Helmut Berschin
Vom Nutzen des Genderns für die gesellschaftliche Spaltung
Was haben die Antifaschistische Aktion (Antifa) und der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) gemeinsam? Beide gendern: Die Antifa seit ihren Anfängen in den 1990er lahren, der KDFB erst seit Ende 2019.
„Sprache wandelt sich“, heißt es. Das stimmt, aber dieser Wandel tritt mit sehr verschiedener Geschwindigkeit auf: Neue Wörter – man denke an den aktuellen Corona-Wortschatz – verbreiten sich schnell, grammatische Strukturen hingegen bleiben für Muttersprachler im Wesentlichen lebenslang konstant. Die Grammatik des Deutschen bei Goethe unterscheidet sich nur in kleinen Details von der heutigen.
Beim Gendern handelt es sich um ein – seit den 1980er Jahren diskutiertes – grammatisches Problem, das sich hauptsächlich bei der Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Personengruppen stellt. Hier zu erwarten, man könne im allgemeinen Sprachgebrauch das im grammatischen System der deutschen Sprache seit Jahrhunderten verankerte generische Maskulinum (die Lehrer) systematisch durch andere Formen ersetzen – Lehrer und Lehrerinnen (Paarform) oder graphische Neuerungen wie Lehrerinnen, Lehrer_innen, Lehrerinnen, Lehrerinnen ist eine Illusion.
Deshalb hat sich auch in den letzten vier Jahrzehnten die Funktion des Genderns verändert: Stand es zunächst im Dienste des Sprachfeminismus, wurde es nach dessen Schei tern zur „Frage der Moral“ erklärt und dient heute als politisches Gesinnungsymbol, vor allem im „Kampf gegen Rechts“.
Männersprache Deutsch
In der Anfangszeit der Genderdiskussion ging es darum, „Deutsch als Männersprache“ – so der Titel eines 1984 erschienenen Buches von Luise F. Pusch (geb. 1944) – zu entlarven und frauengerecht umzugestalten. Pusch – im Rückblick „die Päpstin der feministischen Sprachkritik“ (Emma 2/2021, S. 78) – fand allerdings damals wissenschaftlich keine Zustimmung: Ihre These, die deutsche Grammatik, konkret: das Genus-System, benachteilige die Frauen – aktuelle Fassung: „Unsere Grammatik widerspricht dem Grundgesetz“ (SZ- Magazin 52/2020) –, galt als „abwegig“, und Pusch konnte nach ihrer Habilitation keine akademische Karriere machen. In ihrer Habilitationsschrift „Kontrastive Untersuchungen zum italienischen ,gerundiol“ (Tübingen 1980) benutzte sie übrigens das „männersprachliche“ generische Maskulinum noch ganz selbstverständlich, und zwar nicht nur für gemischtgeschlechtliche Personengruppen wie „italienische, englische und dänische Deutschlehrer“, sondern auch in Bezug auf sich: selbst „[meine] eigene Erfahrung als Deutschlehrer“ (S. 90).
Der Sprachfeminismus breitete sich bis zur Jahrtausendwende als Gruppensprache aus und hatte eine Anhängerschaft, die öffentlich, vor allem im Bildungs- und Kulturbereich, eine gewisse Präsenz zeigte. Der kommunikative Durchbruch gelang aber nicht: Die Masse der rund 100 Millionen deutschen Muttersprachler hatte mit dem „Gendern“ – das Wort kommt Anfang der 2000er Jahre in Gebrauch – nichts im Sinn, wusste nicht einmal, was das ist.
Moralisches Deutsch
Der feministische Ansatz erwies sich als zu eng, um das Gendern zu begründen, zumal nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. Oktober 2017, das die binäre Geschlechtszuordnung aufhob und zur standesamtlichen Einführung eines dritten Geschlechts („divers“) führte.
Einen breiteren Argumentationsrahmen für das Gendern bot die „Moral“: 2018 veröffentlichte der Anglist Anatol Stefanowitsch (geb. 1970) eine Streitschrift mit dem Titel „Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“. Unter „politisch korrekt“ versteht er, abwertende Bezeichnungen für Personen(gruppen) zu vermeiden, und dazu gehören auch die Frauen, die durch das generische Maskulinum „systematisch verdeckt“ würden und „die Bürde [haben], ständig darüber nachzudenken, ob sie im konkreten Fall mitgemeint sind oder nicht“ (S. 36).
Stefanowitsch war nicht immer so mitfühlend: Ein Jahrzehnt vorher hatte er in einem wissenschaftlichen Aufsatz Forscherinnen ganz einfach zu den „Forschern“ gezählt: „[Bei] der eklektischen Sammlung von Daten, bei der der [Sprach]Forscher sich passend erscheinende Daten einzeln aus Texten zusammensucht, gibt es keine Garantie, dass der Forscher auf die relevanten Daten stößt.“
Nun sind moralische Fragen wissenschaftlich nicht entscheidbar. Moralische Regeln gelten auch unabhängig davon, ob sie befolgt werden. Daß die Masse der Deutschsprecher beim Gendern nicht mitmacht, müsse dessen Aktivisten also nicht stören, im Gegenteil: Gendern wird zum politischen Gesinnungssymbol, um zu signalisieren, daß er oder sie „dabei“ ist.
