Marco Maculotti

 

 

Von Freunden und Feinden gleichermaßen mißverstanden, kämpfte er allein gegen die moderne Welt.

Dieser Nachruf auf Julius Evola hebt gut den „prometheisch-luziferischen“ Daimon hervor, der ihn während seines gesamten irdischen Weges begleitete und ihn zu einem einzigartigen Denker im Panorama des 20. Jahrhunderts machte, wie aus seinem autobiografischen Werk ›Der Weg des Zinnobers‹ klar hervorgeht.

Saggi sull’Idealismo magico‹ (Aufsätze über den magischen Idealismus); L’uomo come potenza (Der Mensch als Macht); Teoria dell’Individuo assoluto (Theorie des absoluten Individuums)…; Bücher, die der Bibliotheksbesucher im Vorbeigehen betrachtet und hinter deren extravagantem Äußeren sich eine furchterregende Kraft verbirgt, ein Feuer, von dem man leicht erfaßt und überwältigt wird. Ich erinnere mich noch an die Bestürzung, die die ersten Äußerungen über die besorgniserregende Theorie hervorriefen, wenn auch nur in engen Kreisen von Gelehrten. „Verrückt“, „unerhört“, „furchtbar“, „des Scheiterhaufens würdig“… „ [1]

In einer berühmten Rede erklärte Pierre Drieu La Rochelle, daß „die Funktion der Intellektuellen, oder zumindest eines bestimmten Typs von Intellektuellen, darin besteht, über das Ereignis hinauszugehen, riskante Wege zu gehen, alle möglichen Wege der Geschichte zu beschreiten“. Nur wenige Porträts von „Intellektuellen“ entsprechen einem solchen Identitätsmuster, das man in gewissem Sinne als prometheisch-luziferisch bezeichnen könnte, wie das eines der umstrittensten (und am meisten mißverstandenen) Köpfe der italienischen Kultur des 20. Jahrhunderts: des römischen Philosophen und „Traditionalisten“ Julius Evola (1898 – 1974).

Der biografische Aspekt seines Werks (sowohl literarisch als auch „alchemistisch“) und die Etappen einer Existenz, die lange vor seinem Tod „mythologische“ Züge annahm, wurden von Evola selbst in der ersten Person in dem Buch-Dokument mit dem Titel ›Il cammino del cinabro‹ [2] erzählt, das 1963 erstmals veröffentlicht wurde. Die jüngste Neuauflage (2018) durch ›Edizioni Mediterranee‹ aus Rom für die Reihe Opere di Julius Evola (Werke von Julius Evola), herausgegeben von Gianfranco de Turris, stellt die vierte korrigierte Ausgabe dar, die überarbeitet und mit zahlreichen Anmerkungen, Anhängen, Bibliografien, Fotos, unveröffentlichten Dokumenten und Essays von Geminello Alvi (›L’ebbrezza del vuoto‹) und Andrea Scarabelli (›Il cammino editoriale de ‚Il cammino del cinabro‹) auf insgesamt fast 500 Seiten erheblich erweitert wurde. Eine Ausgabe also, die man sich nicht entgehen lassen sollte, wenn man Evola verehrt oder ihn „näher“ kennenlernen möchte, was den eher historisch-biographischen Bereich seines einsamen irdischen Weges angeht.

Wir sind uns bewußt, daß es nicht möglich ist, in diesem kurzen Artikel ein erschöpfendes Gesamtbild von Evolas Leben zu geben; diesbezüglich verweisen wir Sie auf die vollständige Lektüre des betreffenden Buches. Wir beschränken uns hier auf einen groben Abriß des Lebens des römischen Philosophen und Esoterikers, wobei wir hier und da einige besonders erwähnenswerte Episoden und bestimmte ideologische Positionen hervorheben, die er im Laufe der Jahre entwickelte; zu diesem Zweck unterteilen wir Evolas Biographie in drei „Makro-Phasen“ (die jeweils etwa 25 Jahre dauern), die wir idealerweise auf die Phasen der ›Ars alchemica‹ zurückführen, nicht ohne eine versteckte Bedeutung: die jugendliche oder ›Nigredo‹-Phase (bis 1922), die reife oder ›Albedo‹-Phase (von 1923 bis Ende der 1940er Jahre) und schließlich die Alters- oder ›Rubedo‹-Phase (von den 1950er Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1974).

