Giovanni Sessa

Auszug aus dem Vorwort von zu Gustav Theodor Fechners, Zend-Avesta. Pensieri sulle cose del cielo e dell’al di là (Zend-Avesta. Über die Dinge des Himmels und des Jenseits vom Standpunkt der Naturbetrachtung)

 

 

Achtung, liebe Leser! Das ›Zend-Avesta. Über die Dinge des Himmels und des Jenseits: vom Standpunkt der Naturbetrachtung‹ von Gustav Theodor Fechner ist ein Text mit einem entschieden unzeitgemäßen Charakterzug: Man kann aus seinem Inhalt eine Vision der Welt, der Natur und des menschlichen Lebens ableiten, die den gegenwärtigen Vorstellungen, sowohl religiösen als auch weltlichen, völlig fremd ist.

In diesem Buch werden panpsychistische und pantheistische Thesen wieder aufgegriffen und durch einen bemerkenswerten theoretischen Rahmen gestützt. Angesichts der heutigen Auffassungen zum Thema ‹Natur‹ und vor allem angesichts der Verdrängung des Todesgedankens aus dem Alltagsleben der von der Techno-Wissenschaft beherrschten Gesellschaften kann ein Buch wie ›Zend-Avesta‹ als echte Provokation gelesen werden und zu einem intellektuellen Skandal führen.

Wir hoffen aufrichtig, daß dies der Fall sein wird. In der Tat ist es dringend notwendig, die falschen Gewißheiten, auf denen unsere Welt aufgebaut ist, in Frage zu stellen. In der “liquiden” oder “hyperindustriellen” Gesellschaft, die von den Regierungs- und Technologieapparaten beherrscht wird, sind die Vorstellung von der Begrenztheit und der Vergänglichkeit des Lebens sowie die Berücksichtigung des ›memento mori‹ durch einen Gesundheits-Salutismus ersetzt worden, der im Zuge der Pandemie Covid 19 libertizidale und parochiale Züge angenommen hat. Die Verlängerung des Lebens, vor allem! Das ist der vorherrschende Imperativ in den fortschrittlichen kapitalistischen Gesellschaften.

Dem Älterwerden wird mit den unterschiedlichsten therapeutischen Mitteln, darunter auch der plastischen Chirurgie, der Krieg erklärt. Dies ist das vorherrschende Mantra in einem Zeitgeschehen, dem es an Tiefgang und symbolischer Bedeutung mangelt. Aus diesen Gründen kann Fechners Buch die Funktion eines Steines einnehmen, der in das stagnierende Wasser der hegemonialen Kultur unserer Zeit geworfen wird.

Der Autor ist in der Tat der Träger der Auffassung von der universellen Lebendigkeit des Kosmos; er behauptet, daß alles lebt, alles beseelt ist; selbst die mineralische Welt wird von einer beseelten Bewegung im Inneren durchzogen. Darüber hinaus stellt sich der Verfasser der Problematik des Todes und versucht (nicht nur!), das Leben im Jenseits zu beschreiben, und zwar nach ganz anderen Maßstäben als der im Westen dominierenden Religion […].

Im Vorwort zu Zend-Avesta sagt der Übersetzer Remo Fedi über das Buch:

Eine Hymne an das Leben […], geschrieben in einer zutiefst aufrichtigen und herzlichen Weise, nicht in die Irre geführt von den Denkströmungen, die in Mode waren, als es ans Licht kam […], und Ausdruck des sehnlichen Wunsches des Autors, die großen […] Hindernisse zu überwinden, die sich denen entgegenstellen, die sich aufmachen, […] den dichten Schleier zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu durchdringen.

Der Leser sollte sich nicht täuschen lassen: Die Wahl dieses Titels bezieht sich nicht auf das heilige Buch des Zoroastrismus, sondern auf die wörtliche Bedeutung dieses Ausdrucks, “lebendiges Wort oder Wort des Lebens”. Aus diesem Verständnis gehen die Eigenschaften des Menschen Fechner hervor: Liebenswürdigkeit, Aufrichtigkeit vor allem, aber auch unverhohlene intellektuelle Unbefangenheit.

Das Werk ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil stellt der Philosoph die panpsychistische Lehre vor und erörtert sie; im zweiten Teil, der einen mystischen Zug hat, wenn auch von einer nicht oberflächlichen Rationalität begleitet wird, stellt er sich dem ungewöhnlichen Thema des jenseitigen Lebens, ausgehend von den Schlußfolgerungen, zu denen er im ersten Teil des Werkes gelangt.

