In diesem zum Nachdenken anregenden Interview untersucht Guillaume Faye die philosophischen, spirituellen und politischen Dimensionen des zeitgenössischen Heidentums und bietet eine mutige und ungefilterte Perspektive auf dessen Wiederaufleben in Europa. Er lehnt sowohl den dogmatischen Monotheismus als auch den modernen Nihilismus ab und stellt sich ein Neo-Heidentum vor, das sowohl prometheisch als auch apollinisch ist und in den ewigen Rhythmen der Natur und dem Willen zur Macht verwurzelt ist.

Faye kontrastiert die organische Weltsicht des Heidentums – eine Synthese aus kosmischer Ordnung und dionysischer Vitalität – mit dem Niedergang des Christentums und dem Aufstieg des Islam in Europa und warnt vor drohenden kulturellen und ideologischen Konflikten. Er kritisiert die Säkularisierung des Katholizismus, die Schwäche der modernen westlichen Gesellschaften und die fehlgeleiteten Interpretationen des Heidentums, die kulturelle Auflösung mit spiritueller Wiederbelebung verwechseln.

Unter Berufung auf Nietzsche, Valéry und die antike Mythologie argumentiert er, daß das Heidentum keine Rückkehr in die Vergangenheit ist, sondern eine Bekräftigung zeitloser Prinzipien in einer Welt, die auf das Chaos zusteuert. Mit eindrucksvollen Bildern und provokanten Einsichten fordert er die Erschaffung neuer Götter, das Wiedererwachen des angestammten Gedächtnisses Europas und die Gestaltung einer nachchristlichen, postmodernen Zukunft.
Dieses Gespräch ist zugleich radikal und poetisch, stellt konventionelle Erzählungen in Frage und lädt die Leser ein, das spirituelle Schicksal Europas in einer Zeit des Umbruchs neu zu überdenken.

 

Ares, griechischer Gott des Krieges

 

 

Christopher Gérard: Wer sind Sie?

Guillaume Faye: Es ist mir unmöglich, mich zu definieren. Ich bin auf jeden Fall vielseitig, nicht spezialisiert, eine Art „Polytheist“ in meinem eigenen Leben. Ich habe zwar einen Abschluss von Politikwissenschaft einen Bachelor in Geschichte und Geographie und einen Doktortitel in Politikwissenschaften, aber ich habe meine Diplome nie ernst genommen und sie nie dazu benutzt, um in der bürgerlichen Gesellschaft oder der offiziellen Intelligenzia „erfolgreich“ zu sein. Ich verkaufte Autos von Tür zu Tür, moderierte Comedy-Sendungen im Mainstream-Radio und -TV, schrieb Bücher und Artikel zu allen möglichen Themen, von den „ernsthaftesten“ bis zu den leichtesten. Ich habe in der Werbebranche und bei großen Zeitungen gearbeitet usw. Derzeit schreibe ich Bücher, halte Vorträge in ganz Europa und habe gerade einen sozioökonomischen Newsletter gestartet, dessen Erfolg ich sehr begrüße.

Meine angestammten Wurzeln beschränken sich seit vielen Generationen strikt auf die gallischen „Regionen“ Poitou-Charentes und Limousin, eine glückliche Mischung aus keltischen und römischen Traditionen. Ich wurde im Kultraum des französischen Nationalismus mit bonapartistischer Tendenz erzogen, und das paradoxe Ergebnis war ein europäischer Patriotismus. Mein ursprüngliches soziales Umfeld ist das der Pariser Großbourgeoisie, die ich von innen her genau kenne und deren konformistische und materialistische Ideale ich nie geteilt und auch nie beneidet habe, weil mich der Lebensstil, den sie mir bot, im Grunde genommen nicht interessierte.

Christopher Gérard: Wie sah Ihr intellektueller Werdegang aus?

Guillaume Faye: Ich mag das Wort „intellektuell“ nicht. Erlauben Sie mir diese etwas rohe Bemerkung: Ich war immer der Meinung, dass Intellektuelle für die Intelligenz das sind, was Masturbation für die Liebe ist. Der „Intellektuelle“ ist ein narzisstisches Wesen, ein Erbe der Theologen von Byzanz, das sich in reine (und zu 95 % falsche) Ideen flüchtet, seine Zeit verschwendet und andere dazu bringt, ihre Zeit zu verschwenden. Zu Beginn sollten wir nicht vergessen, daß es sich um einen abwertenden Begriff handelt, der in den 1890er Jahren geprägt wurde und die Klasse der Professoren, Publizisten und Journalisten bezeichnete, die ideologische Dogmen der Realität vorzogen. Nichts ist weniger heidnisch als dieser Begriff „Intellektueller“! Da er eine fatale Kluft zwischen dem Intellekt (Geist) und der lebendigen Seele (Seele).

Mein erster Erwecker war Nietzsche, vor allem ›Die fröhliche Wissenschaft‹‚ und ›Der Antichrist‹, die mein Philosophielehrer mir nahebrachte, als ich bei den Jesuiten in Paris war, einer religiösen Körperschaft, die nur Lippenbekenntnisse zu einer christlichen Erziehung abgab, sich aber wesentlich mehr für den antiken griechisch-lateinischen Humanismus interessierte. Die beiden Quellen meines Heidentums, der Nietzscheanismus und die griechisch-lateinische Kultur, stammen also paradoxerweise von den Jesuiten.

Ich hatte das Glück, ein langes, sehr breitgefächertes Studium zu absolvieren: Alte Sprachen, Politikwissenschaften, Geschichte, Geografie, Philosophie, Wirtschaft, wodurch ich mich nicht spezialisieren musste und ein „Alleskönner“ blieb. Ebenso wurde ich von der Denkweise der marxistischen Strömung beeinflusst, ohne jedoch irgendeine ihrer gesellschaftlichen Optionen oder Utopien zu teilen. Meine Ausbildung war sehr vielfältig und im Grunde genommen sehr unfranzösisch. Descartes, Montaigne, Bergson und Co. haben mich nie inspiriert, ebenso wenig wie Maurras. Ich habe mich immer von der deutschen und angelsächsischen Philosophie angezogen gefühlt: Nietzsche, Hegel, Heidegger, Simmel, Tönnies, Schmitt, Spencer, Lash, etc. Ich war jedoch immer misstrauisch gegenüber als solche proklamierten Wissenschaftlern, ›homines unius libri‹ (Menschen aus einem einzigen Buch) oder Kompilatoren. Ich gehöre keiner theoretischen oder ideologischen Gruppierung an und habe immer versucht, eigenständig zu denken.

Insgesamt haben mich aber nicht so sehr die Bücher beeinflußt, sondern ganz einfach mein Leben. Ich bin weder ein „Gelehrter“ noch ein Anhänger von Zitaten und „intellektuellen Collagen“, die nur von Autodidakten verwendet werden. Ich sammle keine Bücher, wie andere Leute Bleisoldaten oder Briefmarken. Ich ziehe es vor, selbstständig zu denken, ständig neue Konzepte zu schaffen, ausgehend von der beobachteten Alltagsrealität und meinen Eingebungen, die durch eine (sehr persönliche und ikonoklastische) Lektüre eines bestimmten Autors ausgelöst werden, an dem ich abpralle, oder durch ein Gespräch, eine Beobachtung, die Lektüre der Presse oder eines Geschichtsbuchs. Ich arbeite mit Geistesblitzen und Intuitionen, aber ich definiere mich nicht in Bezug auf eine „Denkschule“ oder eine „Ideenströmung“. Ich besitze in meinem Haus nur 100 Bücher, die wichtigsten. Alle anderen habe ich verschenkt oder verkauft.

Ich wurde von deutschen Ethologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Philosophen beeinflußt, ohne die gesamte ›Frankfurter Schule‹ und Habermas oder so unterschiedliche Autoren wie Koestler, Heidegger, Spencer und Ardrey zu vergessen. Im Gegensatz zu den frankophilen Amerikanern war ich immer der Meinung, daß es der strukturalistischen Schule in Frankreich (Lacan, Foucault und Co.) an Klarheit mangelte. Bei den Franzosen würde ich bemerkenswerte Ausnahmen für Julien Freund, Maffesoli, Lefebvre, Deleuze und Debord machen. Ich war eine Zeitlang Mitglied der „Situationisten“, weil sie eine starke Kritik an der westlichen Gesellschaft und ihrer Sinnleere übten. Dies führte paradoxerweise dazu, dass ich mich in den 1970er Jahren für die GRECE und die „Neue Rechte“ interessierte, zu der ich einen wichtigen Beitrag leistete. Ich verließ diese Strömung jedoch 1986, weil ich das Gefühl hatte, daß die Ideen, die ich dort entwickelte, nicht mehr mit der Strategie der ideologischen Neuausrichtung ihrer Führer übereinstimmten. Abgesehen davon habe ich dort Männer wie den Philosophen Giorgio Locchi, den Historiker Pierre Vial, Pierre Brader, den Politologen Robert Steuckers und andere kennengelernt, die mir viele neue Wege eröffnet haben und die alle, wie ich, diese „Denkfamilie“ verlassen haben.

Christopher Gérard: Wie sieht Ihr spiritueller Weg aus?

