Alain de Benoist
mit einem Vorwort von Tomislav Sunic
Können wir uns die Wiederbelebung heidnischer Sensibilität in einem Zeitalter vorstellen, das so sehr vom jüdisch-christlichen Monotheismus durchdrungen ist und so eifrig an den Grundsätzen der liberalen Demokratie festhält?
Im Volksmund mag das Wort ›Heidentum‹ manche zu Spott und Gelächter veranlassen. Wer will denn schon mit Hexen und Hexerei, mit Zauberei und schwarzer Magie in Verbindung gebracht werden? In einer Zeit des Kabelfernsehens und der „intelligenten Waffen” Tiere oder Pflanzen zu verehren oder Hymnen an Wotan oder Zeus zu singen, verheißt nichts Gutes für eine ernsthafte intellektuelle und akademische Auseinandersetzung.
Doch bevor wir beginnen, das Heidentum zu verachten, sollten wir einen Moment innehalten. Heidentum ist nicht nur Hexen und Hexengebräu; Heidentum bedeutet auch eine Mischung aus hochspekulativen Theorien und Philosophien. Heidentum ist Seneca und Tacitus; es ist eine künstlerische und kulturelle Bewegung, die unter dem Banner der Renaissance über Italien hinwegfegte.
Heidentum bedeutet auch Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Charles Darwin und eine Vielzahl anderer Denker, die mit dem westlichen Kulturerbe verbunden sind. Zweitausend Jahre Judentum und Christentum haben nicht darüber hinwegtäuschen können, daß das heidnische Denken noch nicht verschwunden ist, auch wenn es oft von den monotheistischen Religionen und ihren säkularen Ablegern verwässert, unterdrückt oder verfolgt wurde.
Zweifellos würden viele zugeben, daß im Bereich der Ethik alle Männer und Frauen der Welt die Kinder Abrahams sind. Selbst die Kühnen, die etwas selbstgerecht behaupten, die christliche oder jüdische Theologie abgelehnt und durch einen „säkularen Humanismus” ersetzt zu haben, übersehen häufig, daß ihre selbst ernannten säkularen Überzeugungen fest in der jüdisch-christlichen Ethik verwurzelt sind.
Abraham und Moses mögen heute entthront sein, aber ihre moralischen Edikte und spirituellen Verordnungen sind sehr lebendig. Die globale und enttäuschte Welt, begleitet von der Litanei der Menschenrechte, der ökumenischen Gesellschaft und der Rechtsstaatlichkeit – sind das nicht Prinzipien, die sich direkt auf den jüdisch-christlichen Messianismus zurückführen lassen, der heute in seiner säkularen Version unter dem eleganten Gewand moderner „progressiver” Ideologien wieder auftaucht?
Und doch sollten wir nicht vergessen, daß die westliche Welt nicht mit der Geburt Christi begann. Auch die Religionen der alten Europäer erblickten nicht mit Moses in der Wüste das Licht der Welt. Auch unsere viel gepriesene Demokratie begann nicht mit der Zeit der Aufklärung oder mit der Ausrufung der amerikanischen Unabhängigkeit.
Demokratie und Unabhängigkeit – all das gab es schon im alten Griechenland, wenn auch in einem ganz eigenen sozialen und religiösen Kontext. Unsere griechisch-römischen Vorfahren, unsere Vorgänger, die durch die Wälder Mittel- und Nordeuropas zogen, glaubten ebenfalls an Ehre, Gerechtigkeit und Tugend, auch wenn sie diesen Begriffen eine völlig andere Bedeutung beimaßen.
Wenn wir also versuchen, die politischen und religiösen Manifestationen des alten Europa durch unsere ethnozentrische und reduktionistische Brille zu beurteilen, könnten wir aus den Augen verlieren, wie sehr wir uns von unserem antiken Erbe entfernt haben, und vergessen, dass die moderne intellektuelle Erkenntnistheorie und Methodologie stark von der Bibel beeinflußt wurde.
Nur weil wir uns zu historischem Optimismus bekennen – oder an den Fortschritt des modernen „therapeutischen Staates” glauben –, heißt das nicht unbedingt, daß unsere Gesellschaft tatsächlich die „beste aller Welten” ist.
