Dies ist der erste Teil des 1988 veröffentlichten Essays ›Die neuen ideologischen Herausforderungen‹ von Guillaume Faye, in dem er die Veränderungen in der europäischen ideologischen und politischen Landschaft untersucht und die Wiederkehr wichtiger Debatten in einer Zeit des öffentlichen Rückzugs und der Konzentration auf den Individualismus hervorhebt.
Die ideologische und kulturelle Atmosphäre im Europa der Nachkriegszeit, einem Europa, das durch den Frieden und den längsten Wirtschaftsaufschwung aller Zeiten gezähmt wurde, war bis in die siebziger Jahre ausschließlich von der Illusion des politischen Scheins beherrscht. Die denkenden Eliten konnten nichts anderes tun, als sich Träumen hinzugeben, denn sie waren der Herausforderungen, der Geschichte beraubt, da sie in einer gemütlichen Gesellschaft ohne sichtbare Bedrohungen zusammengekauert waren.
Die große Mode des Engagements, die Sartre einleitete, fand genau zu den Zeitpunkt statt, als das Engagement fast nichts bedeutete und weder Risiken noch grundlegende Konsequenzen beinhaltete. „Viele Intellektuelle“, schreibt Jean-Claude Guillebaud, „erlagen den stalinistischen Versuchungen, als Stalin die befriedete Welt kaum noch bedrohte. Gleichzeitig blühte der kulturelle Antiamerikanismus unter dem Schutz von Washingtons nuklearem Schirm. Und man erlebte die imaginären Ängste vor einer siegreichen Revolution, während sich Europa in aller Ruhe einem sozialdemokratischen Modell auf der Grundlage des Wohlfahrtsstaates näherte … Als ob das Tragische, das aus dem Alltag ausgeschlossen ist, durch das Imaginäre wieder an Kraft gewinnen könnte. Nur Frieden und Wachstum konnten solche intellektuellen Extravaganzen zulassen. Später entstand der sogenannte „Dritte-Welt“-Kult, d. h. die Solidarität mit der Dritten Welt, zweifellos aus demselben instinktiven Wunsch: ein Ersatzpathos zu finden und weiterhin – wenn auch stellvertretend – an allen Träumereien der Geschichte teilzunehmen. In ähnlicher Weise blühte die heftigste Kritik an der Konsumgesellschaft, an der Sensibilisierung des ländlichen Raums und an den ›Nullwachstumsphantasien‹ gerade zu dem Zeitpunkt auf, als das Bruttosozialprodukt am stärksten wuchs.“
Das Europa der 1980er Jahre wirkt entpolitisiert im Vergleichzum Europa der unruhigen 1960er Jahre. Man könnte versucht sein zu sagen, daß die Beschleunigung unserer Dekadenz einer immer oberflächlicheren ideologischen Auseinandersetzung entspricht. Der Mai ’68 liegt weit zurück, als wir auf dem Universitätscampus für oder gegen Mao, für oder gegen die spontan-proletarische Arbeiterkommune kämpften, als Rom, Berlin und Paris unter dem Ruf nach „Revolution“ zu vibrieren schienen.
Doch entgegen allem Anschein wird Europa am Ende des Jahrhunderts von einer Debatte belebt, die grundlegender ist als die hohle Rhetorik der Nachkriegszeit. Diese wurde von den alten politischen Gräben beherrscht, die der Marxismus, die soziale Frage und die Links-Rechts-Polarität hervorgerufen hatten. Es war, als ob diese drei Jahrzehnte – nach einem ertragreichen Zwischenspiel (1920-1940), in dem die wirklichen Trennlinien und die wahren ideologischen Debatten des 20. Jahrhunderts zum Vorschein kamen – die doktrinären Konflikte des neunzehnten Jahrhunderts auf völlig unrealistische Weise wieder aufgenommen.
Die Revolten an den Universitäten, die linksradikalen Unruhen, die neomarxistischen Ideologien, die Kontroversen über den Feminismus, den christlichen Sozialismus, den Maoismus, den Anarchismus usw. waren in Wirklichkeit eine große Illusion, die Illusion einer Gesellschaft ohne Herausforderungen, einer Gesellschaft, die vom mühelosen Überfluß betäubt ist. Unter dem Deckmantel einer intensiven Politisierung offenbarten diese dreißig Jahre eine tiefgreifende Entpolitisierung, ja eine „Entideologisierung“. Das Wesentliche spielte sich in den „Drugstores“ ab, und die Leute gaben sich zum „Spaß“ als Revolutionäre oder Befreier (ohne Proletariat und ohne Unterdrückung) aus und rezitierten wie in einem Theater die mythische Geschichte der Kämpfe des 19. Jahrhunderts.