Guillaume Faye: Mein Heidentum hat nichts Spiritualistisches oder Mystisches an sich; es ist leibhaftig, erlebt, ich würde sagen: poetisch und vollkommen persönlich. Mein Weg ist alles andere als „spirituell“, sondern rein sinnlich. Der Reichtum des Heidentums, der von keiner anderen „Religion“ übertroffen wird, liegt in seiner außergewöhnlichen Vielfalt an Empfindungen: vom Heidentum der Wälder und der Verwurzelung bis zum Heidentum der entfesselten Technowissenschaft; vom Heidentum der Nebel der Heide bis zu dem der Gottheiten des Sonnenfeuers. Vom Heidentum der Brunnen und Nymphen zu dem des dumpfen Rauschens der Schlachten, vom Gesang der Feen oder dem Galopp der Kobolde im Unterholz zu dem des Donners der Reaktoren, von dem der großen Schutzgötter zu dem der Laren. Aber das Genie des Heidentums besteht darin, daß es die Gesamtheit der menschlichen Passionen mit ihrem Elend und ihrer Größe in einer kosmischen und organischen Gesamtheit zusammenfaßt. Das Heidentum ist in der Tat ein „Spiegel der lebendigen Welt“.

Ich habe mich nie zu esoterischen Texten, mystischen Impulsen, Forschungen und Diskursen über Symbolik hingezogen gefühlt. Für mich ist Heidentum in erster Linie Poesie, Ästhetik, Erhabenheit und Intuition. Auf keinen Fall Theorie, Dogma oder ein Instrument der Ideologie.

Dem griechischen und römischen Heidentum fühle ich mich am nächsten. Es prägte meine gesamte Erziehung, zumal ich zehn Jahre Griechisch-Lateinische Studien absolviert hatte und in der Lage war (was ich derzeit nicht mehr kann, ›sed nihil obstat quibus perseverant‹), Ovid oder Xenophon im Originaltext zu lesen. Natürlich habe ich viel Verständnis und Sympathie für die keltischen, germanischen, skandinavischen und indischen heidnischen Befindlichkeiten, die ebenso reich sind. Ich bedaure, daß ich den Hinduismus, das wichtigste heute noch lebendige Heidentum, nur unzureichend kenne, aber ich möchte diese Lücke schließen.

Ich erinnere mich an den Schwur von Delphi, der Anfang der 1980er Jahre am frühen Morgen von einer Gruppe junger Europäer an der heiligen Stätte vor der „Stoa“ abgelegt wurde. Er wurde auf Anregung von Pierre Vial und unserem verstorbenen griechischen Freund Jason Hadjidinas abgelegt. Es waren Europäer aus allen Nationen unseres gemeinsamen Hauses anwesend. Mein ganzes Leben lang werde ich diesem Eid treu bleiben. Es war ein intensives Gefühl, ein religiöses Gefühl. Dieser Eid zielte darauf ab, in der Welt konkret für die heidnischen Werte zu einzustehen.

Die entkörperte „Spiritualität“ erschien mir immer sehr langweilig, vielleicht einfach deshalb, weil ich sie nicht verstehe. Von Evola habe ich nur die soziologischen und politischen Passagen behalten, aber der „Evolianismus“ erschien mir immer deplatziert und die Texte von Guénon (der übrigens zum Islam konvertiert ist) völlig abstrus. Mein Heidentum, das im Wesentlichen apollinisch und dionysisch ist, ist das Gegenteil einer meditativen Haltung; es ist intuitiv, begeistert von der Bewegung, der Aktion, dem Ästhetizismus der Macht (und nicht des Gebets). Das ist für mich die Essenz der Lebenskraft, des Lebenswillens. Das Leben ist die Wirksamkeit, die historische Produktion. Die Geschichte hält die ›res gestae‹, die Taten, fest, nicht die abstrakte, dandyhafte Kontemplation für nutzlose Theorien, die vom Vergessen weggefegt werden. Nur das Tun ist wirksam, und allein das ist das Ziel des Denkens wie auch der ästhetischen Bewegungen der Seele.

Die größte Gefahr für das Heidentum ist der Intellektualismus der Unentgeltlichkeit, das „Denken“, das für sich selbst vergöttert wird, ausgetrocknet und abstrakt, para-universitär, abgekoppelt von der Realität und den Erfordernissen der Dringlichkeit. Das Heidentum ist weder gelehrte Abhandlungen noch kaltes „Wissen“, sondern eine Haltung des Handelns. Für mich ist es ein Eintauchen in das Leben, eine Praxis, die die Welt verändert. Es sind nie zuerst die Worte, die zählen, oder die Ideen, sondern die konkreten Handlungen, zu denen diese Ideen und Worte führen. Eine Idee ist nicht interessant, weil sie an sich brillant ist, sondern wenn sie zur Veränderung eines Sachverhalts, zur Verkörperung in einem Projekt führt: Das ist das Zentrum der heidnischen Epistemologie; im Gegensatz zur jüdisch-christlichen Epistemologie, in der die Idee nur an sich gilt, in der die materiellen Kontingenzen, die Dringlichkeit, das Reale verächtlich gemacht werden. Mir ist immer aufgefallen, daß das griechisch-lateinische, germanische oder keltische Heidentum nichts Meditatives oder Kontemplatives an sich hatte. Sie waren eminent aktiv, politisch und kriegerisch.

Viele ahnungslose Judenchristen glauben auf ganz biblische Weise, daß der Wille zur Macht eine Sünde gegen Gott sei, eine Herausforderung, und daß nach der Lehre der Kirchenväter die einzig akzeptable Macht das entmaterialisierte „innere Reich“ sei. Diese Sichtweise geht davon aus, daß die Welt dem Dualismus gehorcht: auf der einen Seite das „Spirituelle“, das Heilige, die Meditation; auf der anderen Seite das vulgäre Profane, das in einen absurden Rausch von Herrschaft, Berechnung, Schlachten und Strategien verstrickt ist. Ich behaupte im Gegenteil, daß Materialismus und der Sinn für das Heilige im Heidentum eng miteinander verbunden sind, wobei „Materialismus“ natürlich nicht mit Konsumismus verwechselt werden darf.

Eine weitere sehr seltsame Sache hat mich unausgesprochen zum „Heiden“ gemacht, wenn ich in die Mysterien meiner frühen Kindheit zurückkehre. Es ist die Faszination für die wilde Natur, genauer gesagt für den Wald, das Meer und die Berge. Eine einfache, recht kuriose Anekdote: Als Jugendlicher pflegte ich zu Fuß durch einen der schönsten Wälder Europas zu laufen, den ›Forêt de la Coubre‹ in meiner Heimat Saintonge. Eine riesige Fläche mit vom Wind zerquälten Kiefern und Eichen. Je näher man dem Meer kommt, desto mehr hört und spürt man das Tosen von Aeolus – dem gefürchteten Suroit – und das wütende Gebell des Atlantiks. Dann klettert man eine Düne hinauf, wo die letzten Kiefern absterben, vom Salz und den Sturmböen zerfressen. Und mit einem Mal bricht die Pracht Poseidons hervor: eine wilde, bedrohliche Pracht, der das Wehklagen der Menschen gleichgültig ist. Riesige Wellen, die brüllend explodieren, rauschende Strudel, eine endlose Küste aus weißem Sand und die Schilder mit der roten Aufschrift: „Baden verboten“. Ich war schon immer von dieser wilden und bedrohlichen Seite der Natur fasziniert, wo die reine Schönheit eine schreckliche Gefahr verbirgt – den „Biss der Götter“.

Aber in dieser heidnischen Weltsicht fühle ich mich auch von kolossalen Städten und monumentaler Architektur der Behauptungsgewalt und Macht, der Ästhetik und harmonischen Kraft angezogen: Versailles, der Taj-Mahal, das Straßburger oder Ulmer Münster, die deutsche Architekturschule von Chicago, der Neoklassizismus der 1930er Jahre, die brutale Schönheit eines Atom-U-Boots oder eines Kampfflugzeugs usw. Die meisten dieser Bauten sind in der Lage, den Menschen zu dienen. Es ist die Annahme von Macht und Ordnung, ob sie nun von der Natur oder vom Menschen ausgeht, die mein persönliches Heidentum prägt. Mein Ansatz beruhte daher nie auf trockener Reflexion oder irgendeiner mystischen Ekstase, sondern vielmehr auf direkter Emotion. Ein christlicher Freund „beschuldigte“ mich einmal des „traumhaften Heidentums“. Er hatte recht, ohne zu sehen, daß die Träume der Menschen vielleicht Botschaften der Götter sind. Es ist schon lange her, daß die Götter das Internet erfunden haben …

Christopher Gérard: Sie sind also ein Heide, der auf Zeichen achtet und als Seismograph lebt. Aber was bedeutet Heidentum für Sie heute? Was ist Ihr persönlicher Ansatz?

Guillaume Faye: Mein Heidentum ist nicht reaktiv, sondern positiv. Ich bin nicht antichristlich, sondern vor- und nachchristlich. Ich schieße nicht auf Krankenwagen, ich habe keine Rechnungen zu begleichen. Das Heidentum ist dem Christentum vorausgegangen und wird dessen Verschwinden in den Herzen der Europäer überdauern. Meine stille Überzeugung ist, daß das Heidentum ewig währt. Wie Sie in Ihrem Buch Parcours Païen, ausdrücken, organisiert sich das Heidentum um drei Achsen herum: 

♦ Verwurzelung – die Verbindung zu Abstammung und Heimat.

