Dr. Carlos Dufour

1.   Nietzsches Gedankensplitter

Philosophieprofessoren dissertieren über Begriffsanalyse: die Zerlegung eines Ganzen in seine Bestandteile, um seine Struktur zu begreifen. Viel früher, ohne von Analyse zu sprechen, nahm Nietzsche die europäischen Grundideen, warf sie auf einen Amboß und zertrümmerte sie mit Hammerschlägen. Der Lärm zog die Neugierigen an. Die Splitter waren offensichtlich, nicht aber der ausgeklügelte Plan.

Der angehende Nietzsche-Leser erwartet ungeduldig den beeindruckenden Spruch, das herausfordernde Urteil, jene Bemerkungen, mit denen man später einen unvorbereiteten Hörer überrumpeln kann. Fachleute setzen diese natürliche Haltung mit anderen Mitteln und Ansprüchen fort. Karteikarten mit Sprüchen Nietzsches werden so oder so angeordnet, um die eine oder andere Auslegung zu erhärten. Und es fehlen nicht diejenigen, die mit verächtlicher Miene anführen, daß dieser Disput nur bestätigt, was sie bereits ahnten, nämlich die Irrationalität in Nietzsches Gedankenwelt. Ist es nicht erwiesen, daß dieser Mann als Verrückter starb?

Friedrich Nietzsche, ᛉ 15. Oktober 1844 in Röcken; ᛣ 25. August 1900 in Weimar

In all diesen Fällen ist selbst der Blick zersplittert. Aber man kann immer überlegen, ob zerborstene Gedanken uns nicht dazu auffordern, die Splitter zusammenzusetzen und sie in ihrem Sinn zu erfassen. Das philosophische Erbe Nietzsches hilft, seine gestaltende Aneignung zu verstehen.

2.   Das Erbe

Schopenhauers Idealismus ist Nietzsches Ausgangspunkt. Die phänomenische Welt ist für Schopenhauer nur Vorstellung, das Reich, wo der Satz vom Grunde herrscht ― aber das Ding an Sich, jenes von Kant überlieferte Rätsel, wird durch den Willen erklärt. Wir können wohl wie Zuschauer unseres Körpers und seiner Handlungen bewußt sein, und so ist die Körperlichkeit Phänomen; aber durch den Willensakt sind wir Akteure, wir erfassen die innerste Seite des Phänomens und entziffern dadurch das Rätsel. Es ist dieser unteilbare Wille, der sich vielfältig in der Welt der Erscheinungen objektiviert, während er selbst in sich ruht, frei von den Bedingungen des Raums, der Zeit und der Kausalität.

Arthur Schopenhauer, ᛉ 22. Februar 1788 in Danzig; ᛣ 21. September 1860 in Frankfurt am Main

Schopenhauer zögert nicht wenig bei der genaueren Bestimmung dieses Willen/Ding an Sich. Aber schließlich sieht er in ihm einen blinden Impuls, der das Bewußtsein benutzt, um sich zu bejahen. Somit wird die Intelligenz zum Werkzeug des Willens, ein Mittel des Begehrens, wie ein Diener, der in der dunklen Gasse eine Fackel trägt, um den Weg seines Herrn zu beleuchten. Nur ausnahmsweise kann sich das Subjekt von der Knechtschaft seines Willens befreien: kurz durch die Kontemplation, wie sie Philosophie und Kunst ermöglichen, indem sie das Objekt als reine Idee darstellen, emanzipiert vom Warum der Kausalität und vom Wozu des Interesses. Die dauerhafte Befreiung kommt von der Askese, die den Willen zum Leben verneint. Nicht der Selbstmörder, der Heilige erschließt sich den Pfad zur unberührten Reinheit des Nichts.

Schopenhauer sah seine Theorie vielfach bestätigt: in den moralischen Phänomenen, wo durch das Mitleid der Egoismus und das trügerische Prinzip der Individuation schwinden. Aber auch im physischen Magnetismus, in der Mesmerischen Hypnose, sogar in den magischen Operationen, die Raum, Zeit und Kausalität überwinden. Auch fand er im Buddhismus und in den Upanischaden überraschende Übereinstimmungen mit seinen Gedanken. Seinem Atheismus zum Trotz enthält seine Weltanschauung unleugbare Berührungspunkte mit einer gewissen Moral, Askese und Mystik des Christentums. Die Verneinung des Willens verläuft parallel zu einer Geringschätzung des Politischen, zum universalisierenden Individualismus und zu einer axiologischen Abschaffung der Geschichte.

