José Manjón

 

Abgesehen von der Ukraine selbst, hat die russische militärische Sonderoperation einen offensichtlichen Verlierer, vor allem auf lange Sicht: Europa, verstanden als die Gruppe von Nationen, die den geopolitischen Block bilden, der von der Europäischen Union dominiert wird.

Wir sprechen hier nicht von einem Niedergang, der um 1914 begann und zu Beginn des 21. Jahrhunderts als abgeschlossen betrachtet werden kann, sondern von einem Debakel, einer Katastrophe und einer Auflösung.

Die Dekadenz hat lichte Momente und ihr Niedergang kann langsam sein; Momente der illusorischen Macht oder des frustrierten Aufschwungs geben trügerische Signale, daß die alte Macht noch lebendig ist, daß die Finsternis fiktiv ist; das beste Beispiel dafür ist das Frankreich der ersten Jahre der Fünften Republik (1958-1968) oder das deutsche Wunder der 1950er Jahre.

Im Debakel gibt es jedoch keinen Schimmer mehr von der Vergangenheit: alles ist Schatten, Mittelmäßigkeit und schlechte Vorzeichen, wie das Rom des fünften Jahrhunderts oder das Byzanz der Paläologen. Europa ist nicht mehr dekadent, denn es hat keinen Platz mehr, um zu fallen. Wir befinden uns in einer Zeit der Postmoderne, des Verfalls und einer seltsamen Art von Barbarei, die von entmenschlichenden technologischen Fortschritten und einer hysterischen, eunuchoiden Sentimentalität umhüllt ist, die von Frivolitäten besessen, aber unglaublich blind für die großen Themen ist. Wenn die Ukraine-Krise etwas bewirkt hat, dann ist es die Enthüllung dieser Endzeit.

Was sind die Ursachen?

Das amerikanische Kolonialregime. Das Verhalten der europäischen Regierungen – insbesondere der EU-Regierung in Brüssel und der „nationalen“ Regierungen in Berlin und Paris – zeigt, wie sehr Europa eine willfährige Yankee-Kolonie ist, auf einem Niveau, das im Hinterhof nur von Batistas Kuba und Somozas Nicaragua erreicht wurde.

Der wichtigste Sektor der europäischen Wirtschaft, die deutsche Industrie, wurde geopfert, ohne daß die deutsche Führung oder die Bleistiftdrücker in Brüssel auch nur eine Stimme des Protests erhoben hätten.

Die Sprengung der Pipelines Nord Stream 1 und 2 zeigt, daß Deutschland kein souveräner Staat ist, sondern lediglich ein Markt- und Industrieraum. Was für jede halbwegs würdige Macht ein ›casus belli‹ gewesen wäre, wurde zu einem beschämenden Akt der Unterwerfung und bedingungslosen Kapitulation vor einem Herrn, der, wie wir alle wissen, diese für die strategische Energieversorgung Europas, nicht nur Deutschlands, wichtigen Strukturen zerstört hat. Darüber hinaus freute sich der Beschützer und Verbündete Europas in institutionellen Kreisen durch den Mund von Victoria Nuland über die Zerstörung der Gaspipelines, ohne zu befürchten, daß Erklärungen für seine offensichtliche Unterstützung eines terroristischen Aktes verlangt werden.

Während dieser Krise hat sich Frankreichs Kontrolle über die Sahelzone innerhalb weniger Monate aufgelöst, insbesondere in Niger, neben Rußland und Kasachstan einer der Hauptlieferanten von Uran für die französische Atomindustrie, die der größte Stromerzeuger in Europa ist. Der amerikanische Freund ließ Paris – und Europa – einmal mehr durch die europafeindliche Victoria Nuland im Stich und verhandelte auf eigene Faust mit der neuen revolutionären Regierung in Niamey.

Das ist nichts Neues, denn das Gleiche hatten sie schon mit den Franzosen und Briten in Suez (1956), in Indochina (1945-1955) und Algerien (1956-1962), mit Frankreich und in der Sahara mit Spanien (1975-1976) getan. Schlimmer noch, die deutsch-französische Achse hat ihre Schwäche gezeigt, indem sie nicht in der Lage war, die kriegstreiberische Politik eines amerikanischen Satelliten, nämlich Großbritanniens, zu bremsen, das eine Verhandlungslösung für den Donbass-Konflikt sabotierte und Polen und die baltischen Länder, die Mitglieder der Europäischen Union sind, manipulierte, ohne daß Berlin und Paris in der Lage waren, die Briten zu zügeln. Zu allem Überfluß sollen Frankreich und Deutschland die führenden Länder der Europäischen Union sein, während Großbritannien außerhalb der Union steht.

In Wirklichkeit können sich die Europäer nicht über amerikanische Illoyalität beschweren. Wenn man sich damit abfindet, ein Spielball zu sein, läuft man Gefahr, bei jedem Zug geopfert zu werden. Amerika verteidigt seine Interessen und spielt sein Spiel.

