Prof. Werner Haverbeck
Auszug aus einem Vortrag am 14.10.1972 auf dem Lebensschutzkongreß in Gießen
Die Verschmutzung des Ich
Sehen Sie: Das ist die furchtbarste Anklage, die gegen ein gesellschaftliches System gerichtet werden muß, das wahrhaft tyrannisch sich der Seelen der Menschen bemächtigt hat! „Recht, Tugend, Glauben und Gewissen hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen, errette sie…!” So sang einst während der napoleonischen Knechtschaft Preußens ein Freiheitsdichter [Theodor Körner, 1813] — wie harmlos war doch jene „Fremdherrschaft” gegenüber der „Entfremdung” der Seelen durch den heutigen Geschäftsungeist, für den die Wirtschaft das beherrschende „maß”-gebende Element und Prinzip des gesellschaftlichen Lebens wie des individuellen Strebens geworden ist: „mehr Geld, noch mehr Geld und darum immer größeres Wachstum!” Diese Vergiftung der Seelen gehört zur „toxischen Gesamtsituation”, von der die Ärzte sprechen.
Schlimmer als die Ausbeutung des Menschen während der Industrialisierung, und in der Sklavenhalterschaft des kolonialen Imperialismus, schlimmer auch als die bestürzend naive Ausbeutung der Rohstoffquellen der Erde und die Vergeudung wertvollster Grundstoffe, schlimmer als diese sinnlose, weil keineswegs notwendige Gefährdung der Menschheitszukunft um des bloßen Profits willen, schlimmer noch als die politische Macht der Wenigen in den multinationalen Konzernen erscheint mir diese Vergiftung der menschlichen Seelen und schlimmer noch als die Folgeerscheinungen der Verschmutzung der Erde die „Verschmutzung des Ich”. Das alles verdanken wir dem System mit dem Antlitz der Unmenschlichkeit, das sich selbst das kapitalistische genannt hat, weil es ausschließlich vom Interesse der Kapitalvermehrung bestimmt ist.
Es ist beachtenswert und tröstlich zugleich, daß wachsende Einsicht von links bis rechts zur gesellschaftlichen Besinnung führt und nach neuen Wegen im Wirtschaftsleben suchen läßt. Die Zeichen der Zeit sind deutlich: Die Notwendigkeit der Ablösung dieses Systems ist unabdingbar für die Gesundung unserer Gesellschaft und die Rettung der Erde. Die Aufgabe, deren Erfüllung allein verhüten kann, daß wir in den Abgrund gezogen werden, ist die Überwindung des verabsolutierten ökonomischen Denkens in uns selbst, denn „niemand kann zwei Herren dienen, er dient entweder, dem Mammon oder Gott” –Sie können auch sagen: „dem Geist”.
Das ist eine Alternative, die schon vor zwei Jahrtausenden, in der Geburtsstunde des Abendlandes, als unausweichlich aufgezeigt worden ist, und die heute wie ehedem gilt. Der „Mammonismus” oder anders gesagt: der Primat der Wirtschaft, deren ausschließliche Vorherrschaft im Denken, Streben und Leben der Menschen muß allseits überwunden werden in den Ländern, deren Regierungen sich offiziell noch zum kapitalistischen System zu bekennen sich gezwungen sehen – in welcher Form auch diese Marktwirtschaft als „sozial” verbrämt wird – ebenso wie in denen, die zwar eine sozialistische Anti-Stellung bezogen haben, aber dennoch den Leitbildern des kapitalistischen Götzen „Lebensstandard” nacheifern, auch diese scheinbar immer noch geleitet vom Aberglauben an das permanente Wachstum.
Die endgültige Bewältigung der Entfremdung steht vor uns allen noch als gemeinsame Aufgabe. An ihrem Anfang steht die einfache Erkenntnis: Der Mensch ist nicht für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für den Menschen. Jedoch bleiben – wir haben es oft genug erfahren – moralische Appelle aussichtslos. Wir müssen „radikaler” fragen, wir müssen den Erscheinungen „an die Wurzel gehen”.
Wir sprechen von Entfremdung und keineswegs nur von Verschmutzung. Verschmutzung kann man abwaschen – sogar Wasser kann man „waschen”, nämlich chemisch reinigen, fragt sich nur, ob es dann noch lebendiges Wasser ist. Darum sprechen wir wohl vom „Umweltschutz vor Umweltschmutz”, aber wir wissen natürlich, daß es mit der Abwehr einiger zusätzlicher Schädigungen nicht getan ist und daß die heute sogar schon industriell und natürlich kommerziell betriebene Umwelt-Kosmetik kein Ausweg aus der Misere ist.
