Dominique Venner

Auszüge aus seinem Buch:

EIN SAMURAI AUS EUROPA

Wie kann man heute ein Unbeugsamer sein?


Leben heißt kämpfen gegen das, was mich verneint.

Rebell zu sein heißt nicht, ganze Sammlungen von nonkonformen Bü­chern zu haben, von fantastischen Verschwörungen zu träumen oder vom Partisanenkrieg in den Karpaten.

Rebell sein heißt, seine eigene Norm zu sein, aus Treue zu einer höheren Norm. Sich aufrecht halten vor dem Nichts. Darauf achten, nie von seiner Jugend zu genesen. Lieber sich die ganze Welt zum Feind machen, als zu Kreuze zu kriechen. Bei Rückschlägen nie die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Kampfes stellen. Man handelt, weil es unwürdig wäre, sich geschlagen zu geben. Lieber kämpfend sterben als sich ergeben.

Die erste Tat eines Unbeugsamen besteht immer darin, sich von der Angst oder der Faszination der Wörter zu befreien. Wörter beschwören Bilder herauf, die ermunternd oder schädlich, verwirrend oder berauschend sein können. Wörter wirken verführerisch, heimtückisch oder einschüchternd. Durch sie vermag ein herrschendes System die Menschen, die es ausschalten will, einzufangen, noch lange bevor es zu drastischeren Mitteln greift. Indem man seinem Gegner einen Namen gibt, den man selbst gewählt hat, kann man sich ihm gegenüber durchsetzen, ihm ohne sein Wissen die eigenen Spiel­regeln aufzwingen, seine Ausschaltung vorbereiten oder, umgekehrt, sich seinem Zugriff entziehen. Kaiser Julian, Macchiavelli, Voltaire, Nietzsche oder Solschenizyn haben nicht anders gehandelt, um frei zu werden.

Wörter sind Waffen. Seinen Wortschatz selbst auszuwählen, sich erst recht einen Namen zu geben, heißt, seine Existenz, seine Selbständigkeit, seine Freiheit zu behaupten. Daher können wir den Begriff ‚Unbeugsame‘ voll in Anspruch nehmen.

Zwischen dem Unbeugsamen und der Legitimität besteht ein inneres Verhältnis: Der Unbeugsame versteht sich als Widerstand gegen etwas, das er als illegitim wahrnimmt. Im Angesicht der institutionalisierten Lüge oder der Ruchlosigkeit ist er sein eigenes Gesetz, aus Treue zur verhöhnten Legitimität. Die Aufsässigkeit (Unbotmäßigkeit) ist zuallererst Sache des Geistes, noch ehe sie zu den Waffen greift.

Dieser Wille, den Kampf aufzunehmen, auch wenn er aus­sichtslos ist, wurde einstmals in der ›Antigone‹ von Sophokles verkörpert. Ihr Beispiel führt uns ein in die Welt der sakralen Legitimität. Denn die Griechin Antigone ist eine Rebellin aus Treue. Sie trotzt dem Beschluß Kreons aus Respekt vor der Tradition, die der König verletzt hat. Mag sein, daß Kreon seine guten Gründe hat, sie machen das Sakrileg nicht rückgängig. Antigone meint also, ihre Rebellion sei legitim, und sie akzeptiert von vornherein den Preis dafür. Dieses Beispiel, von Sophokles überliefert, sollte uns nachdenklich stimmen: Es ist Teil unserer Tradition.

Zazen

Ein Gefühl der Überlegenheit der Natur


Ein Zen-Meister empfing den Besuch eines sehr gebildeten Europäers, der ihn befragen wollte. Er goß ihm Tee ein und hörte nicht auf, bis die Tasse überlief. „Aber Meister, sehen Sie denn nicht, daß die Tasse voll ist?“ rief der Besucher. Worauf der Meister leise antwortete: „Wie soll ich Sie etwas lehren, wenn Ihr Geist doch dieser Tasse ähnlich ist. Sie sind mit einem vollgestopften Geist zu mir gekommen. Nicht um zu lernen, sondern um zu kritisieren, zu diskutieren. Ich kann Sie folglich nichts lehren.“ Eine solche Aussage mag einen westlichen, zum Nachfragen erzogenen Geist schockieren, sie gibt jedoch Aufschluß über das Nicht-Denken des Zen und seiner Erziehungsmethode.

Darum sind bei den Samurai Zen und die Übung des bewaffneten Kampfes so innig ineinander verwoben, daß man nicht mehr richtig weiß, was zu dem einen und was zu dem anderen gehört. Viele Zen-Tempel besitzen einen Meditationsraum, das Dojo, das auch die Meister zur Unterweisung in ihre Kampfkunst nutzen. Diese Meister können Zen-Mönche sein, die sich von christlichen Mönchen stark unterscheiden.

