesunden Schuldkomplexe einzujagen suchen.
Tatsächlich stellen diese Lehren eine Sklavenmoral dar, eine giftige, ansteckende Krankheit, die darauf abzielt, die ganze Menschheit bis aufs tiefste denkbare Niveau herabzudrücken (s. darüber den Abschnitt 5: „Vom letzten Menschen“ in Zarathustras Vorrede). Weil diese Sklavenmoral das Niedrigste im Menschen anspricht, ist es unausbleiblich, daß ihr die tierische Mentalität der Mehrheit zujubelt.
Gib uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra,… mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen! (Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5)
Dieser Vorgang der allgemeinen Verpöbelung wird so weit gehen, bis er an der eigenen Niedertracht erstickt, von den eigenen Vemichtungskräften getrieben ins Chaos stürzt. Der bereits anbrechende weltweite Bürgerkrieg ist der Anfang dieser Selbstvernichtung.
Auch ›Der Antichrist‹ und die ›Götzen-Dämmerung‹ sind von jener ablehnenden Haltung geprägt, bringen daneben aber immer wieder aufbauende Verheißungen. In diesen drei Werken werden uns Abstandnahme, Verschwiegenheit und weitsichtige Handlungsweise empfohlen. Der Drache ist wohl riesengroß, giftig und gehässig, aber auch plump und wenig beweglich. Darum vermag Siegfried ihn zu besiegen.
Der eisige Wind der Entlarvungspsychologie wütet auch in den anderen Werken Nietzsches. Nicht nur der unschwer als solcher erkennbare Feind wird kenntlich gemacht, sondern auch die falschen Freunde. Man lese darüber die Abschnitte vom „Feuerhund” (Zweiter Teil, Von großen Ereignissen) und vom „schäumenden Narren“ (Dritter Teil, Vom Vörübergehen) in ›Also sprach Zarathustra›.
Aber auch jeder von uns wird gnadenlos vor den Spiegel der Unbestechlichkeit gestellt. Ob willig oder unwillig – er muß erkennen, was hinter seiner eingefleischten Maske steckt. Nur wer diese Geist- und Seelenwäsche mutig überstanden hat, vermag die höchsten Verheißungen wahrzunehmen, die uns Nietzsche schenkt.
Nietzsche als zukunftsweisender Künder
Kaum hat uns Zarathustra in seiner Vorrede unserer Begrenztheiten und Selbsttäuschungen innewerden lassen, da donnert es schon für die Ohren der Starken:
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müßtet? / Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“ (Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3)
Will man Nietzsche nicht falsch einschätzen, so sollte man stets daran denken, daß das feurige Herz ihm nie den kalten Verstand verwirrt. Begeisterung und Nüchternheit schreiten ohne Gegensatz nebeneinander. So ist der hier gemeinte „Wahnsinn“ kein Verlust an Selbstbeherrschung, sondern Einblick in das vom erweckten Menschen gewonnene Göttliche: in die Gefilde der Entwicklung. Mit der Unbeirrbarkeit einer höheren Liebe beruhigt Zarathustra unsere Verzweiflung:
Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muß schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden. Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dies Meer, in ihm kann eure große Verachtung untergehn. (Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3)
Was bezeichnet nun der Begriff „Übermensch“? Er ist für viele unfaßbar geblieben, weil, wie alles Große, für den nervösen Verstand zu einfach und klar. Er besagt nichts anderes, als daß der heutige Mensch, (der Cro- Magnon-Mensch) sich nicht einbilden darf, er sei etwa die endgültige Spitze der Entwicklung. Verfall und Absterben als Bedingung der Erneuerung gehören ja doch zu den Grundgesetzen des Lebens. Wir sind nur eine vorläufige Stufe der Entwicklung. Wer das erkannt hat, der verfällt nie mehr dem konservativen Geist, der den verächtlichsten aller Fehler begeht, indem „er sich die Zukunft opfert“.