♦ Kosmische Versenkung – eine tiefe Einstimmung auf die Natur und ihre ewigen Zyklen.

♦ Ein Streben – das kann eine Offenheit für das Unsichtbare oder ein abenteuerliches Streben sein (wie bei Pytheas, Alexander oder der pythagoreischen Schule), immer unruhig und forschend.

 In diesem Sinne ist das Heidentum die älteste und natürlichste aller Weltreligionen. Es hat die europäische Seele tief durchdrungen. Im Gegensatz zu den Monotheismen kann man sogar sagen, daß es die authentischste aller Religionen ist, da es die Menschen einer Gemeinschaft in der realen und konkreten Welt „verbindet“, anstatt wie das Christentum oder der Islam ein kodifizierter Glaube und eine Reihe von zwingenden und universellen Dekreten zu sein, die sich nur an den Einzelnen richten, der sich bei einem allmächtigen Gott sein „Heil“ „erkaufen“ möchte.

Das bedeutet, daß die wichtigsten Merkmale des Heidentums die Verbindung von Heiligem und Profanem, eine zyklische oder kugelförmige Auffassung der Zeit (im Gegensatz zu den Eschatologien der Erlösung oder des Fortschritts, in denen die Zeit linear verläuft und auf ein erlösendes Ende der Geschichte zusteuert), die Weigerung, die Natur als Eigentum des Menschen (Sohn Gottes) zu betrachten, das er nach Belieben ausbeuten und zerstören kann; der Wechsel von Sinnlichkeit und Askese ; die ständige Apologie der Lebenskraft (das „Ja zum Leben“ und die „Große Gesundheit“ in Nietzsches Zarathustra); die Vorstellung, daß die Welt unerschaffen ist und sich auf den Fluß des Werdens zurückführen läßt, ohne Anfang und Ende; das tragische Gefühl des Lebens und die Ablehnung jeglichen Nihilismus ; die Verehrung der Ahnen, der Abstammung, der Treue zu Kämpfen, Kameraden und Traditionen (ohne in musealen Traditionalismus zu verfallen); die Ablehnung jeder universellen offenbarten Wahrheit und damit jedes Fanatismus, jedes Fatalismus, jedes Dogmatismus und jedes Zwangsproselytismus. Hinzu kommt, daß im Heidentum immer wieder der „Gegensatz der Gegensätze“ innerhalb derselben harmonischen Einheit, die Einbeziehung des Heterogenen in das Homogene, auffällt.

Ich möchte hinzufügen, daß die heidnische Moral, zum Beispiel die eines Mark Aurel, sicherlich weitaus höhere Anforderungen stellt als die des Christentums. Das Heidentum, auf das ich mich beziehe und das hauptsächlich griechisch-römisch ist, verlangt vom Menschen Selbstbeherrschung, Respekt vor gemeinschaftlichen Regeln und die Einhaltung der natürlichen Ordnung – nicht aus Angst vor göttlicher Bestrafung oder dem Versprechen auf Belohnung, sondern als notwendige Pflichten, die innerlich gelebt werden und psychologisch integriert sind.

Die Götter der heidnischen Pantheons sind den Menschen moralisch nicht überlegen. Sie sind lediglich unsterblich, sie sind „Übermenschen“, die mit magischen Kräften ausgestattet sind. Das führt dazu, daß der Mensch im Heidentum gegenüber der Gottheit nicht minderwertig ist, wie es in den monotheistischen Buchreligionen der Fall ist. Das sieht man sehr gut in der ›Ilias‹, wo die Götter für die eine oder andere Seite Partei ergriffen, wobei auch sie alle Fehler, Eigenschaften und Leidenschaften der Menschen besaßen.

Ich wurde von zwei völlig gegensätzlichen und sich ergänzenden Versionen des Heidentums geprägt: einem Heidentum der Natur und einem Heidentum der Macht, der Künstlichkeit, der Arisierung der Welt, die beide gleichermaßen emotional sind. Mein Heidentum, das gebe ich zu, und das ist es, was mir Michel Maffesoli einmal freundschaftlich vorgeworfen hat, als er mich als „prometheisch“ (nach der Lektüre meines Buches ›L’Archéofuturisme‹) und somit als „modern“ bezeichnete, wird von der Hybris verfolgt und versucht. Was Alain de Benoist betrifft, so hat er meine Weltanschauung als mit der der Titanen übereinstimmend bezeichnet, gemäß den Kategorien von Jünger. Ich bestreite diese Analyse eines Autors nicht, der, obwohl er sich einst als „Heide“ bezeichnete, in Wirklichkeit in seiner Ideologie, seiner Sensibilität und seinen Interessen zutiefst jüdisch-christlich geblieben ist (mit einer modernistischen agnostischen Tendenz).

Europa hat nie aufgehört, von seinem heidnischen Unterbewußtsein geplagt zu werden: Die gesamte europäische Dichtung zeugt davon, ebenso wie die bildenden Künste. Die rein christlichen poetischen Werke sind nicht berauschend, und die gesamte katholische sakrale Kunst ist vom Heidentum geprägt, allein schon wegen der ständigen Darstellung des Göttlichen, die in ihr stattfindet und dem ikonoklastischen Imperativ des Monotheismus widerspricht. Was mich am Christentum immer gestört hat, sagen wir, am Christentum nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (das nichts mehr mit dem der Kreuzzüge zu tun hat), ist, daß es eine systematische Präferenz für den Schwachen, das Opfer, den Besiegten destilliert; es stellt Stolz in den Rang einer Sünde und verurteilt selbst gesunde Sinnlichkeit als gegen die göttlichen Wege gerichtet. Es war die Lektüre Nietzsches, aber vor allem die Beobachtung heutiger Prälaten und Christen, die mich von dem leidenden und unnatürlichen Charakter der christlichen Moral überzeugten, einer Moral für Kranke, einer Rationalisierung von Frustrationen. 

Diese Idee der Erlösung durch Leiden, die nichts mit der heidnischen Idee des Heldentodes zu tun hat, kommt einem Hass auf das Leben gleich. Außerdem konnte ich die Idee der Erbsünde nicht ertragen, die Vorstellung, daß ich für die Leiden Christi verantwortlich gemacht werden sollte. Mehr als jede andere Religion ist das Heidentum gleichzeitig Garant der sozialen Ordnung, der kosmischen und natürlichen Ordnung und Garant der Pluralität der Überzeugungen und Empfindungen. Er beruht auf der Logik des „Jeder bei sich selbst“ und nicht auf der Fantasie einer chaotischen universalistischen Vermischung. Sein Gesellschaftsmodell verbindet die Begriffe Gerechtigkeit, Ordnung und Freiheit eng miteinander, wobei letztere auf Disziplin beruhen. Es geht davon aus, daß die Menschheit vielfältig und keineswegs dazu bestimmt ist, sich zu egslien, und daß die Geschichte ein unvorhersehbares und endloses Werden ist. Im Gegensatz zu den Monotheismen geht er von einer heterogenen Menschheit aus, die sich aus homogenen Völkern zusammensetzt, wobei das Wesen der Politik in der Konstituierung der Homogenität der Stadt besteht, die durch die Gottheiten geheiligt wird und in der die Identität absolut mit der Souveränität verschmilzt. Die heidnische Weltanschauung ist organisch und holistisch und betrachtet die Völker als Schicksalsgemeinschaften. Wie im griechischen Heidentum ist die Vorstellung einer Stadt, die durch Patriotismus und eine gemeinsame Identität (die die Vielfalt der Gottheiten und der Natur widerspiegelt) zusammengehalten wird, im Heidentum, in dem die Schutzgottheiten eine vorwiegend politische und verwurzelte Dimension hatten, von grundlegender Bedeutung.

Neben einem apollo-dionysischen Heidentum tendiere ich zu dem, was man einen „titanischen Ansatz“ nennen könnte, mit faustischen und prometheischen Anklängen, der auf der Ästhetik und Ethik der Macht beruht, die Vergöttlichung des Übermenschen – was nichts „Modernes“, sondern alles Archäofuturistisches ist -, denn der Herakles-Mythos und die Geste der Ilias sind der ausdrückliche und donnernde Ausdruck dieses Titanismus, in dem die menschlichen Helden auf die Ebene der Götter aufsteigen. Man denke nur an Achilles, Priamos, Agamemnon und all die anderen Figuren der griechischen Mythologie oder Tragödie, die, vom Übermenschentum beseelt, tatsächlich danach strebten, das Göttliche zu erreichen.