Von der Entfremdung sprechen heißt: eine Vorstellung von einem nichtentfremdeten Vor- oder Ur-Bild haben und nach den Ursachen seines Verlustes fragen.
Da hören wir: Die Wirtschaft ist schuld, aber selbstverständlich schaffen Wirtschaften und Produzieren die unabdingbare menschliche Existenzbasis. Die Entwicklungsländer wissen das. Und Indien erfährt, ja erleidet dies auf’s neue! Nicht wenige haben gemeint: Die Technik ist schuld. Aber die emotionalen Technikfeinde müssen sich sagen lassen, daß die Technik zum Menschen gehört als Komplement seines Leibes, als ein unentbehrliches Organ, in dem die Bildekräfte des Lebens zu einer neuen Schöpfung durch Hirn und Hand des Menschen weiterwirken. Gerade dies Bewußtsein von seiner schöpferischen Arbeit gab bisher dem Menschen im Reich des Lebendigen Rang und Würde.
Die innere Aushöhlung des Menschen nahm in dem Maße zu, als sein Selbstverständnis verblaßte. In dem Augenblick, in dem das Bewußtsein von der Sonderstellung des Menschen in der Natur aufgegeben wurde, war auch seine Menschlichkeit in Frage gestellt: ein Wesen unter vielen, das sich im angeblichen „Kampfe ums Dasein” zu behaupten hat. Von solcher Anschauung her ist der Mensch zur rücksichtslosen Durchsetzung legitimiert, er selbst nichts anderes als ein „Raubtier” von besonderer List – „das sich kämpfend-tötend, siegend zu behaupten hat”, wie Spengler es formuliert hat.
Wer sich als Raubtier versteht, wird dazu! Wir sollten uns darum weder einer sozialdarwinistisch denkenden Wissenschaft ausliefern, noch auf alte Vorstellungen vom Menschen berufen, sondern uns nur auf unsere eigene Wahrnehmung stützen, um uns als mündige Bürger ein persönliches Urteil zu bilden – auch in dieser Frage nach dem Wesen des Menschseins.
Das Wesen des Menschseins
Wir kommen zu der Frage nach dem „gesunden” oder „natürlichen” Zustand des Menschseins. Es ist eine schmerzvolle Lebenserfahrung, daß der Mensch zumeist erst im Verlust erkennt, was er besessen hat. So hat auch die Medizin am Ausfall eines Organes dessen Bedeutung verstanden. Und erst der Eingriff in die natürlichen Zusammenhänge lehrt uns in der Gegenwart, den Haushalt des Lebens zu überschauen, dessen Gleichgewicht nicht ungestraft gestört wird. So wie die aus der ärztlichen Beobachtung und Forschung entwickelte Physiologie für den menschlichen Körper, so ist die junge Wissenschaft von der „Ökologie”, vom „Haushalt” der Natur, zur Lehre vom Organismus der Erde geworden.
Doch diese neue Schau vom Leben als Ganzheit, von der gegenseitigen Bezüglichkeit alles Lebendigen, wäre fragmentarisch, wenn sie den Menschen als bloße „zufällige” Zutat und neuerdings nur als Störer, ja Zerstörer der Natur ansehen würde, den die Natur im besten Falle an sich selbst zugrundegehen lassen, also wieder abschütteln könnte.
Auch der Mensch muß in die Ökologie voll einbezogen werden. Ist er doch nicht nur – rein phänomenologisch betrachtet – das letzte Glied der Evolution, sondern deren „Sprung” in eine neue Daseinsebene: Im Menschen erst erwacht die „blinde” Natur zum vollen Bewußtsein und gewinnt das stumme Naturgesetz Sprache. Im menschlichen Gehirn „schafft sich” die Natur das Organ, durch das sie zum Denken gelangt: Die Bewußtwerdung der Evolution im Menschen – das ist der Sinn und die Würde des Menschseins.
So könnte auch gesagt werden: Der Mensch ist Ziel und Sinn der Evolution, der Entwicklung des Lebens auf dieser Erde, so wie die alteuropäische Philosophie in Griechenland es ausspricht: anthropos panton metron – „der Mensch ist das Maß aller Dinge” (Protagoras), Und damit steckt in allen Dingen das „Maß” des Menschen! Wie Christian Morgenstern es ausspricht: „Ich und die Welt sind eines nur …” So tue ich das, was ich der Welt antue, mir selbst an. Aus solcher Erkenntnis könnte allerdings ein neues „UmWelt”-Verhalten entstehen.