Die Selbstlosigkeit des Erkennenden aber befähigt und berechtigt, ja: verpflichtet ihn zu dieser sinnvollen Handlung:
O meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen! Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stoßen! (Also sprach Zarathustra, Dritter Teil, Von alten und neuen Tafeln, 20)
Nur als Jünger Nietzsches kann man die selbstmörderischen Spiele und Blindheiten der gegenwärtigen Menschheit gelassen hinnehmen. Diese Gelassenheit bedeutet aber nicht, daß man sich der Gestaltung der Zukunft entziehen dürfte, sondern daß man jede Vergeudung der gesunden Kräfte vermeiden muß, um die heutige, ungeheuer gespannte Weltlage als das zu erkennen, was sie wirklich ist: eine Weltwende im Rahmen der Jahrmillionen währenden biologischen und geistigen Entwicklung.
Unsere einzige Pflicht besteht darin, die Selbstvernichtung des letzten Menschen zu überleben und die neue Geburt der höchsten Lebensform in unserem Sinn zu lenken. Alles andere ist Verirrung und Kraftverschwendung, auch wenn heutzutage Wirklichkeitssinn und Selbstverleugnung allgemein verwechselt werden.
Aber zurück zum Übermenschen und seinen denkbaren Aussichten. Der Übermensch sollte der selbstverständliche Nachfolger des Menschen im Zuge einer idealen Fortsetzung der Entwicklungskurve werden. Er sollte es – aber dazu bedarf es unserer Bereitschaft:
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! (Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3)
Werden wir des Göttlichen in uns gewärtig, so erreichen wir damit „den großen Mittag“. Dann sind wir. bereit, den Menschen in uns aufzuopfem und unseren Tod wie eine neue Morgenröte zu feiern. Aber es geschieht nicht von selbst. Da das Göttliche in uns lebt, sind wir nach diesem Verständnis zur Tat verpflichtet, ohne (nach herrschendem fremdartigem Denken) die Hilfe einer von uns getrennten lächerlich vermenschten Gottheit auch nur zu wünschen! Demgemäß sind uns sowohl die Heiterkeit und Zuversicht des Gläubigen als auch die Nüchternheit des Gottlosen eigen.
Die Begriffe ’Selbstsucht’ und ’Selbstlosigkeit’ sind dem Jünger Nietzsches fremd. Durch die Stunde der großen Verachtung (eine ’Stunde’, die wohl lange Jahre hindurch uns befallen kann!) hat er Eitelkeit und Eigennutz überwunden. Seine Liebe und seine Härte werden nunmehr im Dienst der göttlichen Ordnung eingesetzt.
Die Tragweite der Botschaft Nietzsches wurde bis heute erst von einer winzigen Anzahl Menschen ermessen. Auch wenn viele schon durchschaut haben, was sich hinter unseren geschönten Vorwänden verbirgt, so bleibt die große Hoffnung auf den Übermenschen (und die darin liegenden Richtlinien für eine Abwendung des derzeitigen Niederganges) noch ganz unverstanden.
Wieviel tiefer muß die Menschheit noch in den Sumpf der Selbstvergessenheit sinken, bis die Besten wieder nach oben schauen? Die Besten können nur sich selbst helfen. Ihnen rufen wir zu:
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke?
Mögen viele Ohren diesen Weckruf vernehmen.
Auf den ebnen Himmels-Tennen
Sah ich deine Rosse rennen,
Sah den Wagen, der dich trägt,
Sah die Hand dir selber zücken
Wenn sie auf der Rosse Rücken
Blitzesgleich die Geißel schlägt,
Sah dich aus dem Wagen springen,
Schneller dich hinabzuschwingen,
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt
Senkrecht in die Tiefe stoßen,
Wie ein Goldstrahl durch die Rosen
Erster Morgenröten stürzt.
Tanze nun auf tausend Rücken,
Wellen-Rücken, Wellen-Tücken –
Heil, wer neue Tänze schafft!
Tanzen wir in tausend Weisen,
Frei – sei unsre Kunst geheißen,
Fröhlich – unsre Wissenschaft!
Beitragsbild: William Blake: Europa, Eine Prophezeiung, 1794
Quelle: