Überlegungen zu einem Essay von Valerio Savioli
Giovanni Sessa
Unter den Gelehrten im nonkonformen Bereich spielt Valerio Savioli eine bedeutende Rolle. Diese Behauptung wird durch die Lektüre seines neuesten Werks ›L’Uomo Residuo‹ [Der Restmensch: Cancel Culture, „politische Korrektheit“, Tod Europas], bestätigt. In diesem Werk setzt sich der Autor umfassend mit der zeitgenössischen Kultur auseinander und skizziert besonders die Merkmale dessen, was er als „Restmensch“ definiert – eine anthropologische Spezies, die im Laufe einer langen Geschichte durch die Konvergenz von Pseudowerten der „politischen Korrektheit” entstanden ist, die durch die neuere ›Cancel-Kultur‹ radikalisiert wurde.
Vor Jahren prophezeite Giuliano Borghi in einem visionären Essay das Aufkommen des ›homo vacuus‹, eines Nachfolgers des ›homo religiosus‹ und des ›homo oeconomicus‹, dessen fluide und geistig substanzlose Merkmale denen des von Evola beschriebenen „Menschen der flüchtigen Rasse“ ähneln.
Der Autor zeichnet zunächst die Geschichte der „politischen Korrektheit” nach: ein politischer Stil, „dessen radikalste Vertreter […] versuchen, den politischen Diskurs zu regulieren, indem sie gegenteilige Ansichten als bigott und illegitim definieren”. Um die Situation zu verstehen, in der sich die westliche Welt seit den 1970er Jahren befindet, ist es nützlich, an das zu erinnern, was Solženicyn in seiner Rede 1978 in Harvard sagte:
Einst lebte ich in einem System, in dem man nichts sagen durfte, ich kam in ein System, in dem man alles sagen kann und es nichts nützt.
Savioli kommentiert:
Eine Diagnose […], die überholt ist: Wir haben in der Tat das Stadium erreicht, in dem auch wir nichts mehr sagen können.
Die dogmatischen und unüberwindbaren Grenzen, die durch die „politische Korrektheit“ gezogen wurden, sind das Ergebnis Ergebnis der Umkehrung der revolutionären marxistischen Eschatologie in eine Eschatologie, die dem computerbasierten, kognitiven und neoliberalen Kapitalismus eigen ist. Dieser hat den „eindimensionalen Menschen“ hervorgebracht, den begehrenden Menschen, der in die unüberwindbare Gegenwart des heterodirektionalen Produktions- und Konsumtionsprozesses verbannt wird, der jegliche symbolische Vermittlung aufhebt. Der französische Philosoph Bernard Stiegler hat unsere Gegenwart als das Zeitalter des „symbolischen Elends“ bezeichnet.
All dies fand seinen Wendepunkt 1968 und im Denken der ›Frankfurter Schule‹. Es ist daher kein Zufall, daß Saviolis präzise Analysen mit einer Kritik dieser Philosophien beginnen. Mit der Jugendprotestbewegung, die funktional für das kapitalistische System und seine Bedürfnisse war, mit der „sexuellen Revolution“ und dem Motto „Es ist verboten zu verbieten“, wurde, um es mit Del Noce zu sagen, der Vatermord begangen. Der Vater ist, pars pro toto, der Fackelträger der Tradition: Sein Mord hat die Weitergabe der gemeinsamen Werte verhindert, auf denen die Geschichte der Menschheit aufgebaut wurde.
Seitdem haben die „Meister des Dampfes” als einzigen Bezugspunkt die „Religion des Rechts” festgelegt, die durch die Kontrolle des Gewissens und die Zensur jeder intellektuellen Abweichung durchgesetzt werden soll, wie es unter anderem von de Benoist behauptet und vom Autor in Erinnerung gerufen wurde.