Seit Ende der 1970er Jahre hat sich die ideologische Landschaft in Westeuropa jedoch grundlegend verändert. Der Links-Rechts-Streit und die daraus resultierenden Etikettierungen mögen die zunehmend verachteten Berufspolitiker noch erfreuen, verlieren aber in den intellektuellen Kreisen und der neuen politischen Kaste ebenso an Intensität wie die „soziale Frage“. Um einen neuen Konsens herum bildet sich ein „zentraler Block“, der die Verfechter der Menschenrechte, des Liberalismus und des Atlantizismus einschließt und darüber hinaus die bisherigen politischen Gräben so weit überwindet, daß im „sozialistischen“ Frankreich die jüngste „linke“ Regierung der Motor dieses neuen Blocks war!
Die ideologischen und politischen Auseinandersetzungen der „Nachkriegszeit“ betrafen trotz ihrer offensichtlichen Schärfe Themen, die das Überleben Europas nicht unmittelbar gefährdeten; heute sieht das ganz anders aus…
Die Entkolonialisierung erwies sich trotz ihrer dramatischen Intensität nicht als Katastrophe und gefährdete weder die Macht noch die Integrität Europas; man könnte sogar behaupten, daß sich Europa mit der Entkolonialisierung die Mittel für einen Neuanfang schenkte. So brennende und leidenschaftlich diskutierte Themen wie Abtreibung, Empfängnisverhütung, die Stellung der Frau und die universitäre Ordnung betrafen eigentlich keine grundlegenden Themen, sondern spiegelten eher symbolische und moralische Kämpfe wider. Die Kontroverse um den Geburtenrückgang, den die Konservativen der damaligen Zeit auf Abtreibung und Empfängnisverhütung zurückführten, ist nichts anderes. Auch die unglaublichen Kontroversen um die Beat-Generation (lange Haare, Popmusik, Drogen, „anfechtende“ Jugend), die mit starken politischen Spannungen aufgeladen waren und künstlich die ›Rechte‹ gegen die ›Linke‹ ausspielten, erweisen sich heute als völlig bedeutungslos: Sowohl diejenigen, die sich dem Stil der neuen Generation zur Verteidigung der bürgerlichen Werte widersetzten, als auch ihre „linken“ Gegner – die Verfechter von „Anfechtung“ und „Befreiung“, die verblendeten Träger „subversiver“ Ansichten – sind heute ernüchtert über die Vergeblichkeit ihres Kampfes. Jene Generation, deren Ideologie damals alle bestehenden Gesellschafts- und Machtstrukturen in Frage stellte, hat seither die Regierungsgeschäfte übernommen und die bürgerlichste, die konservativste Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht. (Dieses Phänomen erinnert an die Entwicklung in Rußland in den 1920er Jahren, als der leninistische Revolutionismus die gerontokratischste und rigideste Gesellschaft der Welt hervorbrachte).
Die damaligen Gegner haben sich nun um dasselbe Gesellschaftsmodell versöhnt. Was als Rammbock gegen die westliche bürgerliche Ordnung empfunden wurde (die von der gesamten Linken unterstützte „Jugendrevolte“), war in Wirklichkeit ein phantastischer Vorlauf zur Integration in dieselbe Ordnung. Was die wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen (z.B. für oder gegen Nationalisierungen) betrifft, so sinken auch sie auf das Niveau scholastischer Konfrontationen, da fast alle – links und rechts – die allgemeine Legitimität mit Unterschieden, die nur Nuancen sind, anerkennen; da fast alle schließlich den Streit um die soziale Revolution, die Diktatur des Proletariats, die kollektive und sozialistische Aneignung der Produktionsmittel vergessen haben. Diese ideologischen Gespenster sind endgültig verschwunden, nachdem sie das Bewußtsein der „Eliten“ noch vierzig Jahre nach ihrem eigentlichen Tod beherrscht haben.
Alles hat sich geändert. In den neu entstehenden Debatten geht es, wie bereits angedeutet, um das Überleben unserer Kultur und nicht um Nebensächlichkeiten, überholte ideologische Symbole oder Meinungsstreitigkeiten.
Die Problematik der Einwanderung und der multirassischen Gesellschaft, das mehr oder weniger stillschweigende Wiederaufleben der Judenfrage, die unerwartete Darstellung der UdSSR als neuer Teufel durch eine Mehrheit von Intellektuellen und Politikern, der radikale Kreditverlust des marxistisch-leninistischen Kommunismus und die Neuausrichtung der westeuropäischen Nationen auf den amerikanischen Atlantismus führten zu einer Neudefinition der Kernfragen. Was jetzt auf dem Spiel steht, ist wieder wesentlich geworden. Die neuen Debatten werfen bezeichnenderweise immer die entscheidende Frage der europäischen Identität auf.