Wer weiß, vielleicht erleben wir mit dem Tod des Kommunismus, mit der Erschöpfung des Liberalismus, mit dem sichtbaren Schwinden der Gemeinden in Kirchen und Synagogen den Anbruch des Neuheidentums, ein neues Aufblühen alter Kulturen, eine Rückkehr zu den Wurzeln, die direkt mit unseren antiken europäischen Vorläufern verbunden sind. Wer kann schon bestreiten, daß Athen die Heimat der Europäer war, bevor Jerusalem zu ihrem oft schmerzvollen Bauwerk wurde?
Aus allen Ecken unserer desillusionierten und öden Welt ist heute großes Wehklagen zu hören. Die Götter scheinen von uns gegangen zu sein, wie Nietzsche vor einem Jahrhundert prophezeite, die Ideologien sind tot, und der Liberalismus scheint kaum in der Lage zu sein, dem Menschen einen dauerhaften geistigen Halt zu geben.
Vielleicht ist die Zeit gekommen, nach anderen Paradigmen zu suchen? Vielleicht ist die Zeit reif für eine neue kulturelle und spirituelle Revolution, wie sie Alain de Benoist anstrebt – eine Revolution, die unser vorchristliches, heidnisches Erbe in Europa aufgreifen könnte?
Tomislav Sunic
Nietzsche verstand die Bedeutung von „Athen gegen Jerusalem“ sehr gut. Unter Bezugnahme auf das antike Heidentum, das er „den größten Nutzen des Polytheismus” nannte, schrieb er in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹:
Da gab es nur Eine Norm:, „der Mensch“ — und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu haben. Aber über sich und außer sich, in einer fernen Überwelt, durfte man eine Mehrzahl von Normen sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen.
Die Erfindung von Göttern, Heroen und Übermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn.
Der Monotheismus dagegen, diese starre Konsequenz der Lehre von Einem Normalmenschen — also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt — war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit.
Jehova ist nicht nur ein „eifersüchtiger” Gott, sondern er kann auch Haß zeigen:
Und doch habe ich Jakob geliebt und Esau gehaßt. (Maleachi 1:3)
Er empfiehlt allen, die seinen Namen anrufen, Haß:
Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden. (Psalm 139, 21-22)
Gott, bring sie doch alle um, die dich und deine Gebote mißachten! Halte mir diese Mörder vom Leib! (Psalm 139,19)
Jeremia schreit auf:
Vergelt’s ihnen, Herr, nach dem Werk ihrer Hände. . . . Verfolge sie mit Grimm und vertilge sie unter dem Himmel des HERRN. (Klagelieder 5,64-66)
Das Buch Jeremia ist eine lange Reihe von Verwünschungen und Flüchen, die über Völker und Nationen verhängt werden. Seine Betrachtung der künftigen Strafen erfüllt ihn mit düsterer Freude.
Laß die zuschanden werden, die mich verfolgen, und nicht mich; laß sie erschrecken, und nicht mich. Laß den Tag des Unheils über sie kommen und zerschlage sie zwiefach! (Jeremia 17,18)
Laß ihre Kinder verhungern und sie selbst durch das Schwert der Feinde umkommen! Die Frauen sollen ihre Kinder verlieren und zu Witwen werden! Laß die Männer den Tod finden, und die jungen Soldaten sollen im Kampf niedergemetzelt werden! (Jeremia 18,21)
Außerdem verspricht Jehova den Hebräern, daß er sie in ihren Kriegsanstrengungen unterstützen wird:
Wenn der Herr, dein Gott, die Völker, in deren Land du hineinziehst, um ihren Besitz zu übernehmen, vor dir niedergestreckt hat, wenn du ihren Besitz übernommen hast und dort wohnst (Deuteronomium 12:29)
Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. (Deuteronomium 20,16)
Jehova selbst gab ein Beispiel für einen Völkermord, indem er die Sintflut gegen die Menschheit auslöste, die gegen ihn gesündigt hatte.