 

Wir stimmen mit Remo Fedi völlig überein. Dieses Werk stellt einen bedeutenden Moment in der Wiederbelebung der philosophia perennis im modernen Denken dar. Fechner stellt darin die Analogie in Frage, die im Denken der Tradition immer ein Instrument der Erkenntnis war, als Medium zwischen mystischer Einströmung und rationaler Forschung.

Alles ist Eins: Aus einer solchen Feststellung folgert der Denker die Komplementarität von Physik und Psychologie, das Eins-Sein von Seele und Körper. Außerdem, so der Gelehrte:

Die Erde ist ein lebendiger Organismus, beseelt wie der Mensch, wenn auch die Beseelung der ersteren von höherer Ordnung ist als die der letzteren.

Der Mensch ist nach einer solchen Auffassung nichts anderes als ein Organ der Empfindungsfähigkeit der Erde. Das führt dazu, auch die Himmelskörper als beseelte Wesenheiten zu betrachten: “Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, daß das menschliche Bewußtsein eine Sprosse auf der Leiter des göttlichen Bewußtseins ist.”

Fechners belebter Kosmos entpuppt sich demnach als ein hierarchischer, belebter Organismus, in dem das Niedere am Höheren teilhat. Eine Vision, die – dessen war sich der Wissenschaftler wohl bewußt – von den Wächtern des hegemonialen (positivistischen) Wissens im Europa der Mitte des 19. Jahrhunderts scharf kritisiert und abgelehnt werden würde. Trotzdem ist er sich sicher, “daß seine Vision […] eine Gedankenspur hinterlassen wird, die auch seine Gegner berücksichtigen müssen”.

Im zweiten Band versucht Fechner, die jenseitige Welt im Lichte der Hellsichtigkeit darzustellen, die er mit Swedenborg zu teilen glaubt. Da wir im Leben nichts als Empfindungen des Erdengeistes sind, “leben wir als ›Erinnerungen‹ in demselben Geist weiter”.

Es ist also ein mnemonischer Post-Mortem. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, daß Geist und Materie für die Gottheit eins sind. Alles ist Geist, aber in der Welt der Phänomene erfüllt “ein Teil des Seins […] eine instrumentelle Funktion in Bezug auf den anderen”. Remo Fedi stellt mit einer treffenden Argumentation fest, daß man bei Fechner eine Vorwegnahme der Vorstellung von Materie als Funktion der Energie […] erkennen kann.

Der Denker stellt zunächst eine unbestreitbare Tatsache fest: Die moderne Wissenschaft, die analytisch und zergliedernd ist, hat den Blick für die Gesamtheit der Natur verloren und darüber hinaus das Naturprinzip aus den naturwissenschaftlichen Untersuchungen verdrängt. Er stellt auch fest, daß diese Haltung dem sogenannten “gesunden Menschenverstand” völlig legitim erscheint, ohne es tatsächlich zu sein. Diesem Zustand, so schließt Fechner, kann man nur dadurch begegnen, daß man Zweifel weckt, indem man auf andere mögliche Vorgehensweisen bei der Untersuchung hinweist.

In Bezug auf die Seele können wir uns nur des Anteils bewußt sein, der individuell zu uns gehört. Um sich der “anima mundi, conditio sine qua non” (Weltseele als Grundvoraussetzung) zu nähern, muß man sich hingegen erneut mit der durch die Seele der Erde repräsentierten Mittlerschaft befassen. Der Philosoph legt dem Leser nahe, zur Kenntnis zu nehmen, daß alles auf der Erde in Bewegung ist und daß die einzelnen Bewegungen der Wesenheiten das Produkt der Energie des Ganzen sind.

Die Beweglichkeit der Entitäten zeigt uns, daß alles lebendig und metamorphisch orientiert ist. Der analytisch-moderne Ansatz erfaßt nur einen Teil der Wahrheit der Natur. Die ersten Menschen haben, wie Giambattista Vico feststellte, die Natur “gefühlt” und wußten, “daß ihr Blut unter dem Einfluß der Seele strömt; daß ihre Atmung von einem belebten ›Quid‹ abhängt“.

Der von den Wissenschaften in seine Bestandteile zerlegte und untersuchte Naturkörper wird auf die statische Beschaffenheit des Leichnams reduziert: “Der Hauptfehler dieser Betrachtungsweise besteht darin, […] das Reich des Organischen dem des Anorganischen gegenüberzustellen”. Man sollte sich im Gegenteil bewußt sein, daß: “Menschen und Tiere sind […] die Glieder der Erde, in der die höchste Energie der Verbindung und Integration aller irdischen Materialien und ihrer Beziehungen untergebracht ist”. Könnte man Menschen, Tiere und Pflanzen von der Erde entfernen, so würde sie wie ein toter Baumstamm aussehen. Erde und Lebewesen sind eng miteinander verbunden, sie gehören zueinander: Alles ist in allem enthalten.