Tremois, Mensch und Kosmos

3.   Die Aneignung

Das Gesagte ist für die Philosophie Nietzsches grundlegend. Gewiß können wir ihn anfänglich als unsystematischen Autor ätzender Aphorismen lesen. Doch selbst dabei verfolgt Nietzsche systematisch die Schopenhauersche These von der Unterwerfung des Intellekts unter die Absichten des Willens. Die gewöhnlichen Rechtfertigungen der Handlungen wären eine nachträgliche Rationalisierung eines ursprünglichen Drangs: die Suche imaginärer Ursachen zu Lasten der tatsächlichen ― ein Betrug an sich selbst und den anderen. Die Sonderfälle, die Nietzsche anführt, seien sie auch noch so beunruhigend, bilden auch eine kalte induktive Beweisführung der allgemeinen These.

Das Denken ergötzt sich, indem es, was nur eine Entsprechung mit dem eigenen Interesse ist, als „Entsprechung zum Objekt“ deklariert. Die „psychologische Methode“ bei Nietzsche rekonstruiert in der Phantasie die Bedingungen, unter denen eine Überzeugung oder Haltung entsteht. Wenn eine zufriedenstellende Rekonstruktion von objektiven Bezügen absehen kann, um das Entstehen eines Glaubens zu erklären, ist es überflüssig, sich außerdem einen äußeren Sachverhalt vorzustellen, der auf direkte oder indirekte Weise der Überzeugung den Stempel der Wahrheit aufdrückt. Nichtig ist die Argumentation, wenn die Entstehung der Überzeugung klar vorliegt: Der Fuchs, der nicht an die Trauben gelangt, sagt sich, sie seien sauer.

Diese Täuschungen beschränken sich nicht auf Individuen: Völker und Kulturen können einer transzendentalen Fälschung erliegen, indem sie eine Welt aus imaginären Ursachen und Wirkungen spinnen oder eine Verdrehung der Werte vornehmen, um das Stärkere zu zerstören.
Die heftige Kritik Nietzsches an Judentum und Christentum geht nicht aus einem vulgären Antisemitismus oder bloßer Bibelkritik hervor.

Bis dahin scheint Nietzsche Schopenhauer zu folgen. Der Wille ist auch für Nietzsche die Substanz der Welt, nur daß er in offenem Gegensatz zu Schopenhauer eine Lehre proklamiert, die realistisch in seiner Metaphysik ist und voluntaristisch in seiner Wertsetzung wirkt: weder ist die Welt phänomenische Vorstellung noch der Wille etwas, was verneint werden soll.

Wie könnte die Wirklichkeit der Welt auf die kraftvollste Weise ausgedrückt werden? Indem man sie bis ins Unendliche bejaht. Jeder Teil der Realität ist nicht nur existent, sondern wird unendliche Male wieder existieren. Dies ist der Mythos der ewigen Wiederkehr, zugleich Objekt der stärksten Bejahung des Willens. Wir werden nicht zur unberührten Reinheit des Nichts zurückkehren ― wir sind Wille zur Macht und werden es immer sein. Daher gibt es in dieser Auffassung keinen Raum für ein Ende der Geschichte: die Politik, die Hierarchien, der Konflikt, zurückgestuft bei Schopenhauer, erscheinen hier als wesentliche Züge.

Der Nietzscheanische Wille gründet die Werte in der Welt. Die Gefahr, die er am Ende des christlichen Zeitalters ausmacht, ist der Nihilismus, der den moralischen Sinn mit judäochristlicher Gesetzgebung identifiziert und daher aus Gottes Tod die Nichtigkeit der Welt ableitet. Angesichts des Nihilismus müssen neue Werte erschaffen werden, und dies im metaphysischen und poetischen Sinn. Erschaffen, nicht entdeckt, nicht abgeleitet. Die Philosophie hat Kunst zu sein. Im philosophischen Gedicht des triumphalen Todes („Letzter Wille“ in Dionysos-Dithyramben) endet der Wille des Freundes nicht mit einem milden „verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, sondern einer kraftvollen Aufforderung.

