Guillaume Faye

Auszug aus dem Buch

›Mut zur Identität‹

 

Erkennt man das faustische Vermögen zur Behauptung des menschlichen Ego als treibende Kraft der Geschichte an, so begreift man auch, daß der Surhumanismus gegenüber der Zeitlichkeit und ihrem offenbaren Determinismus zu einem Zustand der Freiheit, ja sogar der Befreiung gelangen kann.

Dem faustischen und surhumanistischen Bewußtsein erscheint die Vergangenheit nämlich niemals als abgeschafft. Dieser Geschichtsauffassung zufolge ist die Macht der Tradition unzerstörbar. Sie kann jederzeit wiederauftauchen, selbst Jahrhunderte nach ihrem scheinbaren Tod. Gleich dem Gedächtnis, dem Alptraum oder dem bezaubernden Traum, der einen erneut verfolgt, obwohl er sie in Vergessenheit geraten zu sein glaubte, bleibt die Tradition, diese unerschöpfliche Zuflucht, ewig gegenwärtig, ewig gründend, bleibt eine latente Macht mitten im Realen, mitten in der Schwäche der Gegenwart, die vorüber- und vergeht.

Darum müssen wir, wie die Wechselfälle des heutigen kranken Europa auch sein mögen, unsere uralten Traditionen, vor allem die stärksten unter ihnen bewahren; diejenigen nämlich, die uns eigentümlich sind und die uns niemand wird entreißen können, z. B. den imperialen Mythos, die griechischen Dichter und Philosophen, die Denkmäler der Literatur und der Architektur, die unsere Vorfahren errichteten, damit sie eines – heute eingetroffenen – Tages als Inspiration, als Zuflucht in einer Zeit der Not fungieren können. Exegi monumentum aere perenius, schrieb Vergil.

Josef Thorak, Arbeit

 

Werden wir uns dessen bewußt, daß in diesem 20. Jahrhundert die ,Progressisten‘ und die ‚Revolutionäre’, die Anbeter der Gegenwart und zugleich Bestatter der Vergangenheit, die senilste, die kälteste, die am wenigsten abenteuerliche Zivilisation der Geschichte hervorbrachten, die Zivilisation der weltweiten Verspießbürgerlichung und des Rückwärts-Eintritts in die Zukunft!

Trotz ihrer pathologischen technologischen Vibration, trotz ihres fieberhaften Strebens nach Mikroneuerungen schafft diese Zivilisation nichts Historisches. Um zu schaffen, muß man konservativ sein: Wer tatsächlich am Hergebrachten hängt, verfügt nämlich über eine dreidimensionale Anschauung der Zeit, stützt sich auf eine Vergangenheit, auf eine Tradition, die für ihn stets gegenwärtig und lebendig ist und die er nunmehr in die Zukunft projizieren kann.

Der Progressist kann nichts gründen und nichts schaffen, da er die Vergangenheit und die Tradition als tot und abgeschafft betrachtet: er stützt sich auf Sand, auf das Trugbild; und dieses Trugbild besteht darin, auf der reinen Gegenwart, d. h. auf dem Vergänglichen selbst, zu bauen.

Der progressistische Revolutionär – ob Marxist, Sozialdemokrat, Utopist der Menschenrechte, Monomane der informatischen Planetisierung (Mac Luhans Mythos des ‚globalen Dorfes’) – geht von einem Nullpunkt der Geschichte (,Jetzt’) aus, ab dem alles möglich ist, wenn man die Erfahrung der Vergangenheit sowie die dort gespeicherten Kräfte außer acht läßt.

Von einem solchen Nullpunkt auszugehen heißt, aber sich dazu verurteilen, in die Null auszulaufen, heißt, sich zur Erstarrung der Geschichte verurteilen, wie das Schicksal dieser Welt seit 1945 es zur Genüge zeigt, wo der Status quo, die allgemeine Ernüchterung über den Fortschritt und die Pleite der großen universalistischen Ideale den Hintergrund für die Gleichgültigkeit und die Willenlosigkeit unserer Zeitgenossen abgibt – trotz der Fortschritte einer sinnlos werdenden Technik.

Der Revolutionär-Konservative bleibt in der Geschichte, und seine Tätigkeit bleibt dadurch zukunftsgründend, zukunftsoffen. Der Progressist, der das Ende der Geschichte will und daran glaubt, stimmt dagegen mit dem reaktionären Traditionalisten in der Wahl der Erstarrung überein, da die Vergangenheit für ihn lediglich auch eine Leiche ist, nur eben eine, die man mumifiziert.

Sofern die Modernität des Okzidents sich als Sackgasse herausstellte, werden nur der Vergangenheitsschock, der Rückgriff auf die Vergangenheit, Europa eine abenteuerliche Zukunft schenken – vorausgesetzt, daß diese ,Vergangenheit‘ nicht die des Judäo-Christentums und seines Humanitarismus ist, sondern die Reaktivierung jener ‚anderen Vergangenheit’ Europas, die Nietzsche als erster voll ins Bewußtsein zu heben versuchte.

Im Lichte dieser anderen Vergangenheit (der paganisch-ghibellinischen Vergangenheit, die unsere gesamte Geschichte durchzieht und sogar mitten in den sogenannten ‚katholischen’ Institutionen wirkte) muß die moderne Technik überdacht werden. Diese Technik, deren Nonsens heute allen offenkundig ist (weil sie nur von der Ideologie des individualistischen Wohlstands, von dem ‚humanitaristischen’ Projekt einer Domestizierung der Gattung angetrieben wird), wird ihren Sinn wiederfinden, wenn sie jener von Nietzsche erkannten Forderung unterworfen wird: jener nach Herrschaft des aufgeklärten Willens-zur-Macht der schöpferischen Persönlichkeiten, die Nietzsche „Aristokratie“ nennt.

Beitragsbild: Der Schicksalsbrunnen ist ein Brunnen im Oberen Schloßgarten in Stuttgart. Er wurde 1914 vom Bildhauer Karl Donndorf (1870–1941) im Jugendstil gestaltet und gilt als einer der bedeutendsten Brunnen dieser Stilrichtung in Deutschland.