Worin bekundet sich nun das Maß? Vorläufig wohl kaum in der menschlichen Verhaltensweise, jedoch immer noch in der Ausbildung der menschlichen Gestalt: „Der Mensch ist eine Offenbarung des Geistes durch seinen Leib”. (Rudolf Steiner)
Das hat ja die Bildner im alten Griechenland sich um die noch heute von uns bewunderte Wiedergabe des Menschenleibes immer wieder bemühen lassen. Denn in ihm liegt das Maß der Harmonie, die dadurch zustande kommt, daß die Natur selbst im Menschen „Maß gehalten” hat.
Wie ist das zu verstehen? Die Anthropologie als Lehre von Ursprung, Werden und Zustand des Menschen zeigt den grundlegenden Unterschied zwischen Tier und Mensch: Während die Gliedmaßen des tierischen Körpers Werkzeugcharakter ausbilden, wird diese Spezialisierung beim Menschenembryo bereits vermieden durch eine Zurückhaltung, die sogenannte Retention. Diesem Prinzip verdanken wir die unspezialisierte und dadurch frei erhaltene allseits bewegliche und verwendbare Hand als Voraussetzung allen menschlichen Schaffens.
Und die gleichzeitige Spezialisierung des menschlichen Gehirns wäre ebenfalls nicht möglich geworden ohne Retention, die ein zu großes Wachstum der Gestalt zurückhielt, weil sonst die Körpermasse die Steuerungsfunktionen des Hirns voll beansprucht und keinen „Überhang” zur Ausbildung einer freien Intelligenz ermöglicht hätte. Technik und Kultur, alles, was wir je geschaffen haben und geworden sind, verdanken wir diesem Gestaltungsprinzip.
Das Prinzip der Retention, der Zurückhaltung, das hier waltete, ist entsprechend im ersten Erwachen des menschlichen Bewußtseins als die ›conditio humana‹, als die menschliche Voraussetzung schlechthin in den alten Philosophien bereits erkannt worden: Das Streben nach dem rechten Maß, nach der Selbstbeherrschung ausschweifender Empfindungen und ungezügelten Wollens, es ist allen antiken Weisheitslehren eigen.
In dem Maße, in dem der Mensch das Maß bewußt setzt, beginnt er Mensch zu werden und seine Freiheit, gerade auch die von sich selbst, zu begründen. Demgegenüber bedeutet die Störung des Maßes und des Gleichgewichtes eine Erkrankung des Organismus, handele es sich nun um die einzelmenschliche Individualität in ihrer ausgewogenen Dreiheit von Leib, Seele und Geist oder um den sozialen Organismus in seiner dreifachen Gliederung von Wirtschaft, menschlicher Kommunikation im Staat und Geistesleben (Kultur).
Indem ausschließlich der physischen Erscheinung, dem, was meßbar, zählbar, wägbar ist, reale Bedeutung zugesprochen wird, tritt diese in den Mittelpunkt des Bewußtseins und beherrscht zunehmend und heute fast ausschließlich das menschliche Denken. Die Wirtschaft verliert ihren dienenden Charakter als menschliche.Existenzbasis und ist, wie wir sahen, zur beherrschenden Macht über Staat und Kultur, zum Maß aller Dinge geworden. Dieser Gleichgewichtsverlust ist die Krankheit des sozialen Organismus. Wenn der Körper krank ist, sind auch die Glieder krank, und ein erkranktes Glied vergiftet den ganzen Körper. So ist auch das individuelle Leben aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Mensch oder das, was ihn zum Menschen macht, vermag nicht mehr zu gedeihen. Er siecht dahin. Alle ökonomischen und politischen Krisen sind nur die äußere Seite dieses Vorganges.
Darum bedarf es der Entscheidung. Sie wird uns leicht gemacht: Wir erkennen, daß ein Weiterschreiten auf dem bisherigen Wege in den Abgrund führt. In der Vergiftung der Natur und in der Korrumpierung der menschlichen Verhältnisse haben wir dies täglich vor Augen.
O ihr kleinmütig Volk, die ihr vom Heute
nicht loskommt, die ihr meint: so ist es, war es
und wird es sein, so lange Menschen leben –O würdet ihr doch andrer Hoffnung Beute
und lerntet wieder schauen Offenbares
und Hirn und Herz zu höchstem Ziel erheben!(Christian Morgenstern)