Jugend: Nigredo

Wer war Julius Evola, bevor er Julius Evola wurde? Von Jugend an, so stellt er im Incipit von Il cammino‹ (Der Weg) fest, scheinen zwei „Veranlagungen“ sein Wesen geprägt zu haben: einerseits ein „Drang zur Transzendenz“, aus dem heraus er eine „gewisse Loslösung vom Menschlichen“ und eine „gewisse Unempfindlichkeit und Kälte des Geistes“ erreichen mußte; andererseits eine Haltung „des kshatriya“, ein Begriff, der im Sanskrit „einen zum Handeln und zur Bejahung neigenden Menschentypus, einen „Krieger“ im weiteren Sinne“ bezeichnet. Und doch, fährt der römische Philosoph fort [3]:

Ich kann die von mir genannten Neigungen weder auf Umwelteinflüsse noch auf erbliche (im heutigen, biologischen Sinne) Faktoren zurückführen. Ich verdanke der Umwelt, der Erziehung, meiner Abstammung nur sehr wenig. Ich befand mich weitgehend im Widerspruch sowohl zur vorherrschenden Tradition im Westen – dem Christentum und dem Katholizismus – als auch zur aktuellen Zivilisation, zur demokratischen und materialistischen „modernen Welt“, zur Kultur und Mentalität meines Geburtslandes Italien und schließlich zu meinem familiären Umfeld. Wenn überhaupt, dann war der Einfluß von all dem indirekt, negativ: Er hat nur Reaktionen in mir hervorgerufen.

Als der junge Julius nach dem Ersten Weltkrieg in die Hauptstadt zurückkehrte, wurde er in eine Krisenphase katapultiert, die für ihn eine wahre Katharsis darstellte: ein aktueller Moment seiner Existenz, der im Sinne einer notwendigen Anfangsphase von Nigredo zu verstehen ist, ohne die es unmöglich gewesen wäre, die schwindelerregenden Höhen von Albedo und Rubedo anzustreben. Unserer Meinung nach ist es kein Zufall, daß diese sehr wichtige Phase in der Ausbildung des „Philosophen“ Evola unter anderem zu einer Reihe von Experimenten mit psychotropen Substanzen führte, darunter wahrscheinlich Psilocybin. So erinnert sich Evola an diese tragische, aber unausweichliche Phase von Nigredo [4]:

… die Ungeduld mit dem normalen Leben, in das ich zurückgekehrt war, das Gefühl der Substanzlosigkeit und Eitelkeit der Ziele, die normalerweise die menschlichen Aktivitäten bestimmten, wurde in mir akut. Auf verworrene, aber intensive Weise manifestierte sich die angeborene Sehnsucht nach Transzendenz. In diesem Zusammenhang ist auch die Wirkung bestimmter innerer Erfahrungen zu erwähnen, die ich anfangs ohne präzise Technik und Zielbewußtsein mit Hilfe bestimmter Substanzen angegangen bin, die nicht zu den am häufigsten verwendeten Betäubungsmitteln gehören und deren Gebrauch in der Tat in den meisten Fällen die Überwindung einer natürlichen Auflehnung des Organismus und eine besondere Kontrolle über ihn erfordert. Auf diese Weise bewegte ich mich zu Bewußtseinsebenen, die sich teilweise von den physischen Sinnen lösten. Nicht selten kam ich in die Nähe von visionären Halluzinationen und vielleicht sogar von Wahnsinn. Aber eine im Grunde gesunde Konstitution, der authentische Charakter des Impulses, der mich zu diesen Abenteuern geführt hatte, und eine Unerschrockenheit des Geistes trugen mich weiter.

