Gerhard Hess
Runenbegriff: germ. isaz. isan (Eis, Eisen)
Phonetischer Wert: i
Bildkürzel: Todesgeschoß (Eis-/Eisenpfeil)
Zeitspanne: Ende Juni
Tyrkreiszeichen: Krebs („der böse Krebs“)
Sakralfest: Balders Todgedenken
Sonnenvogelschießen. Anfang Juli ist der Tageslichtverlust bereits spürbar. Die Kultfeste um Baldurs Tod (Baldur: Inkarnation alles Hellen und Guten) wurden anberaumt in Gestalt von Schießspielen, die sich bis heute im Schuß auf den Sonnenvogel erhalten haben.
Die -Rune versinnbildlicht eindringlich das Phänomen des Abschwungs, des Niederganges und letztlich des Todes. Die 14. Karte des ältesten erhalten gebliebenen Tarots, dem von Bologna, heißt ›Der Tod‹, dargestellt ist ein Knochenmann mit Sense. Vierzehn Tage benötigt der Mond für seine Abnahme bis in die Schwarzmondnacht. In 14 Stücke zerriß der Satan Seth-Typhon den getöteten Osiris oder Dionysos, die Allegorie des Naturlebens.
„Baldrs draumar“ heißt ein Lied der Edda, das von den bösen Ahnungen erzählt, die Balder plagen. Es behandelt das schlimme Geschehen um des milden Gottes Tod, es umfaßt vierzehn Verse.
In dieser Runenphase stirbt der lichte Vegetationsheros Balder, denn jetzt erst werden die Tagesverkürzungen sichtbar. In unserer nordischen Geisteskultur mußte das ›Eis‹ schon wegen der klimatischen Gegebenheiten zum zentralen Todessymbol werden.
Aus gleicher Wortwurzel stammt aber auch ›Eisen‹, das kalt glänzende Metall tödlicher Waffen, der Pfeilspitzen und Dolche – Inbegriffe des ›Kaltmachens‹, Allegorien des Sterbens.
Die Dichtersprache zur Edda-Zeit redete z. B. von der „Walküre Eis“ („skylr isa ar flest megin“) und meinte das eiserne Schwert. Der wölfische Unhold in der Tierfabel ist der Isegrim, die›Eisenmaske‹. Im Kanton Zürich gilt der Isegrind als ein böser Geist. So ist es nicht verwunderlich, daß der altnordische Helgi, der heilige Held, einen Gegner namens Isung hat.
Und im mhd. Gedicht vom König Orendel gibt es einen Meister Îse, einen Greis von langer Gestalt, zwischen den Augen zwei Spannen weit, von furchtbarem Gange, ein gewaltiger Krieger, in einer großen Burg wohnend. Sagenforscher bezeichneten ihn als Verkörperung des winterlich stürmenden Meeres, dessen Behausung aus aufgetürmten Eismassen bestünde. So gibt sich der runische Eisstab uneingeschränkt zu erkennen als negativer Aspekt des Abstiegs – mythisch gesehen als Harmpfeil, als Schwarzalbengeschoß, Todesspeer oder -schwert.
Der dunkle Bruder will nur zur Macht,
doch Loke hat Baldur den Tod zugedacht.
Der Loke, die Lüge, die Unheil sät,
er ist es, der Hödur zur Tücke rät.
Den Mistelzweig reicht er, den mickrigen Spross,
der gerät zum gräßlichen Galder-Geschoss.
Warum soll die Mistel zum Tode taugen ?
Wohl‘ weil sie schmarotzend die Kraft mag saugen.
Aus der Ader der Eiche saugt sie das Blut;
drum sei auf der Hut vor der „Mistelbrut“.
Ist der Mythos der Mistel mehrdeutig zu denken,
mögen Quellen Vermehrung der Klärung schenken ?
Der Mistelzweig schien schlank, glänzend und glatt
wie ein Schwert, das schimmernde Schneiden hat.
War der „Mistilteinn“ ein Zauberschwert,
das die Helfer der Hölle dem Hother beschert ?
War der „Wundenzweig“ aus dem „kalten Wald“,
aus der Eisregion, von Kristall-Gestalt ?
Aus den tiefen Tälern der Trolle und Joten,
wo Schrate, Schrättel und Schelme drohten,
schrecklichen, schattigen, sehrenden Schluchten,
bresthaften, garstigen Barren und Buchten,
vom nördlichsten Norden, aus Nebelheim,
holte sich Hother den karigen Keim.
Eine Waffe, aus solchen Wurzeln geworden,
wußte das lachende Leben zu morden.
All die breiten Berichte, die wir befragen,
verstehen sehr sicher, nur eines zu sagen:
Von dem traurigen Drama um Baldurs Ende
erzählte man mehr als nur eine Legende.
Beitragsbild: Jan Fibinger