
Joakim Andersen
Als die Briten das heutige Afghanistan erkundeten, kamen sie mit den Heiden von Nuristan in Kontakt, die kurz darauf gewaltsam zum Islam bekehrt wurden. Zuvor hatten diese Indoeuropäer jedoch bereits ihre Mythen weitergegeben, sodaß vieles, was im fernen Westen in Vergessenheit geraten war, ergänzt werden konnte.
Dies galt unter anderem für die Tiere, die im Weltenbaum Yggdrasil leben und über die in der nordischen Mythologie wenig bekannt ist. Doch nicht nur in Nuristan kann man sein Wissen über die Mythen und die Weltanschauung unserer Vorfahren erweitern. Auch der Kaukasus ist eine lohnende Region. Dort leben viele Völker, manche von ihnen indoeuropäisch, andere nicht. Für Linguisten ist der Kaukasus eine Goldgrube; Professor Dumézil beispielsweise erforschte die ubychische Sprache, bevor sie ausstarb.
Ob Tschetschenen, Osseten, Tscherkessen oder Ubychen – sie alle teilten die Sagen der Narten. Die Narten waren antike Helden oder gar Götter, und viele Geschichten schildern ihre Abenteuer (John Colarusso hat mehrere davon in einer besonders lesenswerten Anthologie mit dem Titel „Nart Sagas” zusammengestellt). In den Narten-Sagas lassen sich viele indoeuropäische Merkmale erkennen, unter anderem finden sich darin Gegenstücke zu Odin und Loki sowie zu Prometheus und dem gotischen Schwertkult. Es gibt zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen griechischen und kaukasischen Sagas, die teilweise mit frühen Kontakten über das Schwarze Meer zusammenhängen.

Tscherkessen
Die Lebensauffassung der Narten wird in einer Sage auf den Punkt gebracht, in der sie die Wahl haben: Viele zu sein und ein bequemes Leben zu führen oder wenige zu sein, ein kurzes Leben zu führen und ewigen Ruhm zu erlangen. Darauf antworten sie im wesentlichen, daß sie lieber einen Tag als Löwe als hundert Jahre als Schaf leben würden:
Wir wollen nicht wie Vieh sein, wir wollen nicht zahlreich sein, wir wollen in Würde leben.
Die Narten erklären, daß sie großen Ruhm erlangen, nicht von der Wahrheit abweichen, ihren eigenen Weg gehen und in Freiheit leben wollen. Es ist eine Lebensweise, die an unsere Vorfahren erinnert, aber auch an das Motto der frühen Iraner:
Reite, schieße geradeaus und sprich die Wahrheit.
Der Weltenbaum
Interessant ist auch, daß die Nart-Erzählungen eine Parallele zum Weltenbaum Yggdrasil enthalten. In einer tscherkessischen Erzählung begibt sich der Held Tlepsh auf eine Reise. Wie Odin reist er um die Welt, „hin und her” auf der Suche nach Wissen, das den Narten helfen kann. Wie Odin trägt auch er einen Stab und einen Hut, doch Tlepsh ähnelt auch einem Vølundr (Wieland) oder Hephaistos. Schließlich begegnet er einer Gruppe schöner Frauen, die sich als Mägde der Baumfrau herausstellen. Tlepsh wird der Frau vorgestellt; sie entpuppt sich als Baum und Mensch zugleich. Sie ist riesig, von kosmischen Ausmaßen, mit Wurzeln tief in der Unterwelt und Haar, das bis zum Himmel reicht. Die Frau ist wunderschön, Tlepsh sieht Gold und Silber.

Tlepsh
Interessant ist hier nicht zuletzt, daß der Weltenbaum bei den Tscherkessen ausdrücklich weiblich ist, was in den erhaltenen nordischen Quellen nicht der Fall ist (auch wenn die Nornen weiblich sind). Die tscherkessische Unterwelt ist nicht so detailliert beschrieben wie die nordische mit Nidhögg und Mimirs Brunnen, aber die Herrin hat auch Zugang zu verborgenem Wissen.
Unter anderem erzählt sie Tlepsh, daß die Welt keinen Rand hat, was er später auf seinen Wanderungen bestätigt. Die Herrin verliebt sich in Tlepsh, doch er beschließt, seine Reise fortzusetzen und schließlich zu den Narten zurückzukehren. Die Herrin gab ihm daraufhin eine kleine Sonne mit auf den Weg, ein Kind, das ihm helfen wird, bei nächtlichen Streifzügen zu sehen. Hier besteht eine explizite Verbindung zur Milchstraße als kleiner Sonne, auch wenn die Narten das Sonnenkind später vernachlässigen.
Insgesamt stellt es eine faszinierende Parallele zu Yggdrasil, dem Baum unserer Vorfahren dar. Colarusso beschreibt mehrere Beispiele euroasiatischer Baumkulte, darunter die angebliche Fähigkeit Dionysos, die Gestalt eines Baumes anzunehmen, die heiligen Haine der Abchasen und eine Figur mit Merkmalen der Baumfrau, die in einem alten altiranischen Grab in Pazyryk, Sibirien, gefunden wurde.
Die Ähnlichkeiten zwischen Yggdrasil und der tscherkessischen Frau sind zahlreich, darunter die Verbindung zu einer Odin-ähnlichen Figur, verborgenes Wissen und den Baum als Axis Mundi zwischen Unterwelt, Erde und Himmel.
Quelle: https://motpol.nu/oskorei/2017/09/22/det-kaukasiska-yggdrasil/
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