Alain de Benoist
erörtert die Hintergründe der Unruhen in Frankreich. Frankreichs Besonderheiten, die seit langem bestehende Masseneinwanderung, eine Kultur der Verleugnung, die Verdunkelung ethnischer Realitäten und der Individualismus – all das hat mehr als anderswo die Flammen angefacht.
Dieses Interview erschien zuerst in Italien in der Zeitschrift ›Il Giornale‹.
Il Giornale: Die Proteste dieser Tage zeugen vom Scheitern des Multikulturalismus. Wie sind wir an diesen Punkt gekommen?
Alain de Benoist: Sie zeigen in der Tat das Scheitern des Multikulturalismus, aber es wäre zu einfach, sich darauf zu beschränken. Die gewalttätigen Ausschreitungen in den Städten, die wir derzeit erleben, spiegeln auch ein Land wider, das gespalten und zersplittert ist, und zwar nicht wegen der Einwanderer, sondern aufgrund einer vorherrschenden Ideologie, die in der Bevölkerung moralische Regeln durch das Gesetz des Profits ersetzt hat. In einer Gesellschaft, die von Marktwerten beherrscht wird, die von Natur aus die Voraussetzungen für soziale Zersplitterung und Trennung schaffen, ist es nicht überraschend, daß sich niemand um das Gemeinwohl kümmert.
Die ›Linke‹ sieht in diesen Unruhen vor allem eine soziale Revolte (gegen Diskriminierung, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit usw.), während die ›Rechte‹ von einer ethnischen Rebellion spricht, die auf einen möglichen Bürgerkrieg hindeutet. Beide Interpretationen haben einen gewissen Wahrheitsgehalt, doch sind sie beide kurzsichtig. Seit vierzig Jahren werden Dutzende von Milliarden Euro in die „Stadtpolitik“ und die Sanierung „schwieriger Stadtviertel“ gesteckt, ohne greifbare Ergebnisse. Andererseits ist der städtische Guerillakrieg kein Bürgerkrieg. In einem Bürgerkrieg stehen sich zwei bewaffnete Bevölkerungsgruppen gegenüber, wobei Polizei und Armee ebenfalls gespalten sind, was hier nicht der Fall ist.
Im großen und ganzen erweisen sich rein politische Interpretationen als untauglich, um das Problem vollständig zu erfassen. Die gegenwärtigen Unruhen in den Städten haben keinen politischen Charakter. Die Krawallmacher erheben keine Forderungen. Sie wollen lediglich zerstören und plündern. Wenn Vertreter der ›Linken‹ oder der ›extremen Linken‹ die Siedlungen besuchen, um zum Ausdruck zu bringen, daß sie die Wut der Randalierer „verstehen“, werden sie vertrieben oder ins Gesicht gespuckt!
Il Giornale: Inwieweit beeinflußt die Krise der französischen und europäischen Identität die Proteste?
Alain de Benoist: Die französische Bevölkerung hat heute jegliches Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verloren. Die Krawallmacher haben eine – oder glauben, eine zu haben. Die Krise der französischen Identität hat tiefe Wurzeln. Sie ist das Ergebnis der Dominanz einer individualistischen und universalistischen Ideologie, die davon ausgeht, daß die Menschen überall gleich sind und daß ethnokulturelle Faktoren keine Rolle spielen. Keine Gesellschaft kann ihre Probleme allein durch legale Verträge und kommerziellen Austausch lösen.
Il Giornale: Wird der französische Staat in Frage gestellt, weil viele Einwanderer die Autorität der französischen Institutionen nicht anerkennen?
Alain de Benoist: Den Krawallmachern geht es nicht um den französischen Staat, er ist ihnen gleichgültig. Wenn sie die Polizei mit Feuerwerkskörpern angreifen oder Rathäuser oder Feuerwachen in Brand setzen, dann weniger, weil sie sie als Vertreter der Autorität betrachten, sondern vielmehr, weil sie sie als Eindringlinge betrachten. Sie denken in Bezug auf das Territorium (die „unsichtbare Grenze“), in reinem Stammesdenken. Sie nehmen Schulen, Buchläden, Lebensmittelgeschäfte, Boutiquen und Autos gleichermaßen ins Visier. Sie sehen sich selbst als eine Bande, die von einer rivalisierenden Bande angegriffen wird.