Julius Evola,Die Waageflammen und die Pyramiden, 1920-21

Die größten Früchte dieser Erfahrungen sind darin zu sehen, daß sie ihm, wie er selbst sagt, „Gesichtspunkte verschafft haben, zu denen er sonst vielleicht nur schwer gelangt wäre“, Perspektiven und Einsichten, die mit den bloßen Mitteln des rationalen Verstandes nicht zu erfassen sind. Evola brachte diese Zeit des unruhigen inneren Wachstums mit einem orientalischen Begriff in Verbindung, dem „Gebissenwerden von der Schlange“ [5], der genau „ein Bedürfnis nach Intensität und dem Absoluten, dem kein normales Objekt adäquat erscheint … daher auch eine Art ›cupio dissolvi‹, ein Impuls, sich zu verflüchtigen und zu verlieren“ beschreibt. Während Gelehrte der ›Ars alchemica‹ und Leser von Evolas eigenem Werk ›La Tradizione ermetica‹ (Die hermetische Tradition) keine besonderen Schwierigkeiten haben werden, diese Konzepte mit der oben erwähnten Anfangsphase des „Großen Werks“ in Verbindung zu bringen, beschränken wir uns auf die Feststellung, daß dieser Impuls, sich zu verflüchtigen und zu verlieren, in der hinduistischen Tradition idealerweise mit dem ›guṇa tamas‹ verbunden ist, dessen „Kraft“ gerade in den Nigredo-Phasen überströmt (während das ›guṇa sattva‹ der Albedo-Phase und das ›guṇa rajas‹ dem Rubedo zuzuordnen ist).

Dennoch läßt sich feststellen, daß schon in dieser ersten Phase des Extrem-Bewußtseins seine genetischen Dispositionen – ein Begriff, den wir hier, den Angaben des Autors folgend, eher im Zusammenhang mit dem Genius als mit der Gen-Ebene verstehen möchten – eine solche potenziell vernichtende Erfahrung „heroisch“ lenkten. Der authentische Charakter des Impulses, der ihn bei diesen „psychedelischen Streifzügen“ leitete, und die Unerschrockenheit des Geistes zeigen bereits das seit seiner Jugend vorhandene evolianische Kennzeichen des ›Kriegers‹ – oder ›kshatriya‹, wie er sagen würde. Haltungen, die im übrigen im guṇa rajas voll verwirklicht sind, das dem Impuls der Bewegung, der Unbeständigkeit, der Aktivität und dem brennenden Wunsch nach Veränderung entspricht; guṇa, das im alten Indien nicht zufällig von der Kshatriya-Kaste als voll verwirklicht angesehen wurde. Ein Impuls, um ihn noch einmal zu zitieren, „jede Erfahrung bis zum Ende zu führen, bis zur Grenze, und dann darüber hinaus zu gehen“ [6]. Hier wurde das dæmon-Evola noch vor dem Denker und dem Philosophen geformt (oder besser gesagt, kraftvoll manifestiert); aus diesen Erfahrungen schöpfte der Evola-Mensch die Richtlinien, an denen er fortan sein eigenes Leben orientieren würde [7]:

… die Orientierung war von da an im wesentlichen die folgende: zu versuchen, meine Existenz mit Aufgaben und Tätigkeiten zu rechtfertigen, die keinen rein individuellen Charakter hatten oder mir zumindest nicht so erschienen; dann, wo immer es möglich war, das zu hinterfragen, was man gemeinhin Schicksal nennt, und es in Bezug auf den Fortbestand meiner Existenz als Ganzes zu bewerten.

Otto Dix, Selbstportait als Mars, 1915.

Reife: Albedo

Nach den ›Bekenntnissen‹ des Einführungskapitels geht ›Der Weg‹ weiter, indem er sich mit der Erfahrung der ersten Person in der dadaistischen Welt befaßt und persönliche Überlegungen zur abstrakten Kunst darlegt (Kap. 2); dann tritt die Darstellung in das Herz d er Evolianischen Produktion ein, die sogenannte „spekulative“ oder philosophische Periode (Kap. 3). Es sind die Jahre zwischen 1923 und 1927, in denen dieSaggi sull’idealismo magico‹ (Essays über den magischen Idealismus, erstmals 1925 veröffentlicht), ›L’individuo e il divenire del mondo‹ (Das Individuum und das Werden der Welt, 1926), ›L’uomo come potenza‹ (Der Mensch als Macht) (1927) und ›Teoria dell’Individuo Assoluto‹ (Theorie des absoluten Individuums,1927) und ›Fenomenologia dell’individuo assoluto‹ (Phänomenologie des absoluten Individuums, 1930) geschrieben werden (auch wenn die Veröffentlichung manchmal mehrere Jahre später erfolgt). Dies sind die rein philosophischen Texte Evolas, der sich zwar stark auf klassische Traditionen wie den Taoismus, den Hinduismus und den Hellenismus beruft, es aber nicht versäumt, seine philosophischen Interessen im engeren Sinne (u. a. Nietzsche, Hegel und Michelstaedter) mit seinen „metaphysischen“ und „traditionalistischen“ Leidenschaften zu verbinden. In diese Zeit fällt auch die ›Gruppo di Ur‹ (Ur-Gruppe), eine esoterische Vereinigung, aus der die gleichnamige Zeitschrift (deren erster Redakteur Evola war) hervorging, die 26 von Arturo Reghini und Giovanni Colazza gegründet wurde.