Vor allen Dingen wurzelt Zen in dem tiefen Empfinden, daß Schönheit, Gleichgewicht, Ordnung und Harmonie in der Natur zur Vollkommenheit gelangen. Dieses Empfinden existierte mit gewissen Nuancen auch im europäischen Altertum.

Wenn man den Menschen mit anderen Lebewesen der Natur vergleicht, ob Pflan­zen, Säugetieren, Vögeln oder Fischen, erscheint er oft beschränkt in seinen Möglichkeiten: Nichts ist schöner, unerklärlicher als das Sprießen und Aufblühen einer Blume im Frühling. Das anmutigste Mädchen kann es schwerlich mit dem leichtfüßigen, fast schwerelosen Tanz junger Hirschkühe auf ihrer Flucht durchs Gehölz aufnehmen. Der schnellste Kämpfer ist langsam, verglichen mit dem Löwen oder dem Leoparden.

Zen hat dafür eine Erklärung: Die Menschen sind durch den Verstand behindert. Weit davon entfernt, eine Stärke darzustellen, ist der Verstand nach Ansicht des Zen ein Hindernis, dessen man sich entledigen sollte. Das Denken schaltet sich zwischen den Handeln­den und seine Handlung. Der Verstand, im Abendland über alles gestellt, erscheint hier als die primitivste, gröbste Stufe der Wahr­nehmung und der Handlung. Um mit der blitzartigen Leichtigkeit eines Leoparden zu agieren, muß man sich dem Denken entziehen und perfekte Automatismen erwerben. „Seinen Geist nie auf die Säbelspitze, die Bewegung, die Augen des Gegners oder das Ziel konzentrieren!“ sagen die großen Schwert­meister.

Die Regel besteht darin, zu sehen, ohne zu sehen, wahrzunehmen, ohne seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren, vorauszuahnen, nicht aber eine Attacke abzuwehren. „Die ganze Kunst besteht darin, zu trainieren, bis der Gegner durchschaubar wird, bis seine Angriffsabsicht wahrgenommen wird, noch ehe der Angriff begonnen hat…“ Um einen etwas platten Vergleich heranzuziehen, könnte man auch routinierte Autofahrer oder Ski-Asse erwähnen, die eine ähnliche Leistung in ihrem Fach vollbringen…

Doch die Kampfkünste beschränken sich bei weitem nicht auf die Schulung der Reflexe: Wie das Beispiel des Kendo zeigt, schließen sie einen stark religiösen Aspekt ein.

Kendo

Kendo, ein religiöses Ritual


Die mehrheitlich jungen Kendokämpfer sitzen still, mit aufrechtem Oberkörper, ihre Helme und Handschuhe liegen vor ihnen. Die Sonne bricht sich in flüchtigen Lichtschimmern auf den Helmen. Zwei Kämpfer erheben sich. Ihr Körper ist von der Rüstung umhüllt, das Gesicht hinter der Gittermaske verborgen. Sie halten das Shinai, das Schwert aus Hartholz in der Hand. Sie verbeugen sich tief vor den Göttern des Heiligtums.

Vor der blitzartigen Heftigkeit des Angriffs ist Kendo (der japanische Schwertkampf ) Stille, Andacht, Bündelung der Energie. Es ist eine Liturgie. In ihr erblickt der westliche Beobachter ein tiefes, undurchdringliches Mysterium.

Welten liegen zwischen Fechten, wie es in Europa eine Minder­heit praktiziert, und Kendo, das in Japan von Millionen Menschen ausgeübt wird. Fechten ist ein Sport erster Güte, Kendo eine Kampf­kunst, was viel mehr bedeutet. Ersteres erfordert Muskulatur, Gelen­kigkeit und praktische Intelligenz. Letzteres mobilisiert das ganze Wesen, Körper und Seele.

Ein Angriff beim Fechtsport ist eben ein sportliches Schauspiel. Ein Kendo-Durchgang ist ein religiöses Ritual.

Dieser Unterschied fällt umso mehr auf, als Japan eigentlich ein Musterland der Modernität ist. Warum hat das Schwert in Europa jeden symbolischen Wert verloren, während es dort in Japan immer noch mit Spiritualität aufgeladen ist?

Woher kommt diese moralische Schwäche Europas gegenüber Japan? Dabei hatte das Schwert in der Vergangenheit Europas eine ebenso große Rolle gespielt, und die Bande, die zwischen den mittelalterlichen Rittern und ihrem Schwert bestanden, waren nicht weniger stark als die Bande zwischen den Samurai und dem ihren.

Doch sie waren anderer Natur: Sie fügten sich nicht wie bei den Samurai in ein ethisches Ganzes ein, in einen ‚Weg‘ (do), wie die Japaner sagen. Obwohl er eine eigene Ethik anstrebte, besaß der europäische Schwert­adel weder die Freiheit noch das geistige Rüstzeug, mit denen er seine Ethik in ein System hätte fassen können.

So bekam er nie sein Bushido.

Dominique Venner: Ein Samurai aus Europa. Das Brevier der Unbeugsamen

 

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