Es wäre ein weiterer Fehler zu glauben, daß die Randalierer keine Regeln wollen. Im Gegenteil, es gibt Regeln, an die sie sich sehr wohl halten: ihre eigenen! Die meisten von ihnen kommen aus Kulturen und familiären Gesellschaften mit Clan-Charakter, und sie verhalten sich weiterhin wie in einem Clan. Wenn einer von ihnen Opfer von „Polizeigewalt“ wird, fühlen sie sich alle als Opfer. Das ist es, was die in ihrer Ideologie gefangenen Behörden nicht begreifen: Die Mutter eines Kindes, das nach einem bewaffneten Angriff getötet wurde, wird niemals sagen, daß ihr Sohn sich falsch verhalten hat. Sie wird sagen, daß der gesamte Clan durch ihn angegriffen wurde. Das ist das eigentliche Prinzip des Stammeswesens: Meine Verwandten haben immer recht, einfach weil sie zu mir gehören.
Il Giornale: Warum sind die zweite und dritte Generation radikaler als die vorherige?
Alain de Benoist: Sie sind stärker radikalisiert, weil sie unter einem viel ausgeprägteren Identitätsdefizit leiden. Solche Unruhen werden nie von Einwanderern der ersten Generation angezettelt, die sich freiwillig in Frankreich niedergelassen haben und sich ihrer Herkunft und damit ihrer Identität bewußt sind. Die zweite, dritte oder vierte Generation sieht sich als Algerier, Malier, Marokkaner, Senegalesen usw., auch wenn sie die französische Staatsangehörigkeit besitzt, aber sie weiß fast nichts über die Länder, aus denen ihre Eltern oder Großeltern kamen. Sie fühlen sich nicht als Franzosen, sondern haben nur eine behelfsmäßige oder eingebildete Ersatzidentität. Ihre Frustration ist vollkommen. Sie können nur durch Gewalt und Zerstörung ausdrücken, wer sie sind.
Il Giornale: Hat das französische Justizsystem, dem oft vorgeworfen wird, gegenüber straffällig gewordenen Einwanderern zu nachsichtig zu sein, in diesem Zusammenhang Ihrer Meinung nach eine Rolle gespielt?
Alain de Benoist: Die Nachsicht des Justizsystems ist sehr real. Die Randalierer sind sich sehr wohl bewußt, daß sie im Grunde genommen kaum ein Risiko eingehen, da das Gesetz nicht durchgesetzt wird. Die Nichteinhaltung von Gesetzen in Verbindung mit der Flucht vor der Verhaftung kann theoretisch bis zu zehn Jahre Gefängnis bedeuten, aber solche Strafen sind noch nie verhängt worden. Außerdem gibt es keinen Platz mehr in den Gefängnissen! Dies trägt zur Demoralisierung der Polizei bei.
Il Giornale: Im Jahr 2005 gab es in Frankreich schwere Proteste. Was hat sich im Vergleich zu der Situation von vor fast zwanzig Jahren geändert? Hat sich die Lage verschlimmert?
Alain de Benoist: Zwischen 2005 und 2023 gibt es Unterschiede. Das größere Ausmaß der Unruhen, die in fünf Tagen bereits mehr Schaden angerichtet haben als die von 2005, die drei Wochen dauerten, läßt sich zunächst auf die einfache Tatsache zurückführen, daß die Migrantenpopulationen, aus denen die Randalierer stammen, heute viel größer sind. Auch die inzwischen vorherrschende Rolle der sozialen Medien sollte berücksichtigt werden. Im Jahr 2005 konzentrierten sich die Krawalle auf die Großstädte, jetzt sind auch kleinere Städte betroffen. Die Randalierer sind auch viel jünger (ein Drittel der Festgenommenen ist zwischen 13 und 15 Jahre alt und war der Polizei unbekannt) und viel gewalttätiger. In diesen Gebieten hat sich eine Kultur der rücksichtslosen Gewalt entwickelt: Gewalt wird nicht nur bei Diebstählen angewandt, sondern auch wegen eines „bösen Blicks“, der Verweigerung einer Zigarette oder einfach ohne Grund – nur zum Vergnügen. Und die Dinge eskalieren schnell: Angreifer schlagen auf einen bereits am Boden liegenden Menschen ein und zögern nicht, ihn zu töten. Laut einer INSEE-Studie kommt es in Frankreich alle 44 Sekunden zu einem grundlosen Übergriff…
Il Giornale: Das Einwanderungsproblem betrifft nicht nur Frankreich, sondern auch andere große europäische Länder wie Deutschland, wo es jedoch nie zu Phänomenen dieses Ausmaßes gekommen ist. Was hat im französischen Einwanderungsmodell nicht funktioniert?
