Antworten auf den Fragebogen der Nietzsche-Akademie von Robert Steuckers, belgischer Essayist, geboren 1956, ehemaliger Mitglied von GRECE und der „Neuen Rechten“, Autor von zwei Bänden über La révolution conservatrice allemande (Die (deutsche) konservative Revolution), erschienen bei  ›Editions du Lore‹.

 

Nietzsche Akademie: Welche Bedeutung hat Nietzsche für Sie?

Robert Steuckers: Nietzsche kündigte die Umwertung der Werte an, d. h. die Abkehr und Überwindung von Werten, die sich im Laufe der Jahrhunderte so sehr versteinert hatten, daß sie zu den Lasten wurden, die das Kamel in der Fabel von ›Zarathustra‹ trug.

Die Europäer brauchten etwa zweieinhalb Jahrhunderte, um sich von den alten Wertetafeln zu lösen: Und dieser Prozeß ist keineswegs abgeschlossen, denn die Reste dieser falschen Werte, die sich der Umwertung widersetzen, kommen immer wieder zum Vorschein, manchmal mit einer ebenso zerstörerischen wie unfruchtbaren Wut, wie der „Festivismus“ und die „politische Korrektheit“ belegen.

Es gibt noch viel zu tun! Vor Nietzsches Hammerschlägen standen die Versteinerer jedoch den Resten der antiken Werte gegenüber, den Werten der axialen Perioden der Geschichte, die ihren Machenschaften eine hartnäckige Resilienz entgegensetzten, obwohl die Versteinerer an der Macht waren, verbündet mit den Resignierten von gestern, die ihre ethischen Ansprüche, ihre stilistischen Ansprüche allmählich aufgaben, wie der Verfall der Katholiken (und Protestanten) zu Christdemokraten und der Christdemokraten zu sogenannten „Humanisten“ perfekt zeigt.

In der Zeit von Baudelaire und Nietzsche etablierte sich ein von der Wirtschaft und den Finanzen beherrschtes System, das kreative Werte aus dem Wirkungsbereich, aus dem Leben der meisten Menschen, verbannte und sie zu „menschlichem, allzu menschlichem“ Material degradierte.

Dieses System ist immer noch in Kraft und wird unseren armen Zeitgenossen, die leider „menschlich, allzu menschlich“ sind, in verschiedenen Masken verkauft: Nietzsche lehrt uns, diese Masken herunterzureißen und den versteinernden Plan zu entlarven, der sich hinter den schönen eudämonistischen Reden oder den politisch-messianischen Versprechungen verbirgt. Nietzsche ist also ein Meister, der uns vielfältige Strategien lehrt, um uns aus den Versteinerungen des Systems herauszuziehen.

 

Nietzsche Akademie: Was bedeutet es, Nietzscheaner zu sein?

Robert Steuckers: Es bedeutet zunächst und vor allem, die Fälschungen zu bekämpfen, die eingesetzt werden, um den Plänen der niederen Wesen zum Sieg zu verhelfen, derer, die versteinern, wie ich gerade sagte, die aber aus dieser Versteinerung ihre Macht ziehen, sie festigen und verewigen auf Kosten der Schönheit und der Leichtigkeit, der apollinischen Harmonie und des dionysischen Rausches.

Baudrillard sprach von einem fettleibigen System; die Architektur, die das herrschende System bevorzugt, ist von namenloser Häßlichkeit; die Wiederholung der „politisch korrekten“ Phrasen ist von einer Schwere, die einen schaudern läßt. Der allzu menschliche Mensch verkümmert in einer endlosen Depression, da er nicht einmal kleine, originelle Dinge erschaffen darf, denn alles muß nun serialisiert werden.

Nietzscheaner zu sein bedeutet, gegen alles, was man uns vorsetzt, die wahre Leichtigkeit der Seele, das fröhliche Wissen, die ständige Schönheit unserer Umgebung, die herrliche Vielfalt der Welt, die durch die aquiline Perspektive erreicht wird, zu wollen, eben die des Nietzscheaners, der wie ein Adler hoch über den stumpfsinnigen Kontingenzen des Systems fliegt und die Dinge aus jedwedem Blickwinkel betrachten kann.

 

Nietzsche Akademie: Welches Buch von Nietzsche würden Sie empfehlen?

Robert Steuckers: Ich empfehle vor allem ›Die Genealogie der Moral‹ und ›Der Antichrist‹, weil gerade diese beiden Bücher uns lehren, die Masken der Versteinerer abzureißen.

 

Nietzsche Akademie: Ist der „Nietzscheanismus“ rechts oder links?

Robert Steuckers: Da der Nietzscheanismus im 19. Jahrhundert die Wertetafeln umstoßen wollte, wurde er zunächst zum Markenzeichen von linken Revolutionären, Anarchisten aller Art, (manchmal etwas verrückten) Künstlern und Feministinnen.

Ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts versteinerte die deutsche Linke ihrerseits, wie ein kämpferischer und streitbarer Sozialdemokrat (innerhalb seines eigenen politischen Haifischbeckens) wie Roberto Michels beklagte und geißelte (der von der Bildung in sich geschlossener Oligarchien sprach, die aus den von „Bonzen“ geführten Parteibürokratien hervorgingen).