Genderdeutsch als Politikum
Die Genderdiskussion hatte von Anfang an auch eine politische Ausrichtung: Es ging darum, das staatlich kontrollierbare Sprachhandeln (Stellenanzeigen, Verordnungen, behördliche Mitteilungen u. ä.) „geschlechtergerecht“ umzuformulieren und so ein Vorbild für den allgemeinen Sprachgebrauch zu schaffen. Ersteres ist in gewissem Umfang gelungen, letzteres gescheitert, weil das Behördendeutsch als „Sondersprache“ gilt und keineswegs als Modell für „guten“ Sprachgebrauch.
Richtig „politisch“ wird das Gendern erst, wenn es zur Unterscheidung von „Freund“ und „Feind“ dient. Eine Anleitung hierzu lieferte vor kurzem Henning Lobin in seinem Buch „Sprachkampf. Wie die neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert“ (Berlin 2021).
Lobin, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, der weltweit größten germanistischen Forschungseinrichtung (Jahresetat: ca. 15 Millionen €), gibt eine einfache Botschaft: Wer gegen Gendern ist, gehört zur Neuen Rechten (AfD u. Ä.). Gendern bildet also ein sprachpolitisches Bollwerk gegen Rechts – und dieser gemeinsame Feind kann auch Antifa und katholische Frauen verbinden.
Ehrlicherweise erkennt Lobin allerdings an, daß ansonsten das Gendern nutzlos ist: „Es ist sehr wahrscheinlich, daß die sprachliche Differenzierung von Frauen und Männern kaum direkte Auswirkungen auf Gleichstellungsbemühungen in konkreten Bereichen, etwa im Beruf, besitzt.“ (S. 142)
… die moralische Wirkung ist eine ungeheure
Das Gendern verfehlt also sein ursprüngliches Ziel, nämlich die soziale Gleichstellung der Frauen (zum Beispiel bei der Rente) zu fördern. Trotzdem wurde und wird weiter gegendert, ganz nach dem Motto der altösterreichischen Feldartillerie: „Trifft’s, is guad; trifft’s ned, dann ist die moralische Wirkung eine ungeheure“.
Diese „moralische“ Wirkung des Genderns hat sich seit Anfang 2020, mit der Corona-Zeit, enorm verstärkt; im September schrieb der Genderist Stefanowitsch erstaunt: „Daß es die gesprochene Version des Gendersternchens […] in Talkshows und Nachrichtensendungen schaffen würde, hätte vor einem Jahr niemand vermutet“.
Vor Corona genderten außerhalb des Milieus der Gläubigen nur die öffentliche Verwaltung, Hochschulen und staatlich subventionierte Kultureinrichtungen. Nun sind es auch Lufthansa, Deutsche Bahn, der Rechtschreib-DUDEN (28. Aufl., 2020), überregionale Zeitungen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der das Gendern sogar hörbar macht: durch eine kurze Pause vor der Endung -innen, die aber im Sprechfluß vieler Moderatoren verloren geht, so daß gegendertes Lehrerinnen (= männliche + weibliche + diverse Lehrer) genauso klingt wie Lehrerinnen (= weibliche Lehrer).
Aber was solls? Es geht hier um moralische „Haltung“, nicht um kommunikative Klarheit. Deshalb wird in den meisten Medien auch nicht systematisch gegendert (das wäre sprachlich zu kompliziert) und das generische Maskulinum durchaus weiter verwendet. Es genügt schon, ab und zu eine gegenderte Formulierung einfließen zu lassen, um seinen guten Willen zu zeigen.
Wer dieses „Heil Gender!“ in der öffentlichen Kommunikation verweigert, muß heutzutage – ähnlich wie die „Süddeutsche Zeitung“ (5. 8. 2021) für Corona-Ungeimpfte ankündigt – „mit Härten rechnen“. Gendern lohnt sich also –, nicht nur für einige tausend hauptamtliche Frauen-/Gleichstellungs-/ Gender- und Diversitätsbeauftragte, sondern auch für die viel größere Anzahl der „Mitläufer“.
Über den Autor: Helmus Berschin, geb. 1940 in Augsburg, ist Sprachwissenschaftler, er war zuletzt ordentlicher Professor für Romanische Philologie an der Universität Gießen. Von seinen Schriften gilt ›Die spanische Sprache‹ (1. Auflage 1987) inzwischen als Standardwerk. Er wurde mit der Dissertation ›Präteritum- und Perfektgebrauch‹ 1974 promoviert und habilitierte im Jahre 1981 ebenfalls am Institut für Romanistik an der Universität Regensburg.
Quelle: Wiener Sprachblätter, Vierteljahresschrift für Sprachkultur, 71.Jahrgang, Heft 4