Alain de Benoist: Genau das ist der Beweis dafür, daß Multikulturalismus allein nicht ausreicht, um die Unruhen zu erklären. Die Besonderheit Frankreichs besteht darin, daß es eine Vorreiterrolle bei der Einwanderungspolitik gespielt hat: Das Problem bestand hier bereits, während die Einwanderung in Ländern wie Italien, Deutschland, Spanien oder dem Vereinigten Königreich erst am Anfang stand. Hinzu kommt, daß die Einwanderung in Frankreich nach wie vor mit der Erinnerung an die Kolonialzeit verbunden ist, was zu Ressentiments geführt hat, die bis heute nicht abgeklungen sind. Schließlich ist nicht auszuschließen, daß bestimmte Techniken zur Kontrolle von Menschenansammlungen, die sich in anderen Ländern bewährt haben, von der französischen Polizei nicht immer angewandt werden. Die Art und Weise, wie die Probleme jahrzehntelang schonungslos geleugnet wurden, hat durchaus explosive Folgen.
Il Giornale: Werden die jüngsten Proteste auch politische Folgen im Hinblick auf die Europawahlen im nächsten Jahr haben, indem sie die ›Rechte‹ stärken?
Alain de Benoist: Ja, das ist offensichtlich. Umwälzungen wie die, die wir derzeit erleben, öffnen die Augen. Die ›Rallye Nationale‹ (Rassemblement National) ist bereits zur führenden Partei Frankreichs geworden, und Umfragen sagen ihr den Sieg bei den kommenden Europawahlen voraus. Die französische Öffentlichkeit hat die Nase voll. Sie sehen, daß die Regierung mit den Geschehnissen völlig überfordert ist. Eine Mehrheit der Franzosen wünscht sich ein Eingreifen der Armee in den Vorstädten. Emmanuel Macron wird kritisiert, weil er nicht wie 2005 den Notstand ausgerufen hat. Das wichtigste Symbol ist der unglaubliche Erfolg der Spendensammlung, die in den sozialen Medien gestartet wurde, um die Familie des Polizisten zu unterstützen, der für die Schüsse verantwortlich war, die die Unruhen auslösten: In weniger als vier Tagen kamen mehr als anderthalb Millionen Euro zusammen (bevor sie geschlossen wurde)! Das hat es noch nie gegeben.
Il Giornale: Ist Frankreich für immer verloren, oder gibt es eine Chance, diese Situation zu beenden?
Alain de Benoist: Man sollte niemals „nie“ sagen! Die alten Länder Europas waren in der Vergangenheit mit viel größeren Herausforderungen konfrontiert und haben sie immer überwunden. Alles, was auftaucht, führt zu einer Gegenreaktion. Die Geschichte ist unvorhersehbar. Sie ist per definitionem das Reich des Unerwarteten.
Il Giornale: Glauben Sie, daß das, was heute in Frankreich passiert, auch in Italien passieren könnte?
Alain de Benoist: Es ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Die Frage ist, ob die italienische Regierung aus dem, was heute jenseits der Alpen geschieht, lernen wird.
Alain de Benoist ist der führende Denker der europäischen „Neuen Rechten“, einer politischen Denkschule, die 1968 in Frankreich mit der Gründung der GRECE (Forschungs- und Studiengruppe für die europäische Zivilisation) ins Leben gerufen wurde. Bis heute ist er ihr wichtigster Vertreter, auch wenn er die Bezeichnung „Neue Rechte“ für sich selbst ablehnt. Als ethnopluralistischer Verfechter der kulturellen Einzigartigkeit und Integrität plädiert er für das Recht der Europäer, ihre Identität angesichts des Multikulturalismus zu bewahren, und wendet sich gegen die Einwanderung, wobei er jedoch die Erhaltung der einheimischen Kulturen der erzwungenen Assimilation der Einwanderergruppen vorzieht.