Als David bei dem Philisterkönig Achisch wohnte, beging er ebenfalls Völkermord (1. Samuel 27:9)
Mose organisierte die Ausrottung des Volkes Midian. Josua ließ die Einwohner von Hazor und Anakim massakrieren.
In jener Zeit kehrte Josua um und nahm Hazor ein, und seinen König erschlug er mit dem Schwert. Denn Hazor war damals die Hauptstadt all dieser Königreiche. Und sie schlugen alles Leben, das darin war, mit der Schärfe des Schwertes, indem sie den Bann ⟨an ihnen⟩ vollstreckten: Nichts Lebendes blieb übrig. Hazor aber verbrannte er mit Feuer. (Josua 11:10-11, 20-21)
Der von Salomo gepriesene messianische König war auch für seine Schreckensherrschaft bekannt:
Möge er Jerusalem reinigen für alle Heiden, die es elend zertreten, möge er durch seine Weisheit und Gerechtigkeit die Sünder dieses Landes ausrotten. . . . Möge er die gottlosen Völker mit den Worten aus seinem Mund vernichten.
Der Haß gegen die Heiden wird auch in den Büchern Esther, Judith usw. deutlich.
Keine andere antike Religion außer der des hebräischen Volkes hat ein solches Maß an Intoleranz gekannt, sagt Emile Gillabert in ›Moise et le phénomène judéo-chrétien‹ (1976).
Renan hatte sich ähnlich geäußert:
Die Intoleranz der semitischen Völker ist die unvermeidliche Folge ihres Monotheismus. Die indoeuropäischen Völker hatten, bevor sie zu den semitischen Ideen übertraten, ihre Religion nie als absolute Wahrheit betrachtet. Sie betrachteten sie vielmehr als ein Erbe der Familie oder der Kaste, und auf diese Weise blieben ihnen Intoleranz und Proselytismus fremd. Deshalb finden wir bei diesen Völkern die Freiheit des Denkens, den Forschergeist und die individuelle Erkenntnis.
Natürlich sollte man dieses Problem nicht schwarz-weiß betrachten oder etwa eine Plattitüde mit einer anderen Plattitüde vergleichen und kontrastieren. Es hat immer und überall Massaker und Ausrottungen gegeben. Aber es wäre schwierig, in den heidnischen Texten, seien sie heiliger oder profaner Natur, ein Äquivalent zu dem zu finden, was man in der Bibel so häufig antrifft: die Vorstellung, daß diese Massaker moralisch gerechtfertigt sein könnten, daß sie von einem Gott bewußt autorisiert und angeordnet werden könnten,
wie Mose, der Knecht des HERRN, geboten hatte (Josua 11,12)
So herrscht bei den Tätern dieser Verbrechen weiterhin ein gutes Gewissen, nicht trotz dieser Massaker, sondern gerade um der Massaker willen.
Über diese Tradition der Intoleranz ist schon viel Tinte vergossen worden. Besonders umstritten sind die Worte Jesu, die bei Lukas überliefert sind:
Wer zu mir kommt und haßt nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern und auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. (Lukas 14,26)
Einige behaupten, in dem Wort „hassen” eine gewisse Form des Hebraismus zu erkennen; offenbar suggerieren diese Worte, daß Jesus allen anderen Menschen absolut vorzuziehen sei. Andere behaupten, darin Spuren gnostischer Verunreinigung zu sehen, die auf Verzicht, Entbehrung von Gütern und Verweigerung der Fortpflanzung hindeuten. In diesem Zusammenhang wird die Verpflichtung, seine Eltern zu „hassen”, als eine Folge des Verzichts auf Kinder angesehen.