Für mich – und dieser Ansatz überrascht oder schockiert einige Heiden – ist das Heidentum nicht nur mit einer Ästhetik der „bedrohlichen Natur“ verbunden, mit einer Vision der Gottheiten als Entitäten, die von einer gewissen Brutalität, einer rachsüchtigen Wildheit geprägt sind (die „Wilde Jagd“, die von einer Aura aus Zaubersprüchen und Verwünschungen umgeben ist, Machens fantastischer Roman Der große Gott Pan, in dem die antiken Götter verklärt und rachsüchtig mitten im modernen England wieder auftauchen), sondern auch an die prometheische Entfesselung der technisch-wissenschaftlichen Hybris – es geht hier nicht darum, sie aus sozio-ideologischer Sicht zu erörtern –, die mir immer als Träger eines großen Teils der heidnischen Seele erschien (man denke nur an Vulcanus-Hephaistos, der Gott der Schmiede), da der europäische Mensch durch die „Technik-der-Macht“, die von der „Technik-der-Komfort“ zu unterscheiden ist, immer unbewußt mit der göttlichen Macht konkurrieren und sie sich aneignen wollte.

Die jüdisch-christliche Tradition hat sich übrigens nicht geirrt: Dort wird der Mensch von Gott aufgefordert, seinen „Stolz auf die Macht“ hinunterzuschlucken, sich nicht dem Baum der Erkenntnis zu nähern und keine Kunstwerke zu schaffen, die mit der unveränderlichen und vollkommenen Natur, die der Schöpfer entworfen hat, konkurrieren. Nehmen wir übrigens noch einmal die Namen der amerikanischen Raketen oder Weltraumprogramme aus der Zeit, als Von Braun sie taufte: Thor, Atlas, Titan, Jupiter, Delta, Mercury, Apollo… Keine hieß „Jesus“, „Peace and Love“ oder „Bibel“. Und das in einem Land, in dem das Christentum de facto Staatsreligion ist. Ebenso ist die europäische Rakete Ariane, die Atomraketen der französischen Armee Pluton und Hades und die der indischen Armee Agni. Britische Kriegsschiffe tragen traditionell Namen ähnlichen Ursprungs: Hermes, Ajax, Hercules… Es gibt also durchaus eine Verbindung, einen geistigen Faden zwischen den Reminiszenzen an die heidnische Mythologie und dieser „Technowissenschaft-der-Macht“.

In den Sonoramen, den Radiosendungen und schließlich im Comic ›Avant Guerre‹ habe ich eine regelrechte allegorische Vergöttlichung der Technowissenschaft, insbesondere der Militär-, Weltraum- und Biowissenschaften, vorgenommen. Diese Vorgehensweise ist in der Science-Fiction durchgängig zu beobachten, insbesondere bei dem (offen heidnischen) Amerikaner Philip K. Dick, einem immensen Autor, der in Europa weitaus bekannter ist als in seinem Heimatland. Ebenso fällt auf, dass sich christomorphe Mentalitäten immer wieder gegen Gentechnik und Biotechnologie (wie früher gegen medizinische Forschung und Eingriffe) aussprechen. Letztere erscheinen ihnen als eine Entweihung von Gottes Werk.

Lassen Sie uns das erklären. Sowohl für das Judentum als auch für den Islam ist das Universum in heilig und profan unterteilt. Das Heilige liegt nur in Gott. Die Natur, der Bereich der profanen Immanenz, kann nur von Gott und nicht vom Menschen verändert werden. Wenn der Mensch dazu übergeht, sich selbst zu verändern (Gentechnik), begeht er die schlimmste aller Sünden: natürlich die Sünde des Stolzes, indem er vorgibt, das, was Gott geschaffen hat, zu „verbessern“ und sich nicht der Prädestination unterwirft. Er begeht eine zweite Sünde, die Sünde gegen den Anthropozentrismus.

Der Mensch wurde nach dem Bild (unvollkommen, aber immerhin nach dem Bild) seines Schöpfers geschaffen, radikal getrennt vom Rest der Natur, Pflanzen und Tieren, die als bloße instrumentelle biologische Mechanismen betrachtet werden. Wo kommen wir hin, wenn der Mensch sich selbst zum Schöpfer seiner selbst erklärt, zum Manipulator seines eigenen Lebens? Er begeht einen doppelten Fehler: Er setzt sich selbst einem Tier gleich, indem er seine göttliche Seele und Abstammung verleugnet, indem er in den biologischen Fluss eintaucht; er erklärt sich selbst zum Gleichen mit dem Rest der Lebewesen (das ist die Sünde der Inkarnation); und, was noch schlimmer ist, er nimmt sich das Recht heraus, seine eigene innerste Natur, die das Eigentum des Gottvaters ist, zu berühren und sich zu erheben, zu verbessern; das ist die Sünde der Aufnahme in den Himmel (Assumptionssünde).

Die Ablehnung dieser beiden Sakrilegien war in den dualistischen Monotheismen konstant: Von der Allegorie des Golem (der künstlichen und teuflischen Kreatur, die vom Menschen geschaffen wurde) bis hin zum Kampf gegen evolutionistische Theorien haben sie dem Menschen immer das Recht abgesprochen, Demiurg zu werden. Sie hielten ihn stets für unveränderlich und aus einem Guss geschaffen, unterwürfig. Für Heiden ist diese Position unverständlich: Die Natur ist aus sich selbst heraus heilig, sie ist nicht das profane Werk eines heiligen Geistes, der in den Wolken herrscht. Sie ist unerschaffen und das Göttliche ist überall. Der Mensch ist nicht unveränderlich, sondern eingetaucht in den Strom des Werdens. Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem „Natürlichen“ und dem menschlich Künstlichen, da alles natürlich ist, auch das Künstliche. Die von der menschlichen Wissenschaft hervorgebrachte „Über-Natur“ ist immer noch Natur. Die Frage für einen Heiden ist, ob ein bestimmtes (insbesondere biologisches) Kunstwerk konkret positiv ist oder nicht, oder ob es schädlich ist; aber sicherlich nicht, das Kunstwerk als Ganzes als metaphysisches Prinzip zu verurteilen. Aus diesem Grund ist der von einigen vertretene radikale Ökologismus zutiefst jüdisch-christlich.

Mit anderen Worten, er wird die Frage: „Sind Klonen oder Brutkästen, genetisch veränderte Organismen, Atomtechnologie ethisch vertretbar oder nicht?“, eine Frage, die vom monotheistischen Bewußtsein gestellt wird, durch eine andere, praktischere und realitätsnähere Frage ersetzen: „Kann ein bestimmter Eingriff in das Genom oder die Struktur der Materie schädlich oder nützlich sein?“ Im heidnischen Denken sind Ideen instrumentell. Man sieht also, daß sich die heidnische Mentalität vor jeglicher Metaphysik hütet und „physisch“ bleibt, ganz einfach weil sie davon überzeugt ist, daß nichts die Natur jemals entzaubern kann. Man kann also davon ausgehen, was ich in meinem Essay ›Archäofuturismus‹ zu erklären versucht habe, daß die jüdisch-christliche und die islamische Mentalität im Bereich der Biotechnologie (die zusammen mit der Informatik im XXI. Jahrhundert eine Katastrophe auslösen wird) nicht in der Lage sein werden, ethisch, theologisch und kulturell mit der künftigen, titanisch-prometheischen Technowissenschaft umzugehen. Meiner Meinung nach wird nur die heidnische Mentalität in der Lage sein, damit umzugehen. Im übrigen fällt bereits jetzt auf, daß die drei Kulturräume, die nicht vom Monotheismus durchdrungen sind, Indien, Japan und China, die Gentechnik als vollkommen natürlich betrachten – ein vorausschauendes Zeichen.

Ich kann hier nur auf sibyllinische, lapidare und symbolische Weise sprechen, indem ich einige Fährten lege. Für mich gibt es eine „schwarze Sonne“ des Heidentums, einen glühenden und unterirdischen Herd, das, was Heidegger als ›deinotatos‹, das „riskanteste“, bezeichnete, d. h. die Essenz des Tragischen und der Herausforderung, die dem Schicksal ins Gesicht geworfen wird. Die mit dem Willen zur Macht verbundene Technowissenschaft; der Surhumanismus, die Synergie zwischen Ästhetik und dem Ruf nach dem, was man „Selbstbestätigung“ nennen könnte, die Versuche, sich selbst zu Gott zu machen, all das ist Teil eines geistigen Universums, das man nicht klar benennen kann, das im Schatten bleiben muß, dem „günstigen Schatten“, wie Ovid es nannte.

Aber diese demiurgische Dimension gehört dem europäischen Heidentum allein; sie durchdringt es immer, wie eine Glut, die nie erlischt und die sich jederzeit in einen Vulkan verwandeln kann. Sie kommt mit großer Kraft in dem Roman von Erle Cox ›Die goldene Kugel‹, der mich sehr beeindruckt hat, zum Ausdruck. Diese Intuitionen wurden in der Science-Fiction-Radiosendung ›Avant-Guerre‹, die mit dem verstorbenen Maler Olivier Carré realisiert wurde, weiterentwickelt. Es existieren Texte, die wahrscheinlich eines Tages veröffentlicht werden, die aber noch zu brutal sind, um richtig verstanden zu werden. Was wir als die Rückkehr der verklärten Götter bezeichneten. Es gibt ein Familiengeheimnis im europäischen Heidentum, das alle alten Mythologien – bis hin zum Artus-Zyklus – gut andeuten, ohne seine Natur zu enthüllen, ein Geheimnis, dessen Kern (der Gral?) meiner Meinung nach das Undenkbare ist, ein Geheimnis, das Heidegger geahnt hatte und vor dem er sich erschreckte.