Deindustrialisierung

Vor dreißig Jahren beschloß die Europäische Union, die erste industrielle Wirtschaft der Welt, den Kontinent, der Pionierarbeit in der Massenproduktion von Gegenständen geleistet hat, in eine spekulative und merkantile Wirtschaft umzuwandeln, in deren Mittelpunkt der Dienstleistungssektor steht. Europa produziert immer weniger reale Gegenstände und ist nicht mehr die „Werkstatt der Welt“. Der Schwerpunkt hat sich auf Hightech, saubere Energie und Handel verlagert.

Die Ukraine-Krise hat die Gefahren einer solchen Entscheidung aufgezeigt: Länder, die ihre Industrie beibehalten haben, wie Rußland, China oder das winzige Nordkorea, können kontinuierlich und in großem Umfang Rüstungsgüter produzieren, während die deindustrialisierten Mächte des Westens, die ihre Produktionskraft eingeschränkt haben, hochentwickelte und teure Waffen herstellen und den Nachschubbedarf der Ukraine in einem groß angelegten Krieg, der nicht die typische koloniale Strafexpedition der NATO ist, kaum decken können.

Die westliche Rüstungsindustrie ist privat und wird von speziellen Interessen geleitet, von denen eines der Profit für ihre Aktionäre ist: Je teurer das Produkt verkauft werden kann, desto besser. Dazu muß es eine große Angebotsvielfalt auf dem Markt geben und ein exorbitantes Maß an technologischer Innovation, um das Objekt marktfähig zu machen.

In den Ländern der eurasischen Achse ist die Rüstungsindustrie staatlich kontrolliert und investiert ihre Ressourcen in praktische, billige und überschaubare Produkte, die sich in der großen Kriegsführung bewähren können. Die Entscheidung darüber, was produziert wird, liegt beim Staat und wird ihm nicht durch private Initiative aufgezwungen.

Im Westen sind vor allem das Gesundheits-, Bildungs- und Verteidigungswesen private Unternehmen, für die die staatliche Verwaltung der Auftraggeber ist. Die Produkte der Rüstungsindustrie haben die gleichen Eigenschaften wie die auf dem freien Markt angebotenen: Sie mögen hochentwickelt sein, aber der Bedarf an ihnen ist zweifelhaft. Das Scheitern der NATO-Rüstung in einem so anspruchsvollen Szenario wie der Ukraine, in einem Krieg mit massivem Ressourcenverbrauch und Gleichheit zwischen den beiden Seiten, wenn nicht gar mit klarer russischer Überlegenheit, hat gezeigt, wie falsch die Entscheidung war, das klassische industrielle Gefüge in Europa zu schwächen.

Die grundlegende Garantie für die Existenz eines Staates ist seine Fähigkeit, sich zu verteidigen, einen potenziellen Feind abzuschrecken oder zu besiegen. Europa ist dazu nicht in der Lage, weil ihm die dafür notwendige Struktur fehlt; es ist völlig abhängig von den Produkten des amerikanischen Rüstungskomplexes. Ohne militärische Autarkie, die sich aus der Produktionskapazität der eigenen Industrie ergibt, ist es nicht möglich, Souveränität auszuüben.

Das oligarchische Regime

Was im Westen als Demokratie bezeichnet wird, ist nur ein Deckmantel für die Plutokratie. Das allgemeine Wahlrecht wird durch Werbekampagnen völlig verfälscht, um einen vorgefertigten Kandidaten in die Regierung zu bringen. Diese Werbung ist so extrem teuer, daß es ohne die finanzielle Unterstützung von Geldgebern für eine politische Option fast unmöglich ist, an die Macht zu kommen. Wer zahlt, hat das Sagen.

Und man muß sich nur die Gleichförmigkeit der europäischen Herrscher ansehen, um zu erkennen, daß derselbe Menschentyp, der Manager, an die Spitze einer immer unbedeutender werdenden Staatsmacht gestellt wird. Eine Nation kann eine Regierung von Mittelmäßigen und Unfähigen ertragen, weil die politischen Führer nur den Anschein von Macht behalten und nur der staatliche Arm des Großkapitals sind.

Das Geld herrscht ohne Grenzen, ohne Gegengewicht oder Kontrolle: Das sind die sogenannten Märkte, launische und unzugängliche, nicht-menschliche Wesen, die den Lauf der Geschichte bestimmen, wie einst die Götter des Olymp. Die Reduzierung der Macht des Staates auf einen bloßen Verteiler von Subventionen und Verträgen, auf einen Raum der Rechte, reduziert die nationale Souveränität auf ein bloßes Phantom, einen ›flatus vocis‹. Und nur der Staat kann garantieren, dass sich die Einzelinteressen dem Allgemeininteresse unterordnen. Das ist die vergessene Theorie des Gemeinwohls. Die unpersönliche Macht der Großunternehmen ist von Natur aus unvereinbar mit jeglicher Volkssouveränität. Und darüber hinaus ist sie staatenlos.