Die Erde ist also eine Denkerin! Sie denkt durch die Seelen, die sie bewohnen, und wir fügen jeder Wahrnehmung durch ein höheres “Quid” als die empfindsame Erfahrung, die vom Allgeist kommt, einen kognitiven Aspekt hinzu. Der Mensch arbeitet also mit der ›anima mundi‹ zusammen, um ein gegenseitiges Bewußtsein zu entwickeln.

Das Interesse und der Wille des einzelnen Menschen kollidieren mit dem Willen des “Erdbewußtseins”. Alle Wesenheiten sind durch sympathische Beziehungen an die Erde gebunden. Wir haben Kenntnis von der Seele durch den Körper und “vom göttlichen Geist […] durch das, was materiell in der Welt geschieht”. Alles wird uns durch Licht und Ton vermittelt und wir verstehen es: vom Prinzip können wir nichts anderes sagen, “als daß es sich durch die Fähigkeit auszeichnet, in zweifacher Weise zu erscheinen, nämlich als geistiges Wesen, wenn es sich selbst erscheint, und als körperliches Wesen, wenn es einem anderen erscheint”.

Das Göttliche und die Welt sind ein und dasselbe. Das Allumfassende lebt einzig und allein in der Partikularität der Entitäten: “Dies ist die pantheistische Sicht der Welt. Auch unsere Sicht ist pantheistisch”. Also: “Den Teil des göttlichen Wesens, den wir mit dem Göttlichen gemeinsam haben, wird von uns als Geist erfaßt; alles, was übrig bleibt, erscheint uns körperlich, materiell als Natur, als Welt. […] Es handelt sich um eine Erinnerungs-Philosophie, die in der Lage ist, ein sehr altes sapientiales Erbe wiederzugeben, die aber gleichzeitig in der Lage ist, zu uns in Bezug auf eine zukünftige Philosophie zu sprechen.” Aus diesem Grund werden diejenigen, die an der Ausarbeitung einer Kultur des ›Neubeginns‹ interessiert sind, bei Fechner Anregungen und Vorschläge von großer Tragweite finden.

[…] Der Philosoph argumentiert in diesem Buch, daß der Tod eine Reise ist, der Höhepunkt eines unvollendeten Weges. In ihm erreicht das Leben eine Intensität, die größer ist als die, die es vor dem Tod erfahren hat. Das Bewußtsein in Verbindung mit der Empfindsamkeit, die Fechner im neuplatonischen und eckhartschen Sinne versteht, erlaubt es dem deutschen Denker, über die moderne Idee der Subjektivität hinauszugehen und einem Bedürfnis zu entsprechen, das besonders in der Romantik zum Ausdruck kam.

In Fechners kosmischem Panpsychismus ist alles miteinander verwoben, und deshalb geht nichts, was eigentlich zu uns gehört, verloren: “Was wir denken oder fühlen […], bleibt in das Gewebe der individuellen Existenz und in die Dynamik der Erde als Ganzes eingewoben, und zwar auf eine Weise […], die wir erst im Jenseits verstehen werden”. Genauer gesagt, im Moment des Todes: “Der Mensch wird sich plötzlich all dessen bewußt, was […] weiterhin handelt und lebt”, und offenbart damit die Kraft, die in gemeinschaftlicher Solidarität die Lebenden an die Verstorbenen bindet, die Kraft der Tradition.

[…] Die Natur lehrt, daß das Ewige immer im Vergänglichen ist, das Eine im Vielen, der reine Akt weist auf ein Göttliches hin, das in allen Dingen lebt: ‘Nicht ein Göttliches, das wir jenseits der Natur zu suchen hätten’.

Heraklit hat mehr als jeder andere die Wechselbeziehung zwischen den Gegensätzen aufgezeigt. Bei ihm und den Griechen “verweisen Polemos und Harmonie auf ein und dieselbe Realität”, jenseits jedes Dualismus. Aus diesem Grund ist die Rückkehr zur Betrachtung der Lebendigkeit der Natur mit Fechner nach Meinung des Autors der einzige Weg, um die spekulative und existentielle Sackgasse zu überwinden, die unsere Tage kennzeichnet […].

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/09/01/zend-avesta-de-gustav-theodor-fechner-reflexions-de-giovanni-sessa.html
Originalquelle: https://www.paginefilosofali.it/zend-avesta-di-gustav-theodor-fechner-riflessioni-di-giovanni-sessa/
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