In seinem grundlegenden Text ›Holzwege‹ (ins Deutsche übersetzt mit „Wege, die nirgendwohin führen“) wußte Heidegger meiner Meinung nach genau, daß diese Wege tatsächlich irgendwohin führten… Ich hatte diese verstörende Interpretation in einer Ausgabe der Zeitschrift Nouvelle Ecole zum Ausdruck gebracht, die dem deutschen Philosophen gewidmet war. Heidegger hatte Angst vor seiner eigenen Klarheit. Er ertränkte seine Einsichten im Schweigen. Und dann hat man ihn so sehr vereinnahmt, neutralisiert, entstellt… Wohin führt der Pfad (d. h. der Verlauf unserer Geschichte)? Zum möglichen Sieg der Titanen und des Prometheus. Zeus, ich weiß, wird es mir übel nehmen, aber dieser Sieg, den ich mir wünsche, und sei er auch noch so vergänglich, wird eine ästhetische Explosion sein, die Krönung der Demiurgen, der ewige Augenblick, von dem Nietzsche sprach. Gerade er, der Heidegger so sehr erschreckte, weil er ihn zu gut verstanden und nicht nur töricht gelesen hatte.

Christopher Gérard: Doch wie sollte man dieser Spannung, diesem Ansturm begegnen?

Guillaume Faye: In Europa ist das Heidentum – das auf vielgestaltige Weise seine alte Religion war – auf vielfältige Weise präsent: Ein „folkloristisches“ (ohne pejorative Konnotation), vor allem keltisch-skandinavisches Heidentum, das nicht mit einem Glauben an personifizierte Götter einhergeht, sondern einem traditionalistischen und ethnistischen Pantheismus entspricht; es gibt auch, vor allem mit dem massiven Rückgang des katholischen Kults, die Rückkehr zu einem diffusen Volksheidentum, für das die zunehmende Feier der Jahreszeitenzyklen und der Sonnenwenden sowie die Wiederbelebung des keltischen Totenfests (Halloween) – für das es natürlich wie bei Weihnachten eine kommerzielle Vereinnahmung gibt – gute Beispiele sind.

Auch in den Künsten, der Literatur, der Philosophie und den Comics gibt es nach wie vor offensichtliche, oft unbewußte heidnische Strömungen. Denn Heidentum ist keine Bezeichnung, sondern eine spontane Lebenshaltung, eine Weltanschauung. John Boorman, Michel Maffesoli und viele andere setzen eine endlose Reihe von Heiden fort, die sich nicht als solche bezeichnen.

Meiner Meinung nach besteht der große Unterschied zwischen dem hinduistischen Heidentum und dem der europäischen Heiden trotz der offensichtlichen Verwandtschaft der Weltanschauungen darin, daß das erstere, das keine Diskontinuität oder Akkulturation erfahren hat, sehr nahe an der Volksreligiosität des europäischen Altertums geblieben ist: Man glaubt wirklich, im ersten Grad, an die Existenz des göttlichen Pantheons. Es ist unmöglich, in Europa zu dieser Haltung zurückzukehren. Unser europäisches Heidentum ist bruchstückhaft und gleichzeitig unterirdisch. Wie es der Zufall will, taucht das Heidentum in diesem Interregnum, dem Vorspiel zu den größten Konfrontationen, wieder auf, um die Leere einer kapitulierten Amtskirche auszufüllen. Heute müssen wir in Europa mit der Entstehung eines Neuheidentums rechnen. Es ist unmöglich, seine Formen vorherzusehen oder zu dekretieren.

Christopher Gérard: Wie könnte seine Zukunft aussehen?

Guillaume Faye: Das Europa im XXI. Jahrhundert wird ein Kapharnaüm von Glaubensrichtungen und Religionen sein. Das Christentum bricht zusammen und zerfällt. Der Kampf wird zwischen dem Heidentum und dem Islam stattfinden. Spiritueller Kampf oder Kampf überhaupt? Wir wissen es nicht. Das Heidentum ist das genaue Gegenteil von Ernsthaftigkeit, und darin ist es am ernsthaftesten und dauerhaftesten. Die Macht, die Unbesiegbarkeit des Heidentums (und der Grund, warum der Islam am meisten Angst vor ihm hat – siehe die Affäre um die ›Satanischen Verse‹) besteht darin, daß es sich mit den Lebenskräften vereint und daher unausrottbar ist, daß es niemals verschwinden kann, im Gegensatz zu den Monotheismen, die nur eine bestimmte Zeit in der Geschichte haben, da sie auf dogmatischen Theorien beruhen, die zwangsläufig vergänglich sind.

Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß Europa zu heidnischen Kulten als solchen zurückkehren wird, wie es heute in Indien oder im vorchristlichen Europa der Fall ist. Die heutigen Druidenkulte zum Beispiel (Bretagne, Irland, England usw.) erscheinen nicht nur ultraminoritär, sondern haben auch einen Scheincharakter, sind folkloristisch-spiritualistisch, aber nicht in erster Linie authentisch religiös und fideistisch. Ich sehe vielmehr folgende Situation, die sich in den nächsten zwanzig Jahren allmählich einstellen wird:

1. Der Islam wird zur ersten praktizierten Religion (demografische Ursachen und Bekehrung der Einheimischen), was eine Katastrophe darstellt.

2.Trotz einer vorhersehbaren Verschlechterung der sozioökonomischen Lage und einer Zunahme der Gefahren (die sich immer gut für die monotheistische Heilsreligiosität eignen) wird die katholische Kirche, die in ihrer antisakralen und säkularisierenden Ideologie verhaftet ist, weiterhin gewerkschaftlich und politisch tätig sein: Ihr Niedergang wird sich beschleunigen, ebenso wie ihre Marginalisierung. Ich glaube keineswegs an eine „massive katholische Reaktion“, die zum Katholizismus des 19. Jahrhunderts zurückkehrt, wie Johannes Paul II. es sich wünscht.

3. Ich sehe eine Ausbreitung christlich inspirierter Sekten oder „Stämme“ (nach dem Maffesolschen Ausdruck) voraus, die in der Minderheit sind, aber florieren: Traditionalisten, Charismatiker, synkretistische Mystiker usw., die vom Vatikan nicht wirklich anerkannt werden.

4. Es ist mit einer langsamen, aber stetigen Ausbreitung des Buddhismus westlicher Prägung zu rechnen, der ein verzerrtes Spiegelbild des ursprünglichen asiatischen Buddhismus darstellt.

5. Ein starker Rückgang des Atheismus oder der agnostischen Gleichgültigkeit ist im kommenden eisernen Jahrhundert zu erwarten, woraus sich natürlich eine neue Anziehungskraft für unvorhergesehene Formen des Heidentums ergibt.

Die Verbreitung dessen, was ich als wilde Religionen (ohne jede abwertende Konnotation) bezeichnet habe, ein wahres Kapharnaum des Schlimmsten wie des Interessantesten, stellt jedoch einen Nährboden dar, auf dem eine wahrhaft metamorphische Regeneration des europäischen Heidentums stattfinden kann. Diese „wilden Religionen“ existieren bereits und haben eine gewisse gruselige, sagen wir, experimentelle Seite. Aber sie entsprechen einem Bedürfnis; dem Bedürfnis, an eine verschwommene, halbvergessene Erinnerung anzuknüpfen.

Ich glaube daher, daß wir im XXI. Jahrhundert unvorhergesehene Formen des Heidentums sehen werden, die einer Metamorphose der Götter ähneln. Alles ist möglich, alles ist denkbar in diesem Chaos, aus dem notwendigerweise eine Ordnung, ein Nach-Chaos, hervorgehen wird. Andererseits muß man sich vor all jenen hüten (ob sie sich nun Heiden nennen oder fundamentalistischen katholischen Kreisen angehören), die den derzeitigen Verfall der Sitten (Gay Pride, Love Parade, Homophilie, Anti-Natalismus, Feminismus, tolerierte Drogensucht, verdummende Pornophilie, Abschaffung der sozialen Codes, künstlerische Degeneration …) als Rückkehr des Heidentums analysieren – um ihn zu billigen oder zu verurteilen – und ihn als Rückkehr des Heidentums bezeichnen.

Das Heidentum ist das genaue Gegenteil der Lockerung, der Zerrüttung der Lebensenergien, die im heutigen Westen zu beobachten ist. Es erweist sich ganz im Gegenteil als die Ritualisierung und Übernahme der vitalen Imperative. Seine kosmischen Prinzipien (vom griechischen ›kosmein‹, in Ordnung bringen, schmücken, organisieren) integrieren in einem Zusammenspiel scheinbarer Gegensätze gleichzeitig die dionysischen Kräfte der Sinnlichkeit und des Lustprinzips mit den apollinischen Notwendigkeiten der Beherrschung und der globalen Ordnung. Alles, was dem gesunden Fortbestand der Gattung und des Volkes, der organischen Homogenität der Stadt oder des Staates (im römischen Sinne des Wortes) schadet, kann sich nicht „heidnisch“ nennen. Ein Heide wird niemals ein Puritaner oder ein Sexualbesessener (die beiden sind sich übrigens sehr ähnlich …), ein Anarchist oder ein Tyrann (letzterer geht aus ersterem hervor) sein.