Diese Interpretationen bleiben reine Spekulationen. Sicher ist, daß sich die christliche Intoleranz schon sehr früh manifestiert hat. Im Laufe der Geschichte richtete sich diese Intoleranz sowohl gegen „Ungläubige” als auch gegen Heiden, Juden und Häretiker. Sie ging einher mit der Vernichtung aller Aspekte der antiken Kultur – der Ermordung von Julius von Hypatia, dem Verbot heidnischer Kulte, der Zerstörung von Tempeln und Statuen, der Unterdrückung der Olympischen Spiele und der Brandstiftung in Alexandria im Jahr 389 n. Chr. auf Betreiben des Bischofs Theophilus von Sarapeum, dessen immense Bibliothek mit 700.000 Bänden von den Ptolomäern gesammelt worden war. Es folgten die Zwangskonvertierungen, die Auslöschung der positiven Wissenschaft, Verfolgung und Scheiterhaufen. Ammianus Marcellinus sagte:
Die wilden Tiere sind den Menschen weniger feindlich gesinnt als die Christen untereinander.
Sulpicius Severus schrieb:
Jetzt ist alles durch die Uneinigkeit der Bischöfe in die Irre gegangen. Überall sieht man Haß, Mißgunst, Angst, Eifersucht, Ehrgeiz, Ausschweifung, Geiz, Hochmut, Trägheit: überall herrscht allgemeine Verderbnis.
Das jüdische Volk war das erste, das unter dem christlichen Monotheismus zu leiden hatte. Die Ursachen des christlichen Antisemitismus, der seine erste „Rechtfertigung” im Johannesevangelium fand (das wahrscheinlich unter dem Einfluß des Gnostizismus geschrieben wurde und dem zahlreiche Studien gewidmet sind), liegen in der Nähe des jüdischen und des christlichen Glaubens.
Wie Jacques Sole bemerkt: „Man verfolgt ja nur seine Nächsten”. Nur eine „kleine Kluft” trennt Juden und Christen, aber wie Nietzsche sagt, „die kleinste Kluft ist die am schwersten zu überbrückende”. In den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung erwuchs der Antisemitismus aus dem christlichen Anspruch, Nachfolger des Judentums zu sein und ihm seine „wahrhaftige” Bedeutung zu verleihen.
Für die Christen kommt „das Heil von den Juden.” (Johannes 4,22), aber nur das Christentum kann „verus Israel” sein. Daher der Ausdruck „perfidi”, der bis vor kurzem von der Kirche in den Gebeten am Karfreitag auf die Juden angewandt wurde – ein Ausdruck, der „ohne Glauben” bedeutet und dessen Bedeutung sich von dem modernen Wort „perfide” unterscheidet.
Der „heilige” Paulus war der erste, der diese Unterscheidung formulierte. Als er das Gesetz durch die Gnade ersetzte, unterschied Paulus zwischen dem „Israel Gottes” und dem „Israel nach dem Fleisch” (1. Korinther 10,18), was ihn auch dazu veranlaßte, die Beschneidung abzulehnen:
Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist; auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und [seine] Beschneidung [geschieht] am Herzen, im Geist, nicht dem Buchstaben nach. Seine Anerkennung kommt nicht von Menschen, sondern von Gott. (Römer 2,28-29)
Schlußfolgerung:
Denn die Beschnittenen sind wir, die wir im Geist Gottes dienen und uns in Christus Jesus rühmen und nicht auf irdische Vorzüge vertrauen. (Philipper 3,3)
Dieses Argument hat aus christlicher Sicht eine gewisse Kohärenz. Wenn, wie Claude Tretmontant sagt, der letzte „Nabis“ Israels, der Rabbi Yohushua von Nazareth, also Jesus, wirklich ein Messias ist, dann muß die Berufung Israels zum „Leuchtturm der Völker” vollständig erfüllt und der in dieser Berufung enthaltene Universalismus vollständig in die Praxis umgesetzt werden. So wie das Gesetz, das mit Christus (im doppelten Sinne des Wortes) zu Ende gegangen ist, nicht mehr notwendig ist, so ist auch die Unterscheidung zwischen Israel und den anderen Völkern hinfällig geworden:
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. (Galater 3,28)
Folglich muß das universale Christentum zum „verus Israel” werden.
Dieser Prozeß, der seinen Ursprung in der paulinischen Reform hat, hat eine doppelte Konsequenz gehabt. Zum einen hat er zur Verfolgung der Juden geführt, die aufgrund ihrer „genealogischen” Nähe als die schlimmsten Feinde des Christentums dargestellt werden. Sie sind die Gegner, die sich weigern, zu „konvertieren”, die sich weigern, das Christentum als das „wahre Israel” anzuerkennen.