Europäische Unbewußtheit

Die Existenz der Europäischen Union sollte ein europäisches Nationalbewußtsein fördern, aber die Institution hat es geschafft, jeden Anflug von Nationalismus in ihrem Inneren zu unterdrücken. Für die Brüsseler Bürokratie ist Europa keine geopolitische Macht mit eigenen strategischen Plänen und eigener Souveränität, sondern ein Markt, ein Finanzclub, eine Warenbörse, wo alles gekauft, verkauft und interveniert wird.

In jeder anderen Hinsicht ist die Europäische Union der merkantile Zweig der NATO, des militärischen Exekutivarms des angelsächsischen Kolonialismus. Brüssel ist sich über seine Nebenrolle gegenüber den Vereinigten Staaten und seine Rolle als Rammbock gegen den eurasischen Block aus China und Rußland im klaren. Die Unterwerfung ist von einem solchen Ausmaß, daß sie, wie wir in den letzten Monaten gesehen haben, bis zum wirtschaftlichen Selbstmord geht, obwohl Geld als die wesentliche Daseinsberechtigung der Europäischen Union konfiguriert wurde. Dies wird zu Recht als transatlantische Verbindung (vom lateinischen ›vinculum‹: Band, Kette, Fessel) bezeichnet.

Die unterwürfige Haltung der einstigen europäischen Großmächte ähnelt derjenigen der indischen ›Rajahs‹ oder der afrikanischen ›Régulos‹ gegenüber den britischen Beamten. Dies kommt nur zustande, weil den Europäern selbst ein nationales Bewußtsein, eine Idee von Europa, völlig fehlt.

In der gegenwärtigen Situation ist unser Kontinent ein bloßes Objekt der Geschichte: Indem er sich über seinen Willen hinwegsetzt und sich einer anderen Macht unterordnet, wird er zum Instrument eines fremden Plans. All dies wäre vor fünfzig Jahren undenkbar gewesen, als das Nationalbewußtsein, der Gemeinschaftssinn und der Patriotismus in vielen Herzen noch lebendig waren.

Der Europäischen Union ist es gelungen, den Patriotismus durch den hedonistischen Nihilismus der Konsumgesellschaft zu ersetzen; sie hat eine Reihe von Ersatzideologien entwickelt (Umweltschutz, Gender, Animalismus…), die die beiden für die Entwicklung jeder unabhängigen Nationalität notwendigen Bewußtseinsformen ausgelöscht haben: das der Klasse und das der Identität. Der europäische Bürger ist heute als Konsument einflussreicher als als Wähler; es gibt kein besseres Beispiel für die extreme Entfremdung, die erreicht wurde.

Die Jahre des Kalten Krieges sind vorbei, und wir brauchen niemanden mehr, der uns vor dem Kommunismus schützt. Oder vor irgendetwas. Europa ist immer noch reich und entwickelt genug, um sich ohne die Hilfe einer Großmacht verteidigen zu können, die angesichts ihrer „Erfolge“ in Vietnam, Afghanistan, dem nationalistischen China oder Korea ihre militärische Macht auch nicht sehr effektiv ausübt.

Es gibt mehr Möglichkeiten als die bedingungslose Unterwerfung unter die Vereinigten Staaten: von der Partnerschaft mit Rußland bis hin zu Verbindungen mit China, Brasilien oder Indien, die bereits Großmächte sind. Sogar – warum nicht – ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten auf Augenhöhe, als Verbündete und nicht als Vasallen.

Natürlich setzt eine solche Politik einen Mentalitätswandel voraus, die Überwindung des moralischen Vakuums, in dem die Völker Europas verroht sind, und einen antiliberalen politischen Willen, der durch die Rückkehr der Staatsmacht und die Umwandlung des Brüsseler Finanzclubs in eine Großmacht mit dem Willen zu politischen Entscheidungen gekennzeichnet ist.

Es ist erstaunlich zu sehen, daß die Europäer heute, da Europa scheinbar geeinter denn je ist, in der Welt weniger zählen als zu der Zeit, als sie in rivalisierende Staaten aufgeteilt waren. Die Zeit drängt zum revolutionären Handeln, denn eine ganze Zivilisation zerfällt unter dem kolonialen Joch der Yankees und dem nihilistischen Hedonismus, dem schlimmsten Opium des Volkes. Die Möglichkeiten, die Katastrophe zu überleben, sind so begrenzt wie die des Roms im Jahr 400.

José Manjón

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/10/05/la-debacle-de-l-europe.html
Originalquelle: https://geoestrategia.es/noticia/41545/politica/la-debacle-de-europa.html