Ebenso darf das Heidentum weder mit intolerantem Dogmatismus noch mit absoluter Toleranz verwechselt werden. Unter dem Vorwand des „sozialen Polytheismus“ applaudieren einige oberflächliche Heiden der Tribalisierung der Gesellschaft, dem Kommunitarismus, ohne zu wissen, daß alle heidnischen Autoren des antiken Griechenlands – angefangen bei Aristoteles mit seinem Konzept der Philia, „Freundschaft mit dem Nächsten“ – stets vor der Idee heterogener Völker warnten, da diese den Nährboden für Gewalt und Despotismus bilden. Im Gegenteil, es sind die Monotheismen, die die Idee der Vermischung verteidigen, um über Massen zu verfügen, die umso formbarer sind, als sie nicht mehr durch ethnisch-kulturelle Solidarität zusammengehalten werden.

Diese Scheinheiden teilen mit den nachkonziliaren Prälaten die Zustimmung zur Aufnahme des Islam als „ökumenische Bereicherung“ (ohne die totalitäre – ohne pejorative Konnotation – und monopolistische Logik der Religion Mohammeds zu verstehen); und praktizieren im Namen einer abstrakten und falschen Vision einer zukünftigen Welt, die in „Netzwerken“ organisiert, angeblich „polytheistisch“ und ohne Völker und Nationen ist, Toleranz gegenüber marginalen und abweichenden „Stämmen“ und, wiederum, einen ungezügelten Kosmopolitismus. Letzteres ist der heidnischen Vision der Stadt völlig fremd und ähnelt einer sehr alten jüdisch-christlichen und paulinischen (viel mehr als hebräischen) Vorstellung von einem politischen Pluriversum. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß das griechisch-römische Heidentum unter der hierarchischen Autorität der großen Schutzgötter stand, die den Staat oder die Stadt föderierten, die die politische Ordnung der Volksgemeinschaft, des Ethnos, über die individuellen Lizenzen oder die heterogenen und zentrifugalen Kräfte von wer weiß welchen „Gemeinschaften“ stellten.

In einem anderen Zusammenhang mißtraue ich einem rein negativen und reaktiven Paganismus, der nichts anderes als ein leidenschaftlicher Anti-Katholizismus ist. Auf den traditionellen europäischen Katholizismus zu schießen, ist Zeitverschwendung. Ich selbst habe das Vorwort zu einem Buch über die Marienverehrung geschrieben – und damit viele Katholiken in Verlegenheit gebracht –, in dem ich an die offensichtliche Tatsache erinnere, daß die ›Jungfrau Maria‹ und ihre Verehrung tief in der vorchristlichen europäischen Mentalität verwurzelt sind und daß ein Heide sie respektieren muß. Denn wie sonst ließe sich über die Jahrhunderte hinweg der enorme Erfolg der Verehrung Marias und der Heiligen im Volk erklären? Außerdem haben die heutigen Episkopate der postkonziliaren Kirche diese Kulte, die des „Polytheismus“ verdächtigt werden, nicht stark eingeschränkt (was zum Teil die Abneigung gegen ihre „neue Kirche“ erklärt)?

Was den Unterschied zwischen dem heutigen Heidentum und dem Christentum betrifft, so schließe ich mich der Position des Mediävisten P. Vial in seinem Werk ›Une terre, un peuple‹ an, der daran erinnert, daß das Heidentum nicht antichristlich, sondern sowohl achristlich als auch postchristlich ist. Wie er in Anlehnung an Nietzsche betont, besteht die affektive Bruchstelle zwischen der jüdisch-christlichen und der heidnischen Weltanschauung, die ich persönlich immer empfunden habe und die einer der Hauptgründe für meine Entscheidung für das Heidentum war, darin, daß die Christen den Märtyrer dem Helden vorziehen, daß ihr Dolorismus die erlösende Tugend des Leidens feiert, daß sie Masochismus, Schuld und Reue der Ästhetik des Lebens und des Willens zur Macht sowie die Moral der Sünde der Ethik von Ehre und Scham vorziehen.

Das XXI: Jahrhundert wird als das Jahrhundert der radikalen Marginalisierung des Christentums in Europa und der Konfrontation zwischen einem aus uralten Erinnerungen wiederauferstandenen, vielgestaltigen Heidentum und dem erobernden Islam hervorgehen. Die katholische Minderheit wird sich beiden Lagern zuordnen. Aber wie Montherlant bereits in einem vorausschauenden und unbekannten Buch (Le Solstice de Juin) gesehen hatte, ist in dem kommenden Krieg der Götter – der schon immer die gesamte menschliche Geschichte bestimmt hat – „der große Pan wieder da“, als Hauptakteur des bedrohten europäischen Bewußtseins.

Christopher Gérard: Welchen Blick haben Sie auf das Judentum und Christentum?

Guillaume Faye: Meiner Meinung nach war die Ursache dafür, daß das europäische Heidentum im Bereich des Römischen Reiches vom Christentum überrollt wurde, das ethnische Chaos, das am Ende des II. Jahrhunderts entstand. Der eine, rettende Gott aller Ethnien, der sich zunächst an verwirrte und entwurzelte Individuen richtete, trat an die Stelle der Schutzgottheiten in einer Welt, die von Unordnung, Spaltungen und Kriegen geplagt war. Meine Position, die vielleicht schockierend ist, lautet: Das Christentum und der Islam waren erfolgreiche apokalyptische Sekten, die das Chaos ausnutzten, um zu gedeihen, die natürlichen Religionen zu ersetzen und zu etablierten Kulten zu werden. Natürlich haben der römische Katholizismus oder die griechisch-slawische Orthodoxie durch eine Art historischen Kompromiß, einen Synkretismus mit dem Heidentum tief mit dem ursprünglichen Judäo-Christentum gebrochen – zu dem die Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zurückkehren will, zufälligerweise um den Preis eines phänomenalen Anhängerverlustes bei den Europäern…

Ich bin kein Historiker, aber ich stelle die Hypothese auf, daß der große historische Bruch nicht so sehr die von Paulus von Tarsus initiierte Trennung des Judentums im engeren Sinne und des universalistischen Christentums war, sondern die Entwicklung eines paganisierten Judenchristentums (Katholizismus und Orthodoxie) im Laufe des Mittelalters. Dadurch konnte sich das Christentum in Europa etablieren. Der zweite große Bruch in umgekehrter Richtung erfolgte in den 60er Jahren des XX. Jahrhunderts, als der Katholizismus, dem verhängnisvollen Weg des Protestantismus folgend, „entheidnisiert“ und säkularisiert wurde. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten: massive, brutale und allgemeine Abwendung von der Kirche.

Man hört, daß sich der Katholizismus „rejudaisiert“ hat. Nein, das Judentum ist eine echte nationale und lebensbejahende Religion, die nichts mit der rituellen Entäußerung und dem weltlichen Humanitarismus des heutigen katholischen Korpus und Diskurses zu tun hat, mit dem verschwommenen Begriff der ›Liebe‹, der mit neurotischem Nachdruck geäußert wird und der den Gläubigen nichts sagt. Ich hege keine Ressentiments gegen den Katholizismus, der in Wirklichkeit ein verkappter Polytheismus ist, der sich aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil durch die Aufgabe seiner heiligen Sprache und seiner Riten als Religion selbst sabotiert hat und der durch die Rückkehr zum absoluten Monotheismus zu einer Kopie geworden ist, die nicht mehr gegen die Originale – den Islam und das Judentum – ankämpfen kann.

Im Grunde ist das Schicksal des Christentums dramatisch. Es hat sich um den Preis der Heidentumsbildung und der Verleugnung einer Reihe seiner Prinzipien etabliert. Dann, als es seine Prinzipien wiederfinden wollte, vollzog es einen zweiten Synkretismus (Vatikanum II) mit den Ideen der Moderne, der Aufklärung, die jedoch genau aus seinen eigenen säkularisierten Prinzipien stammten! So hat sich das Christentum am Ende dieser unerbittlichen dialektischen Bewegung entheiligt, indem es wieder wirklich es selbst wurde, und es hat sich in seiner Annahme selbst abgeschafft.

Die Idee des Göttlichen beschränkt sich in der heutigen Kirche auf Beschwörungsformeln über Christus und seine Liebe, auf die Bekräftigung einer sozialen Moral (die sehr verschwommene Moral der Menschenrechte und eines abstrakten und extremistischen Altruismus, eines vereinbarten Pazifismus), die nur die Vulgata der hegemonialen weltlichen Ideologie ist. Das Christentum ist zu einem ideologischen Diskurs geworden, der von keiner Transzendenz und keiner großen Politik mehr erhellt wird, wie der katholische Denker Thomas Molnar gesehen hat. Wir sind weit entfernt vom Glauben der Kathedralen.

In meinem Essay ›Archäofuturismus‹ träumte ich davon, daß die Europäer zu dieser Art von mittelalterlichem Heidentum zurückkehren würden, während die bewußten Eliten ein Neuheidentum annehmen würden, das sowohl Marc Aurel als auch Prometheus wäre. Vielleicht wird das Schicksal diese Lösung für uns aushecken?