Wie Shmuel Trigano feststellt, „hat der Westen, indem er sich selbst als das neue Israel projiziert, dem Judentum de facto eine Zuständigkeit übertragen, wenn auch nicht das Recht, es selbst zu sein”. Das bedeutet, daß der Westen in dem Maße „israelitisch” werden kann, wie er den Juden das Recht abspricht, Israeliten zu sein. Von nun an kann der Begriff des „Judäo-Christentums” als eine doppelte Inhaftierung definiert werden. Er sperrt „das christliche Abendland” ein, das sich selbst bewußt einer fremden „Jurisdiktion” unterworfen hat und dadurch eben diese Jurisdiktion seinen legitimen (jüdischen) Eigentümern verweigert.
Darüber hinaus hält es die Juden gefangen, die aufgrund ihrer Religion, die nicht die ihre ist, nun unverdientermaßen an dem Ort gefangen sind, an dem sie mit Hilfe einer Religion, die nicht die ihre ist, „vollendet” werden sollen.
Trigano fügt weiter hinzu:
Wenn das jüdische Christentum die Grundlagen des Westens gelegt hat, dann ist der Ort Israels selbst auch der Westen.
Infolgedessen müssen die Erfordernisse der „Verwestlichung” auch zu den Erfordernissen der Assimilation und „Normalisierung” und der Verleugnung der Identität werden.
Die Krise der jüdischen Normalität ist die Krise der Verwestlichung des Judentums. Aus dem Westen auszusteigen bedeutet daher für die Juden, ihrer ‚Normalität‘ den Rücken zu kehren, d.h. sich ihrem Anderssein zu öffnen.
Dies scheint der Grund zu sein, warum die jüdischen Gemeinden heute das „westliche Modell” nur dann kritisieren, wenn sie zuvor ihre eigene spezifische Geschichte einer halb-amnesischen und halb-kritischen Haltung angenommen haben.
In Anbetracht dessen kann der christliche Antisemitismus zu Recht als ›Neurose‹ bezeichnet werden. Wie Jean Blot schreibt, ist das Abendland aufgrund seiner „Veranlagung zur Entfremdung” nicht in der Lage, „sich selbst zu verwirklichen oder wiederzuentdecken”. Und aus dieser Quelle entspringt die antisemitische Neurose.
Der Antisemitismus erlaubt es dem Antisemiten, seine eigenen Neurosen auf den Juden zu projizieren. Er nennt ihn einen Fremden, weil er selbst ein Fremder ist, ein Gauner, ein Mächtiger, ein Parvenü; er nennt ihn einen Juden, weil er selbst dieser Jude im tiefsten Inneren seiner Seele ist, immer unterwegs, ständig entfremdet, ein Fremder gegenüber seiner eigenen Religion und gegenüber Gott, der ihn verkörpert.
Indem der Westen seinen ursprünglichen Mythos durch den Mythos des biblischen Monotheismus ersetzt hat, hat er den Hebraismus zu seinem eigenen Über-Ich gemacht. Als unvermeidliche Folge mußte sich der Westen gegen das jüdische Volk wenden, indem er ihm vorwarf, die „Bekehrung” nicht im Sinne der „logischen” Entwicklung vom Sinai zum Christentum zu betreiben. Darüber hinaus beschuldigte der Westen das jüdische Volk, in einem offensichtlichen „Gottesmord” zu versuchen, diese Entwicklung zu behindern.
Viele gehen auch heute noch davon aus, daß das „jüdische Problem” verschwinden würde, wenn die Juden ihre eigene Identität aufgeben würden. Im besten Fall ist dies eine naive Behauptung, im schlimmsten Fall verbirgt sich dahinter eine bewußte oder unbewußte Form des Antisemitismus.
Darüber hinaus stellt diese Behauptung, die dem Rassismus der Assimilation und der Verleugnung der Identität innewohnt, die Kehrseite des Rassismus der Ausgrenzung und Verfolgung dar. Im Westen, so Shmuel Trigano, wurden die Juden, wenn sie nicht verfolgt wurden, „nur unter der Bedingung als Juden anerkannt, daß sie zuerst aufhören, Juden zu sein”.