4.   Der Widerspruch

Es ist möglich, daß Nietzsche seine Philosophie in einem Hauptwerk systematisch darstellen wollte, das er ›Wille zur Macht‹ genannt hätte. In jedem Fall, trotz der posthum veröffentlichten Schrift dieses Namens, konnte der Philosoph nicht über Projekte und Skizzen hinausgelangen. Seine Gesundheit schwankte zwischen Phasen akuter Schmerzen und karger Erholung. Jeder Augenblick relativer Ruhe erschien wie ein glücklicher Waffenstillstand. In diesen Augenblicken konnte er seine Einfälle niederschreiben, über sie nachsinnen, Pläne schmieden. Eine Folge dessen ist der fragmentarische Charakter seines Werks, die Eile, die häufigen Diskrepanzen.

Es könnte auch sein, daß mit Nietzsche, wie Giorgio Locchi dachte, eine epochale Wende eintrat, ein Übergang von zwei egalitaristischen Jahrtausenden zum Suprahumanismus. In diesem Fall stellt sich ein Mythos mit den Ressourcen einer Sprache dar, die einem anderen Logos gehört. Der Diskurs sollte unter diesen Umständen Widersprüche enthalten, die nur in einer späteren Phase aufgehoben werden konnten. Bis dahin wäre die Darstellung dieser Anschauung irrational, eine Systematisierung am Anfang verfrüht oder unmöglich.

Sogar in einer vorsichtigen Anthologie strauchelt eine aufmerksame Lektüre über tatsächliche oder scheinbare Widersprüche. So kritisiert Nietzsche einerseits diejenigen, die nicht nur ihre Abneigung kundtun, sondern auch Gründe anführen. Andererseits gibt er reichlich Gründe für eine Radikalkritik des Judäochristentums an. Widerspricht er sich da nicht selbst?

Die künftige Überlegung wird schon untersuchen, ob es sich wirklich um einen Widerspruch handelt, und wenn ja, ob um einen trivialen oder einen fruchtbaren. Jeder Widerspruch ist falsch, aber wie sollten wir vor Widersprüchen reagieren? Sollen wir sie tilgen und vergessen? Niemand braucht ein Hegelianer zu sein, um die Fruchtbarkeit gewisser Widersprüche zu schätzen. Sogar die Grundlagen der heutigen Mathematik ruhen auf Antinomien, die angenommen und aufgehoben wurden. Das Denken Nietzsches ist auch, nach einer intelligenten Rezeption Schopenhauers, ein Widerspruch zu ihm.

5.  Die Lektüre

Man sagte, die europäische Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Plato und Aristoteles. Mit weniger Übertreibung könnte man behaupten, ein Gutteil der zeitgenössischen Kultur sei eine Ansammlung von Notizen zu Schopenhauer und Nietzsche. Wenige Zeitgenossen wissen, was wir beiden Philosophen verdanken ― gering ist auch die Zahl derer, die wissen, was sie nicht wissen. Viele empfehlen, Nietzsche zu überdenken; meinerseits schlage ich vor, Nietzsche zu lesen.

Plato und Aristoteles

Nietzsches Auslegung ist seit langem eine riesige ›quaestio disputata‹, die sich von der Textkritik bis zur politischen Philosophie erstreckt; das einzige, was fehlt, ist die ›disputatio‹. Durch Überlagerung wächst eine graue Orthodoxie der Entschärfung, die blutrote Ketzereien der Vergangenheit denunziert. Aufschlußreich ist das Werk von Mazzino Montinari, ›Nietzsche lesen‹ (Walter de Gruyter, 1982), besonders das letzte und polemische Kapitel „Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács“.

Solche gelehrte Unternehmungen liefern nützliche Information, aber man sollte nicht mehr erwarten. Letztendlich gilt eine Nietzsche-Exegese nur als Vorbereitungsphase für nietzscheanisches Denken, also für ein Denken, das sich durch Nietzsche verstärkt hat. Wo die Kraft spricht, schweigt die Orthodoxie.◊

Siehe auch:

Elemente zur Aufhebung des Christentums

Empfehlung zur Thematik aus unserem Bücherangebot:

Carlos Dufour, Das Wesen des Systems

 

Dietrich Schuler, Nietzsche, Hitler – Die weitreichenden Folgen. Kreatismus als geistige Revolution.

Pierre Krebs (Hrsg.): Metapo Ausgabe 3 / Sommer 2000

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