Grundsätzlich wurde die heidnische Mentalität im Vergleich zur christlichen durch die alte Haltung des antiken heidnischen Menschen gegenüber seinen Göttern geformt: keinen Trost beim Göttlichen zu suchen. Die Götter respektieren nur Stolz und Stärke. Es wird nicht gefleht. Der Mensch kann nur aus sich selbst heraus glücklich und gesund sein, nur durch seine eigene innere psychische Kraft und die Bekräftigung seines Willens. Der heidnische Mensch beugt sich nicht vor seinen Göttern; er fordert sie heraus. Oder er dankt ihnen und versucht, sie sich selbst günstig zu stimmen. Das Christentum hat eine Theologie der Kastration entwickelt, in der wir schuldig und minderwertig sind. Der Heide verführt seine Götter oder stellt sie zur Rede, der Monotheist fleht sie an und erniedrigt sich.

Andererseits haben weder das Judentum noch das Christentum noch der Islam diese grundlegende Frage anders gelöst als mit dem Argument des Mysteriums: Wenn Gott unendlich gut und unendlich mächtig ist, warum läßt er dann Leiden zu, warum nicht das Paradies auf Erden für alle? Würde Gott dann nicht lügen? Entweder ist er unendlich gut und läßt das Böse zu, weil er nicht unendlich mächtig ist. Oder er ist unendlich mächtig und läßt das Böse zu, also hat er eine grausame Seite. Dies ist das berühmte „Problem des Bösen“. Die monotheistischen Theologien der Heilsreligionen haben dieses Rätsel nie gelöst, das die heidnischen Philosophien von Griechenland bis Indien perfekt gelöst haben: Gottheiten sind weder allmächtig noch unendlich altruistisch. Sie sind wie wir in den Kosmos eingetaucht und dem erratischen Zufall des ›fatum‹ (der Römer) oder der ›moïra‹ (der Griechen) unterworfen. Diese philosophische Divergenz zeigt meiner Meinung nach, daß die heidnische Mentalität, die näher an der Realität ist, eine viel größere Zukunft vor sich hat als die anderen. Nach alledem möchte ich wiederholen, daß ich eine starke Sympathie für den traditionellen Katholizismus und die Orthodoxie empfinde, da ein Heide immer konkret und ohne Fanatismus argumentiert.

Christopher Gérard: In einem Ihrer letzten Aufsätze verherrlichen Sie das, was Sie Archäofuturismus nennen. Was hat es damit auf sich?

Guillaume Faye: Ich möchte nur kurz auf den Essay ›Archäofuturismus‹ eingehen, dessen Titel ein Neologismus ist, den ich geprägt habe. Es handelt sich lediglich um eine Reihe von Ansätzen, die zum Nachdenken und Handeln anregen sollen. Ich entwickle darin vier Hauptgedanken:

    1. Nach der utopischen Klammer der Moderne (der säkularisierten Verlängerung der jüdisch-christlichen Träumereien) wird die zukünftige Welt zum „Archaischen“ zurückkehren, d. h. nicht zur Vergangenheit, sondern zu den jahrtausendealten Prinzipien der menschlichen Gesellschaften, die das genaue Gegenteil der selbstmörderischen Prinzipien des heutigen Westens sind.
    2. Da sich die westliche Zivilisation nicht auf die natürliche Ordnung stützt, steuert sie auf eine Konvergenz von Katastrophen in allen Bereichen zu. Wir müssen mit Chaos rechnen und uns in diesem Interregnum auf die Zeit nach dem Chaos vorbereiten.
    3. Die gegenwärtigen und künftigen Errungenschaften der Technowissenschaft stehen im Widerspruch zur Ethik der Moderne (die aus dem Christentum hervorgegangen ist) und werden eine prometheische Ethik der Entfesselung und des Risikos, die der heidnischen Mentalität der Antike eigen ist, wieder auf die Bühne bringen, ebenso wie eine Ethik, die der des griechischen Humanismus nahesteht, für den kein transzendentes Gesetz absolut gesehen über dem menschlichen Willen steht.
    4. Dieser Widerspruch zwischen dem Naturrecht und dem Prometheismus kann nur durch eine Überwindung des Egalitarismus überwunden werden: eine Menschheit, die „in zwei Geschwindigkeiten“ funktioniert.

Man muß sich auf meine Texte beziehen, um besser zu verstehen, was ich hier lapidar darlege.

Christopher Gérard: Sie haben auch einen kontroversen Essay über die Kolonisierung Europas durch den Islam veröffentlicht. Was können Sie uns dazu sagen?

Guillaume Faye: Die im XXI. Jahrhundert aus demografischen Gründen zu erwartende Dominanz des Islams ist nicht erfreulich. Gegenüber dem Islam und dem materialistischen Atheismus besteht die Schwäche des Christentums (die einst seine Stärke war, sich aber in einer dialektischen Umkehrung umkehrt) darin, daß es eine strukturierte Heilsreligion ist, die wie ein Staat organisiert ist, um einen Klerus, Dogmen und starre Verfassungen herum. Nun ist jede Organisation sterblich und verkümmert angesichts einer konkurrierenden Organisation, sei es in der politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Ordnung. In diesem Sinne ist das Christentum heute gegenüber dem Islam massiv auf dem Rückzug, sowohl in physischer als auch in moralischer Hinsicht. Der Katholizismus befindet sich in einem Zustand fortgeschrittener Anämie. Er hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil seinen theologischen Selbstmord begangen, indem er seine heilige Weltsprache, das Lateinische, aufgegeben hat, während der Islam niemals das religiöse Arabisch des Korans auf der ganzen Erde aufgegeben hat.

Andererseits hat der Katholizismus einen gigantischen Fehler begangen, als er sich modernisieren wollte. In den Riten, den heiligen Texten und im theologischen Diskurs. Dieses ›Aggiornamento‹ wird ihm zum Verhängnis werden. Die Stärke des Islam ist seine Unveränderlichkeit. Im Gegensatz dazu ähnelt das Heidentum dem Schilfrohr in ›La Fontaines‹ Fabel. Gegenüber der monolithischen Eiche einer Offenbarungsreligion ist es ein vitaler Impuls und keine kontingente Organisation, die um ein Dogma herum betoniert ist. Seine Flexibilität rührt von seiner Skepsis und seinem Realismus her. Das Christentum in Europa weicht vor dem Islam zurück, weil es einem stärkeren Bruder gegenübersteht; das Heidentum beteiligt sich nicht an solchen Familienfehden. Es ist ganz anders. Aus diesem Grund wird der Islam in seinem logischen und sehr alten – und heute wieder aufgenommenen – Unterfangen, sich in Europa auszubreiten, die heidnische Mentalität als Hauptgegner haben. Ich weiß, daß es angebliche Heiden gibt, die den Islam befürworten. Sie irren sich gewaltig, weil sie den Islam nicht kennen und offenbar nicht wissen, welches Schicksal der Koran für sie als Ungläubige und Götzendiener vorsieht: Während Juden und Christen sich als Minderheit und Unterworfene (Dhimmis) wiederfinden werden, werden sie das Schicksal der Schafe von Aït-el-Khébir erleiden. Man muß nur die Sure 4 des Korans lesen, die in allen Moscheen Europas und in allen Koranschulen gelehrt wird, um sich davon zu überzeugen.

Ich bringe manche Christen in der Regel zum Schreien, wenn ich ihnen erkläre, daß ich als Heide dagegen bin, daß Kirchen in Moscheen umgewandelt werden, während der Episkopat dies zuläßt. Es muß klargestellt werden, daß ich gegenüber dem Islam weder Verachtung noch Haß empfinde. Ich lehne lediglich als Heide seinen Entwurf einer Gesellschaft und Spiritualität für mein eigenes Volk ab. Ich kenne ihn gut, ich habe ihn lange studiert. Ich habe den Koran gelesen, im Gegensatz zu den Pariser Intellektuellen, die für das Zusammenleben der Gemeinschaften eintreten. Ich wurde von Muslimen eingeladen, „gegen den Islam“ zu sprechen; sie waren überrascht, daß ich ihre Absicht, Europa zu erobern und in einen Dar-Al-Islam zu verwandeln, gut kannte und daß ihre Rede vom säkularen und harmonisch integrierbaren Islam eine doppelte Rede war, eine heuchlerische Rede, die vom Propheten selbst empfohlen wurde, wenn man ein neues Land stürmt („Küss die Hand, die du noch nicht abhacken kannst“). Diese Muslime, Araber und Pakistaner, versuchten nicht, mir zu widersprechen. Sie lächelten und sagten mir sinngemäß: „Zum Glück gibt es nur wenige Europäer, die uns so gut kennen wie Sie uns“.

Was das Kapitel der Gefahr durch den Islam betrifft, stimme ich vollkommen mit einem der besten Kenner des Islams, dem jungen und wortgewandten Forscher Alexandre del Valle, überein. Er gehört zu jenen traditionellen christlichen Kreisen, die vollkommen verstanden haben, daß gegen die dringende Gefahr des weltweiten Vormarsches des Islam eine Allianz mit den Kräften des Heidentums von Europa bis Indien unerläßlich ist. Der Islam ist ein kriegerischer Universalismus, der absoluteste aller Monotheismen der geoffenbarten Wahrheit. Er duldet auf Dauer nichts anderes als sich selbst und seine theokratische Weltanschauung, in der der Glaube mit dem Gesetz verschmilzt, ist im etymologischen Sinne totalitär. Auch wenn er sehr oft gute Prinzipien vertritt und sich zu Recht gegen den westlichen Dekadentismus wendet, bleibt er mit unserer Mentalität und unseren Traditionen unvereinbar. Ich habe nichts gegen den Islam in seinem eigenen Land, aber sein stetiges Vordringen in Westeuropa (in Frankreich oder Belgien ist er bereits die zweitgrößte Religion) beunruhigt mich als Heiden mehr als die Atheisten der säkularen Linken und die Christen.

