Aurora (Blocco Studentesco)
Eines der Hauptprobleme mit Sokrates ist die Tatsache, daß seine Dialektik – die berühmte Maieutik – darauf ausgerichtet war, Fehler in den Argumenten der Gesprächspartner zu finden, was jedoch impliziert, daß Sokrates im Recht war und somit über absolutes Wissen verfügte. In diesem Sinne entpuppt sie sich als eine destruktive Tätigkeit, die nicht in der Lage ist, tatsächliches Wissen zu schaffen, sondern dieses zugunsten einer perfekten, aber abstrakten Wahrheit opfert. Eine Wahrheit, die es, wie Nietzsche betont, nicht gibt.
Sklavenmoral
Im Gegenteil, die Schaffung einer Metaphysik, einer Überwelt, d.h. einer anderen Realität zur Erklärung des Geschehens, ist, wenn man dem deutschen Philosophen folgt, die typische Bewegung einer Sklavenmoral, die die aristokratische Moral untergräbt, indem sie die gesunden Instinkte des Stärkeren moralisiert und entmachtet. Deshalb wird Nietzsche als antidemokratisch bezeichnet, und mit seiner Figur des Übermenschen erreicht die anti-egalitäre Tendenz ihren Höhepunkt.
Der Übermensch ist derjenige, der den Nihilismus überwindet, der die Widrigkeiten des Daseins herausfordert, der dem Abgrund und dem Tod Gottes in die Augen blickt, der „Ja!“ zum Leben sagt und sich in das Kind, in den Hirten verwandelt, der die schwarze Schlange beißt, die ihn erstickt. Er ist, kurz gesagt, eine Figur, die fähig ist, neue Ideale zu schmieden und zu schaffen.
Nietzsche sah also eine Umwertung aller Werte voraus. Dies spiegelt sich auch in einer weniger existenziellen, mehr politischen und reiferen Dimension seines Denkens wider, die er gerade in seinem Konzept der ›Großen Politik‹ auslotet. Seine Kritik am deutschen Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts und am Bismarckschen Machtsystem selbst ist bekannt, weniger bekannt ist, was er an deren Stelle bevorzugt hätte.
Er wendet sich gegen die Dominanz des Herdentyps, der in Demokratien gedeiht, und gegen nivellierende Tendenzen (einschließlich derjenigen eines gewissen positivistischen Nationalismus), und zwar in einem Maße, daß er den Liberalismus als „Herdentrieb“ bezeichnet. Gegen dieses Abgleiten in die Homologisierung versteht er die Individuen in ihrem Exzeptionalismus, in ihrer Konflikthaftigkeit, in ihrem Agonismus als eine Gemeinschaft von Gesetzgebern, die in der Lage ist, jene Umwertung zu vollziehen, von der wir vorhin gesprochen haben, nämlich „die Selbstüberwindung des Menschen“.
Die Liberalen
Aus einer ganz anderen Perspektive findet Popper in seiner radikalen Kritik des soziologischen Determinismus von Marx darin die Wurzeln jener Art von Wahrheitsverhärtung, die wir bei Sokrates gefunden haben:
Die Kollektivisten sind voller Enthusiasmus für den Fortschritt, haben Sympathie für die Armen, einen brennenden Sinn für Ungerechtigkeit und den Drang zu großen Unternehmungen, die bei den Liberalen des letzten Liberalismus versagt haben. Doch ihre Wissenschaft beruht auf einem tiefen Mißverständnis und ihre Handlungen sind zutiefst zerstörerisch. So werden die Herzen der Menschen zerrissen, ihr Verstand gespalten, und sie werden vor unmögliche Entscheidungen gestellt.
Daraus folgt, daß der für den Marxismus typische kausale Determinismus nichts anderes ist als eine extreme Konsequenz der platonischen und damit sokratischen Art, das Problem der Politik zu stellen. Wenn letztere fragt, „wer den Staat regieren sollte“, so sind für Popper die wirklichen Fragen, „wie Macht ausgeübt wird“ und „wieviel Macht ausgeübt wird“.
Mit anderen Worten: Nach Ansicht des englischen Philosophen sollten wir erkennen, daß alle politischen Probleme institutionelle Probleme sind, Probleme der rechtlichen Struktur und nicht der Menschen, und daß darüber hinaus Fortschritte in Richtung größerer Gleichheit nur durch die institutionelle Kontrolle der Macht gewährleistet werden können.
Ein dritter Weg
Ausgehend von diametral entgegengesetzten Standpunkten warnen sowohl Nietzsche als auch Popper vor dem Irrglauben an ein absolutes Gut, an eine abstrakte Theorie, an ein Übermaß an Moralisierung, das im Denken von Sokrates zu finden ist und sich durch egalitäre und progressive Tendenzen in der Geschichte ausbreitet, mit dem erschwerenden Umstand, daß Nietzsche auch den Liberalismus, dessen Verteidiger Popper ist, an dieser Krankheit leiden sieht: Heute ist der liberale und finanzorientierte Westen die extreme Spitze und Vorhut dieser absolutistischen Moral, die keine andere Perspektive zuläßt und das marxistische Egalitätsprojekt weiterführt.
Kulturelle Phänomene wie die „Woke-Hype“ – oder allgemeiner die „Cancel Culture“, der feministische Fanatismus sind in dieser Hinsicht bezeichnend. Jede Partei (oder vielmehr jedes „Ich“) glaubt, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, was zu einem endlosen Teufelskreis aus Fanatismus und digitalem Geschwätz ohne Perspektiven führt, so daß letztlich die authentische Wahrheit verborgen bleibt, die keine Moral oder kein Dogma ist, sondern vielmehr ein Stil, eine Idee, ein Diskurs, der einen Mythos für ein gemeinsames und reales Schicksal mobilisieren und zum Handeln aufrufen kann.
Aber jeder „gordische Knoten“ kann durchschlagen werden: mit dem „Schwert der Revolution“ und einem barbarischen Lachen.