Clotilde Venner
ist die Witwe des Historikers Dominique Venner („Nietzscheaner par excellence“). Sie studierte Philosophie und ist zusammen mit Antoine Dresse Autorin des Buches ›A la rencontre d’un coeur rebelle. Entretiens sur Dominique Venner‹ (Die Begegnung mit einem rebellischen Herzen. Interviews zu Dominique Venner) beim Verlag ›La Nouvelle Librairie‹.
Nietzsche Académie: Welche Bedeutung hat Nietzsche für Sie?
Clotilde Venner: Obwohl ich Philosophie studiert habe, glaube ich, daß ich vor meinem 40. Lebensjahr nichts von ihm verstanden habe. Es bedurfte einer gewissen Reife, um ihn von innen heraus zu verstehen. Was ich an Nietzsche schätze, ist seine Lesart der griechischen Welt, die er auf wunderbare Weise erneuert und ins Gleichgewicht gebracht hat. Tatsächlich hatte man bei den Griechen während des gesamten Mittelalters und im klassischen Zeitalter hauptsächlich den Logos, die rationale Denkweise betrachtet, während die Griechen unter dem Einfluß der Vorsokratiker und der Tragiker die intellektuelle Argumentation und die Lebensenergie gleichberechtigt nebeneinander stellten. Nietzsche läßt uns die Griechen lieben und verstehen. Der andere Aspekt seines Denkens, den ich schätze, ist die Bedeutung, die er dem Körper beimißt, nicht im heutigen hedonistischen und narzisstischen Sinne, sondern in dem Sinne, dass man den Körper nicht von der Seele trennen kann. Wenn man sich um seine Seele kümmert, ist das keineswegs eine eitle, oberflächliche Angelegenheit:
Wie hast gerade du dich zu ernähren, um zu deinem Maximum von Kraft, von Virtù im Renaissance-Stile, von moralinfreier Tugend zu kommen? [Ecce Homo].
Für mich ist er der Denker der Lebensenergie, das ist es, was ich an ihm am meisten schätze. Er schreibt auch in Die Genealogie der Moral:
Unsere Ideen wurzeln nicht in unserer Vernunft, sondern in uns, in unserem Körper, in unserem Fleisch, in unserem tiefsten Wesen.
Nietzsche Académie: Was bedeutet es, Nietzscheaner zu sein?
Clotilde Venner: Es bedeutet, ständig über sich hinauswachsen und der Wille zum Aufstieg, sich nicht damit zufrieden zu geben, zu sein, was man ist, oder zu sein, was andere gerne hätten.. Es bedeutet, von einer inneren Spannung getrieben zu sein, die dazu führt, daß man etwas erschafft. Dominique [Venners] ›Homersche Triade‹ bringt diesen spirituellen Impuls, der von den Griechen stammt, wunderbar zum Ausdruck: die Natur als Fundament, Exzellenz als Ziel und Schönheit als Horizont.
Nietzsche Académie: Welches Buch von Nietzsche würden Sie empfehlen?
Clotilde Venner: Meine beiden Lieblingsbücher sind ›Die Geburt der Tragödie‹ und ›Die Götzen-Dämmerung‹.
Nietzsche Académie: Ist der ›Nietzscheanismus‹ rechts oder links?
Clotilde Venner: Weder das eine noch das andere. Denn Nietzsches aristokratische Ethik ist weit entfernt von den Ideen der Linken, egal ob sie sozialistisch oder marxistisch orientiert ist. Und auch von der Rechten, vor allem wenn sie liberal ist.
Nietzsche Académie: Welche Autoren sind Ihrer Meinung nach ›Nietzscheaner‹?
Clotilde Venner: Ich denke an drei Autoren, die ich sehr mag.
Der erste ist Dr. Alexis Carrel, der 1912 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Seine Überlegungen in ›Der Mensch, das unbekannte Wesen‹ über den Körper, die Gesundheit und darüber, was den körperlichen und geistigen Verfall eines Volkes verursacht, schließen an Nietzsches Gedanken an.
Der zweite ist René Quinton (ebenfalls ein Biologe), der Autor der ›Maximes sur la Guerre‹, die er während des Ersten Weltkriegs verfaßte. Er ist eine Art französischer „Jünger“, aber mit viel mehr Muskeln. Sein Denken ist in mancher Hinsicht sehr nietzscheanisch, aber auch darwinistisch.
Der dritte Autor ist Mircea Eliade, der Religionshistoriker, der mit Ionesco und Cioran befreundet war. In seiner Jugend schrieb er den stark autobiografischen Roman ›Gaudeamus‹, der den inneren Kampf eines jungen Intellektuellen schildert, der nach nietzscheanischen Prinzipien leben möchte.
Ich möchte auch Muriel Barberys Roman ›Die Eleganz des Igels‹ erwähnen, der für mich in vielerlei Hinsicht ein nietzscheanischer Roman ist. Die Hauptfigur ist eine Jugendliche, die eine tiefe Revolte gegen die Mittelmäßigkeit ihres sozialen Umfelds verspürt. Ich würde sagen, daß sie die nietzscheanischste Figur in der Geschichte ist. Es ist selten, daß man in der Literatur nietzscheanische Frauenfiguren findet, aber noch seltener, daß es sich dabei um Teenager handelt.
Nietzsche Académie: Könnten Sie eine Definition des Übermenschen geben?
Clotilde Venner: Wenn ich eine persönliche Definition geben müßte, würde ich sagen, daß der Übermensch vor allem ein Schöpfer, ein Baumeister, ein Erfinder ist, jemand, der sich über die gewöhnliche Menschenwelt erhebt. Alle großen Künstler der Renaissance gehören in gewisser Weise zu dieser Kategorie. Ich denke dabei an Leonardo da Vinci und Michelangelo.
Nietzsche Académie: Ihr Lieblingszitat von Nietzsche?
Clotilde Venner:
Die Schönheit kein Zufall. – Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmut und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie ist, gleich dem Genie, das Schlußergebnis der akkumulierten Arbeit von Geschlechtern. Man muß dem guten Geschmacke große Opfer gebracht haben, man muß um seinetwillen vieles getan, vieles gelassen haben. (…) Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang. [Die Götzen-Dämmerung]
Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/10/07/reponses-de-clotilde-venner-au-questionnaire-de-la-nietzsche-academie.html
Originalquelle: http://nietzscheacademie.over-blog.com/2023/10/clotilde-venner.html
Dominique Venner: Ein Samurai aus Europa. Das Brevier der Unbeugsamen