Christopher Gérard: Welche göttlichen Figuren inspirieren Sie am meisten?

Guillaume Faye: Jede Gottheit repräsentiert eine Facette der menschlichen Natur, und es liegt mir fern, Venus-Aphrodite oder Merkur-Hermes oder die bescheidenen Laren-Götter als Hüter der Familie abzulehnen. Ich akzeptiere durchaus, daß meine prometheische Interpretation des Heidentums von anderen Heiden kritisiert wird. In Wirklichkeit hat es immer zwei Formen des Heidentums gegeben, die sich auch überschneiden können; die eine, die volkstümliche (daher der Begriff pagani „Bauern“), die man bei allen Völkern der Erde – bis hin zu den islamisierten Völkern – findet, nimmt einfache, abergläubische Überzeugungen an, die aber keineswegs verächtlich und für eine gute soziale Ordnung notwendig sind; das andere ist das Heidentum der Philosophen, das natürlich nicht an die objektive Existenz von Gottheiten glaubt, aber inmitten eines schrecklichen und tragischen Zweifels die Existenz von „etwas“ Übernatürlichem, Unerklärlichem anerkennt, den atheistischen Materialismus ablehnt und alle Religionen der Erde als Teile der Wahrheit achtet. Die Idee einer offenbarten Wahrheit lehnt er jedoch strikt ab.

Von den indischen Brahmanen bis zu den keltischen Druiden gibt es eine tellurische und zugleich kosmische Kraft, die sich den Offenbarungs- und Erlösungsreligionen völlig entzieht. Diese Kraft kann nicht in einem Dogma oder einem Katechismus ausgedrückt werden. Man kann sie fühlen und erfahren. Sie unterliegt einer Initiation, die sowohl volkstümlich und spontan als auch aristokratisch sein kann.

Das Heidentum ist für Völker und Zugehörigkeitsgemeinschaften gedacht, nicht für Massen und entwurzelte Individuen. Er ist sowohl Teil des Volksaberglaubens als auch der Geistesdisziplin. Er verbindet den magischen Glauben an Tier- und Waldgottheiten (dionysischer und verwurzelter Pol) mit apollinischem Donner. Alle Gottheiten inspirieren mich, besonders aber Dionysos, das Symbol der Treue und der Lebenszeit. Als lächelnder Gott (aber mit einem beunruhigenden Lächeln) symbolisiert er den Fluß des Lebendigen, die Revolte gegen sklerosierende Ordnungen und Dogmen; er ist der Gott der Freuden, des Lebenswillens, aber auch der Abstammung und der Kontinuität des Lebens.

Es ist kein Zufall, daß die Christen einige seiner Züge und Attribute übernommen haben, um ihren Satan damit zu schmücken. Als chthonisches Prinzip ist der sinnliche Dionysos das genaue Gegenteil des Perversen. Er verkörpert Prinzipien, die denen der Moderne völlig entgegengesetzt sind. Mehr als alle anderen Götter Griechenlands ist er das genaue Gegenteil der gesamten monotheistischen und jüdisch-christlichen Weltanschauung, die unsere Zivilisation durchdringt. Nietzsche hatte dies vollkommen verstanden und machte ihn ebenfalls zur zentralen Gottheit seines persönlichen Pantheons.

Dionysos ist der tragischste aller Götter: Er spielt, er lacht, er ruft zum Genuß auf, aber er bereitet die Sterblichen auch auf ihr unausweichliches Ende vor. Er ist natürlich, wie Pierre Vial nachgewiesen hat, das genaue Gegenstück zu Apollon, der Sonnengottheit (contradictio oppositorum). Ich muß gestehen, daß ich einen der Autoren, der mich durch sein außergewöhnliches Werk am meisten beeindruckt hat, Michel Maffesoli, durch seinen Essay ›L’ombre de Dionysos‹ entdeckt habe, in dem er den unschlagbaren und unbesiegbaren Einfluß des Gottes der Ranken und Reben nachweist. Ich füge hinzu, daß ich die soziologischen Analysen und Optionen dieses Autors keineswegs teile, was zeigt, daß ich meine eigenen relativiere und nicht verabsolutiere, da ich mir bewußt bin, daß wir uns alle im Bereich der ›Doxa‹ und selten der ›Episteme‹ bewegen.

Dennoch vernachlässige ich Apollon, den Sonnengott, nicht. Ein Text, der mich sehr beeindruckt hat, ist ein Vierzeiler, der meiner Meinung nach zu den schönsten der französischen Sprache gehört und von Paul Valéry verfaßt wurde. In seinem Gedicht ›Ève‹ stellt er die dionysische Sinnlichkeit eines jungen Mädchens beim morgendlichen Erwachen (Beständigkeit des erneuerten, aber vergänglichen Lebens) und den souveränen Lauf der Sonne einander gegenüber und verbindet sie auf wunderbare Weise miteinander. Ich war immer der Meinung, dass diese vier Verse zu den heidnischsten der französischsprachigen Dichtung gehören: Das junge Mädchen, nackt in seinen Laken, erwacht und reckt sich wie ein junges Tier und …

Cependant, du haut-ciel, foudroyant l’heure humaine,
Monstre altéré du Temps, immolant le futur,
Le sacrificateur Soleil roule et ramène
Le jour après le jour sur les autels d’Azur.

 

Dennoch, vom hohen Himmel, blitzend die menschliche Stunde,
Verändertes Ungeheuer der Zeit, die Zukunft opfernd,
Der Opferer Sonne rollt und bringt
Den Tag nach dem Tag auf den Altären von Azur.

 

Dionysos erneuert die Lebensformen durch Metamorphose (eine Schönheit wird altern, aber eine neue, zukünftige Schönheit wird ihr folgen), während Apollon in seinem unveränderlichen Lauf (›labor solis‹, ›ergon heliou‹) diese Metamorphose schützt und sichert. Im Paar Apollon-Dionysos vereinen sich Vergänglichkeit und Beständigkeit in Harmonie. Für mich ist das Heidentum also grundsätzlich die Verehrung des Realen und des Lebens in all seinen Dimensionen (biologisch, astronomisch, physikalisch usw.), und im Gegensatz zu den Erlösungsreligionen weigert es sich, eine Meta-Realität, eine Lüge, ein Phantom (die „Marionetten“, ›ta aggalmata‹ aus Platons Höhlengleichnis) zu konstruieren, sondern stellt sich der sanften und harten Tragödie des Lebendigen direkt gegenüber.

In diesem Zusammenhang empfehle ich, um noch einmal auf Valéry zurückzukommen, die Lektüre des musikalischen dekasyllabischen Gedichts ›Le Cimetière Marin‹, das meiner Meinung nach das beeindruckendste heidnische Manifest seit Ronsards ›Les Amours‹ ist. Es muß auch wiederholt werden, daß das Heidentum grundsätzlich ästhetisch ist, ein Prinzip, das sowohl apollinisch als auch dionysisch ist. Die Kunst, Dichtung und Architektur unserer Zeit, die ästhetische Strenge und Disziplin als unkorrekte Zwänge betrachten und oftmals bloße Häßlichkeit mit Rationalität rechtfertigen, sind nicht nur eine Revolte gegen die heidnische Seele, sondern ein Modell, das nicht von Dauer sein wird und in einer Katastrophe mündet. Das Heidentum ist die Zukunft der Welt, ganz einfach, weil es die Welt so betrachtet, wie sie ist und wie sie werden könnte, und nicht so, wie sie sein sollte.

Um letztendlich auf Ihre Frage zu antworten, würde ich sagen, daß wir neue Götter erfinden müssen. Dies ist eine tiefe Tendenz des ›homo europaeus‹, einer epischen Mentalität. „Neue Götter werden unsere Zukunft erblühen lassen“. Ich bin mir durchaus bewußt, daß meine Antworten zahlreiche Widersprüche enthalten. Aber ich versuche nicht, mechanisch kohärent zu sein. Ich nehme diese entomologischen Denker, die die Widersprüche in anderen aufspüren, nicht sehr ernst. Jede Schöpfung ist das Ergebnis von Widersprüchen, jeder Gedanke vibriert in einem Schlangennest.

Quelle: https://nouvelledroite.substack.com/cp/158403004
Originalquelle: https://editions-hache.com/essais/faye/faye1.html?nu=oui
Beitragsbild: Gemälde von Heinrich Friedrich Füger

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Wird der Archäofuturismus auf die Konvergenz der Katastrophen folgen?  [Teil 1]

Der Archäofuturismus. Wege zu einer ideologischen Regeneration [Teil 2]

Guillaume Faye. Auf dem Weg zu einer archäofuturistischen Welt? [Teil 3]