Die Debatte kehrt paradoxerweise in einer Zeit zu den Kernfragen zurück, in der die öffentliche Meinung, die durch den doppelten Schock von „Krise und Hyperkonsum“ demobilisiert wurde, sich auf den Individualismus des Privatlebens konzentriert und der Militanz und des Engagements überdrüssig ist. Kein Vergleich also mit der vorangegangenen Phase, in der eine äußerst lebhafte Politisierung nur sekundäre Debatten betraf.
Die Rückkehr des Politischen findet in einer entpolitisierten Atmosphäre statt, denn der öffentliche „Geist“ trägt die Erinnerung an eine Zeit in sich, in der die Intensität der Politik nur auf der Abwesenheit von Politik beruhte. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis die neuen Herausforderungen, die noch auf die „Spezialisten der Ideologie“ beschränkt sind, in den schweren Körper des Volkes, den trägen Geist der Öffentlichkeit, eindringen und ihn beleben.
Steckt hinter diesem grenzenlosen innenpolitischen Narzissmus, hinter dieser allgemein zu beobachtenden Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Themen nicht auch ein Bedürfnis nach Verwurzelung, das den neuen Kernfragen innewohnt?
Die Rückbesinnung auf Traditionen und die Suche nach familiärer und regionaler Identität setzen sich allmählich in den kollektiven Mentalitäten fest, neben der pathologischen Psyche der Jahre des Wohlstands, die ausschließlich auf die narzisstische Suche nach wirtschaftlichem Prestige ausgerichtet war sowie der Verleugnung jeglicher Zugehörigkeit. Die vorherrschenden Meinungen in Europa – vor allem nach dem militärisch-politischen Schulterschluß mit den USA nach dem „Zweiten Kalten Krieg“ und der Stationierung amerikanischer Raketen (den konkreten Symbolen unserer Abhängigkeit) – offenbaren auch auf beiden Seiten des ›Eisernen Vorhangs‹ eine immer stärker werdende Abneigung gegen die Paktzugehörigkeit, gleichzeitig aber auch den Wunsch nach der Neutralität Europas, also eine mehr oder weniger zugestandene Abspaltung von westlichen Verpflichtungen.
Dennoch unterstützen politische Kreise (linke und rechte) seltsamerweise den amerikanischen Liberalismus, die atlantische Abhängigkeit von der NATO, ein Modell der kosmopolitischen und „multikulturellen“ Zivilisation (anstelle nationaler und europäischer Modelle), insbesondere in den Jahren, in denen aus den Tiefen der europäischen Völker die Ablehnung des Okzidentalismus, des Amerikanismus und des Atlantizismus sowie das Bedürfnis nach Identität und Selbstbehauptung aufsteigt. Mit anderen Worten, die letzten Jahre haben eine gewisse historische Trennung zwischen den politischen Kreisen und den Bevölkerungen bewirkt, insbesondere in den Ländern, die von der amerikanischen Re-Zentrierung betroffen sind: Italien, die Bundesrepublik Deutschland, die Benelux-Länder und Großbritannien.
Es ist, als würden wir einen Verrat unserer „Führer“ miterleben, das Aufkommen einer Spannung zwischen Völkern, die auf Verwurzelung bedacht sind, und Führern, die sich für Kosmopolitismus entscheiden, zwischen Bevölkerungen, die (bewußt oder unbewußt) eine europäische Identität wählen, und Berufspolitikern, die hauptsächlich darauf bedacht sind, weiterhin die Gunst des amerikanischen Beschützers zu gewinnen und die Idee und den Gedanken einer unabhängigen europäischen Persönlichkeit, sowohl auf politischer und geostrategischer Ebene als auch auf kultureller Ebene, zu leugnen. Diese sich abzeichnende Kluft zwischen den Völkern und ihren Führern muß positiv bewertet werden, insbesondere wenn die wirtschaftliche Lähmung (Rückgang der Stärke) anhält. Diese Kluft birgt unerwartete revolutionäre Erhebungen; Europa ist nicht, wie einige Soziologen wie Lipovetsky glauben mögen, zwangsläufig für immer aus der Ära der Revolution heraus.
Von den einzelnen Herausforderungen für die europäische Identität möchten wir hier drei besonders hervorheben: die multirassische Gesellschaft als Herausforderung für unsere anthropologische Persönlichkeit, die Dekulturation und der Verlust von Traditionen als Herausforderung für unser kulturelles Gedächtnis und die technomorphe Gesellschaft als allgemeine Herausforderung für unsere Kultur und Psyche. Die strategischen und wirtschaftlichen Bedrohungen, die ebenfalls zu den neuen Herausforderungen gehören, werden hier bewußt nicht berücksichtigt, weil das, worauf es ankommt und was den Rest bedingt, nach unserer Überzeugung im infrastrukturellen Bereich der kulturellen und ethnischen Identität liegt, also im Bereich des Inneren.
Quelle: https://www.arktosjournal.com