Mit anderen Worten: Um akzeptiert zu werden, mußten sie sich selbst ablehnen; sie mußten auf ihr eigenes Anderes verzichten, um auf das Gleiche reduziert zu werden. In einer anderen Form des Rassismus werden die Juden akzeptiert, aber verleugnet; in der ersten werden sie akzeptiert, aber nicht anerkannt. Die Kirche stellte die Juden vor die Wahl zwischen Ausgrenzung (oder physischem Tod) und Selbstverleugnung (geistiger und historischer Tod). Nur durch Bekehrung konnten sie „Christen wie andere” werden.
Die Französische Revolution emanzipierte die Juden als Individuen, verdammte sie aber dazu, als „Nation” zu verschwinden; in diesem Sinne wurden sie gezwungen, „Bürger wie andere” zu werden. Auch der Marxismus versuchte, die „Befreiung” des jüdischen Volkes zu gewährleisten, indem er ihm eine Klassenspaltung auferlegte, die unweigerlich zu seiner Zerstreuung führte.
Die Ursprünge des modernen Totalitarismus sind nicht schwer zu erkennen. In säkularer Form sind sie mit denselben radikalen Formen der Intoleranz verbunden, deren religiöse Ursachen wir gerade untersucht haben. Die Organisation des Totalitarismus ist der Organisation der christlichen Kirche nachempfunden, und in ähnlicher Weise machen sich Totalitarismen die Themen der „Massen” zunutze – die Themen, die der heutigen Massendemokratie eigen sind.
Diese Säkularisierung des Systems hat den Totalitarismus in der Tat gefährlicher gemacht – unabhängig von der Tatsache, daß religiöse Intoleranz im Gegenzug oft eine ebenso zerstörerische revolutionäre Intoleranz auslöst.
Der Totalitarismus, schreibt Gilbert Durand, wird noch dadurch gestärkt, daß die Befugnisse der monotheistischen Theologie (die zumindest das Spiel der Transzendenz intakt ließ) auf eine menschliche Institution, den Großinquisitor, übertragen wurden.
Es ist ein schwerwiegender Irrtum anzunehmen, daß der Totalitarismus nur dann seinen wahren Charakter zeigt, wenn er sich eines erdrückenden Zwanges bedient. Die historische Erfahrung hat gezeigt – und zeigt es auch weiterhin –, daß es einen „sauberen” Totalitarismus geben kann, der auf „sanfte” Weise die gleichen Folgen zeitigt wie die klassischen Formen des Totalitarismus. Die „glücklichen Roboter” von ›1984‹ oder von ›Brave New World‹ haben keine beneidenswerteren Bedingungen als die Häftlinge in den Lagern.
Der Totalitarismus wurde im Grunde genommen nicht von Saint-Just, Stalin, Hegel oder Fichte erfunden. Vielmehr entsteht Totalitarismus, wie Michel Maffesoli sagt, „wenn eine subtile Form der pluralen, polytheistischen und widersprüchlichen Totalität, die der organischen Interdependenz innewohnt”, durch eine monotheistische ersetzt wird.
Der Totalitarismus entspringt dem Wunsch, eine soziale und menschliche Einheit herzustellen, indem die Vielfalt der Individuen und Völker auf ein einziges Modell reduziert wird. In diesem Sinne sei es legitim, von einer „polytheistischen sozialen Arena zu sprechen, die sich auf mehrere und komplementäre Götter bezieht”, im Gegensatz zu einer „monotheistischen politischen Arena, die auf der Illusion der Einheit beruht”.
Sobald der Polytheismus der Werte „verschwindet, stehen wir vor dem Totalitarismus”. Das heidnische Denken hingegen, das grundsätzlich der Verwurzelung und dem Ort verbunden bleibt und ein bevorzugtes Kristallisationszentrum der menschlichen Identität ist, lehnt alle religiösen und philosophischen Formen des Universalismus ab.