Das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg war für die deutschen Sozialisten die Zeit einer fortschreitenden Ent-Nietzscheanisierung, da die Bonzen Nietzsches Kühnheit nicht ertragen konnten, vor allem die Kühnheit, den Heuchlern die Masken herunterzureißen und sich gegenüber überholten Konventionen zu behaupten. Genau in dieser Zeit kommt es zu einem Rechtsruck des Nietzscheanismus.

Wie ich in meinem ersten Band über die Galionsfiguren der (deutschen) konservativen Revolution nachgewiesen habe, festigten die Sozialisten in Österreich bis 1914 ihre Positionen auf dem politischen Schachbrett des Habsburgerreichs, weil sie sich von Wagner, Schopenhauer und Nietzsche inspirieren ließen.

Man kann auch argumentieren, daß ein italienischer Sozialist mit dem Vornamen Benito vor 1914 ein politischer Aktivist war, dessen philosophische Inspirationen sicherlich von Hegel und Marx, aber auch von Bergson und Nietzsche stammten. Er verließ die italienische sozialistische Partei, die sich auf dem Weg zur ideologischen Erstarrung befand.

Später tat es ihm der spätere Kommunist Gramsci gleich, indem er das “sozialistische Barnum” anprangerte. Man kann den Heuchlern im Namen einer linken Revolution ebenso die Maske vom Gesicht reißen wie im Namen einer rechten Revolution oder Restauration.

 

Nietzsche Akademie: Welche Autoren sind Ihrer Meinung nach Nietzscheaner?

Robert Steuckers: Die Wirkung von Nietzsches Denken ist immens und hat sich auf allen Ebenen der Künste und der Literatur in Europa ausgebreitet. Aus rein didaktischen Gründen beziehe ich mich in der Regel auf die von Professor René-Marill Albérès geprägten Kategorien, für den mehrere Stränge in der europäischen Literatur Nietzsches Handschrift tragen:

1. die antiintellektualistische Ader, die in sehr unterschiedlichen Formen Nietzsches Feindseligkeit gegenüber dem Sokratismus und jedem austrocknenden Intellektualismus aufgreift, eine Feindseligkeit, die manchmal als seine „Misologie“ bezeichnet wurde (seine Ablehnung von erstarrenden Logiken und Gründen);

2. die sogenannte Ader der „Zerrissenheit und Aktion“, die den 1930er und 1940er Jahren eigen war und die die Abenteuerlust umfaßte, bei der die kühne Existenz einen höheren Stellenwert einnahm als das Wesen, das – oft zu Unrecht – als starr und unveränderlich wahrgenommen wurde.

Nietzsche hat versteinerte Gewißheiten aufgebrochen: Die Menschen haben sich auf die Suche nach etwas anderem begeben, indem sie experimentierten, sich opferten und manchmal das nicht Wiedergutzumachende taten: Sie waren a-sokratisch, nicht ratiokinierend, voller Elan oder tragisch zerrissen.

Ich glaube nicht, daß es vollständig nietzscheanische Autoren gibt, nur Autoren, die von dem einen oder anderen Aspekt des „philosophischen Kontinents“ Nietzsche geprägt sind. Nur Nietzsche ist vollständig nietzscheanisch: Jeder, so sagte er, ist seine eigene Idiosynkrasie. Er ist sicherlich keine Ausnahme von dieser Regel!

Kommen wir auf den Begriff des „Nietzscheanischen Kontinents“ zurück: Der Ausdruck stammt von Bernard Edelman, dem Autor von ›Nietzsche – Un continent perdu‹ [Nietzsche – ein verlorener Kontinent] (1999) an der ›Presses universitaires de France‹ (PUF).

Das nietzscheanische Werk hat tatsächlich kontinentale Ausmaße, aus denen man nach Herzenslust schöpfen kann, ohne jemals damit fertig zu werden, ohne diese Fülle jemals in eine allzu enge „Umzäunung“ zu sperren.

 

Nietzsche Akademie: Könnten Sie eine Definition des Übermenschen geben?

Robert Steuckers: Die Sokratismen (christianisiert oder nicht), das schlechte Gewissen, auf das die manipulativen Ideologien setzen,  lassen nur den Menschen, allzu menschlich, oder den Menschen, der von all den Vektoren der Morbidität, die in der westlichen Geschichte gewirkt haben, domestiziert wurde (der „Typ“), gelten.

Der Übermensch ist also derjenige, der sich bemüht, diese allgemeine Morbidität durch die Wirkung seines Willens zur Macht zu überwinden, was ihm möglicherweise gelingt, und auf diese Weise die Herrschaft der „großen Männer“ einleitet, Mutanten, die die Morbiditäten ablegen, welche zum Merkmal der „typisierten“ menschlichen Spezies geworden sind.

 

Nietzsche Akademie: Ihr Lieblingszitat von Nietzsche?

Robert Steuckers: Das ist kein Zitat, sondern ein Gedicht mit dem Titel ›Ecce homo‹:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!

Ungesättigt gleich der Flamme

Glühe und verzehr ich mich.

Licht wird alles, was ich fasse,

Kohle alles, was ich lasse:

Flamme bin ich sicherlich.

 

Bildquelle: https://www.zacharyfruhling.com

 

Quelle: https://www.terreetpeuple.com/philosophie-reflexion-72/7907-reponses-au-questionnaire-de-la-nietzsche-academie-de-robert-steuckers.html
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