Die globalisierte zeitgenössische Gesellschaft ist das Endergebnis des dogmatischen und intoleranten Neo-Gnostizismus (Voegelin). Es ist kein Zufall, daß gerade die neo-puritanischen USA die treibende Kraft hinter der „politischen Korrektheit“ und der „Cancel Culture” sind. Alles zielt darauf ab, die persönliche Identität, sogar die sexuelle Identität, aufzulösen und das Leben in reine Immanenz zu verbannen. Daher die Kritik Saviolis an der Entartung des Feminismus zu einem offenen Kampf gegen den „Mann“ mit dem Ziel, ihn zu entmännlichen.
Die LGBTQ+-Bewegungen und und ihre mit der Gendertheorie verknüpften Substitute, die sogar auf die Normalisierung der Pädophilie abzielen, haben auf faktische Weise dazu beigetragen:
Die radikale neo-progressive Agenda, auch bekannt als ›Woke‹, hat bis heute die Richtung nicht geändert,
daher:
Jeder traditionelle und identitäre Erbe muß einem korrekten Konformismus weichen.
In dieser Perspektive:
Es ist […] die Überzeugung verbreitet, daß die Pornoindustrie ein verteufeltes Mittel ist, um die […] Lebenskraft zu vergeuden.
Gleichzeitig geht die Frau, wie Evola feststellte, einer fortschreitenden Maskulinisierung entgegen. All dies wird durch eine dogmatische Vergötterung der Wissenschaft unterstützt, die im Dienste des Finanzkapitalismus steht, wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat.
Als ob dies nicht genug wäre, hat sich in dieser Verbindung von Macht und falscher Kultur ein systemischer Umweltschutz etabliert, der in hohem Maße dazu beigetragen hat, daß der heilige Sinn der Physis in Vergessenheit geraten ist. Die mediale Überwachung, die Zensur auf allen Ebenen, nicht nur in der akademischen Welt, haben den reinen ›Safetismus‹, die Suche nach materieller Sicherheit, das bloße biologische Überleben durch das Vergessen der Grenze und des Todes verbreitet.
Zu diesem Zweck hat sich die Macht dessen bedient, was Guy Hermet die „makedonische Sprache” genannt hat, den „Krieg der Worte”, der darauf abzielt, Begriffe, die mit einer anagogischen Vision des Lebens verbunden sind, negativ zu konnotieren: das Heilige, der Held, die Ehre werden als anrüchige und ausgrenzende Ausdrücke betrachtet.
Für die ›Cancel-Kultur‹ gilt:
Die Vergangenheit wird für die Sünden verantwortlich gemacht, die von der Religion der „politischen Korrektheit“ definiert werden […] nichts ist potenziell zu retten.
Daher die Schmähung der Statuen von Christoph Kolumbus und/oder Montanelli, die als Beispiele für die Herrschaft des weißen Mannes angesehen werden. Der Europäer lebt heute in der Scham über seine eigene Geschichte. Wir sind von der Zensur zur ideologischen Selbstzensur übergegangen.
Die „Kolonisierung des Imaginären”, die von der Kulturindustrie in der Musik, in Zeichentrickfilmen, in den versklavten Massenmedien und vor allem unter ausdrücklicher Mitwirkung der Kulturinstitute, die für die öffentliche Bildung zuständig sind, praktiziert wird, hat sich durchdringend auf die Generation Y und Z ausgewirkt.
Es wird versucht, die Weltliteratur umzuschreiben: Märchen, Dante, Pound und viele Größen der Vergangenheit sind unter der zensierenden Lupe der ›Cancel-Kultur‹ gelandet. Das anthropologische Ergebnis dieser konzentrischen und subversiven Aktion ist für alle sichtbar: der reduzierte Mensch, Residuo, Restmensch.
Dieser
denkt nicht daran, daß er eines Tages bereuen könnte, öffentlich auf seine Scham verzichtet zu haben,
auf seine Würde. Was ist angesichts all dessen zu tun? Savioli ist diesbezüglich eindeutig:
Sich zu ergeben ist […] das Verhalten eines Restmenschen; zu kämpfen, um den Himmel zu sehen, auch wenn die Niederlage sicher ist, ist das Verhalten eines Mannes.
Dem Pessimismus der Vernunft muß der ethische Optimismus des Handelns folgen. Das ist keine Kleinigkeit…