Kapitel 4, ›Die Annäherung an den Osten und der heidnische Mythos‹, befaßt sich mit Schriften aus derselben Zeit (wenn auch Jahrzehnte später veröffentlicht), die sich von den früheren dadurch unterscheiden, daß sie sich ganz auf die östliche Tradition, insbesondere den Hinduismus, konzentrieren: ›La dottrina del risveglio‹ (Die Lehre des Erwachens, 1943) und ›Lo Yoga della potenza‹ (Der Yoga der Macht, 1949). In diesem Kapitel spricht Evola aber auch über die Entstehung eines seiner bekanntesten Werke, das zwar nur am Rande mit den Orientalistik-Studien zu tun hat, aber in den 1920er und 1930er Jahren voll in den Bereich der „heidnischen“ Studien des römischen Philosophen eintritt, und zwar schon mit seinem klangvollen Titel: ›Der heidnische Imperialismus‹ (1928). In dieser langen Periode, die in den 1920er Jahren beginnt und ungefähr bis zum Ende der 1940er Jahre andauert (eine Periode, die auch die berühmte ›Revolte gegen die moderne Welt‹ einschließt, auf die wir uns weiter unten beziehen werden), können wir nach unserem konzeptionellen Schema die Albedo-Phase des evolanischen Denkens nachzeichnen, das, was wir als die ›pars construens‹ seines Denkens bezeichnen könnten, die idealerweise in dichotomischem Gegensatz zur anschließenden ›pars destruens‹ steht, die mit dem Rubedo verbunden ist, einer Phase der martialisch „prometheischen“ Expansion, die zeitlich vom Beginn der 1950er Jahre bis zu seinem Weggang angesetzt werden kann: Jahre, in denen Evola seine scharfe (und gewissermaßen prophetische) Kritik an der Richtung, die die ebenso faustische „moderne Welt“ – d.h. die „westliche“  – eingeschlagen hatte, zu Papier gebracht hat.

Vor der Welt der Tradition erschien die moderne Welt als eine anomale und regressive Zivilisation, geboren aus einer Krise und einer tiefen Entgleisung der Menschheit… [8].

Seit Anfang der 1930er Jahre wird die Besessenheit des Philosophen von der Dichotomie „traditionelle Welt“/“moderne Welt“ in seinem Denken immer akuter, nicht ohne Kontakt mit dem heliadischen Äquivalent „heilig“/“profan“. Einige der in dem genannten Buch enthaltenen Beobachtungen – oder vielleicht sollte man besser sagen „vaticinis“ – scheinen mit einer Ausdruckskraft ausgestattet zu sein, die heute an Nietzsche und jetzt an die Schriften von Giorgio Colli aus den 1960er und 1970er Jahren über die griechische Tradition erinnern und nicht selten den Eindruck erwecken, daß sie sich bis zum Paroxysmus entwickeln (man könnte sagen, bis zum Scheitelpunkt des Sagbaren); fast so, als wären Evolas syntaktische Metastasen, denen man bis zum Ende folgen muß, um der labyrinthischen Falle der „modernen Welt“ zu entkommen.

Evolas Visionen nehmen die seines (fast) deutschen Kollegen Ernst Jünger um einige Jahrzehnte vorweg, vor allem in ›Al muro del tempo‹ (1959) [9], und gleichzeitig greifen sie die Intuitionen auf, die dieser in ›Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt‹ (1932) dargelegt hat, zu dem Evola auch einen umfangreichen Kommentar geschrieben hat (L’›Operaio‹ nel pensiero di Ernst Jünger, 1959). Als Beispiel sei hier eine besonders bedeutsame Invektive voller Pathos angeführt, die auch in ›Der Weg‹ [10] zitiert wird:

Die gegenwärtige „Zivilisation“ des Westens wartet auf eine grundlegende Umwälzung, ohne die sie früher oder später zusammenbrechen wird. Sie hat die vollkommenste Perversion jeder rationalen Ordnung der Dinge erreicht. Das Reich der Materie, des Goldes, der Maschine, der Zahl, in ihm gibt es keinen Atem, keine Freiheit, kein Licht mehr. Der Westen … kennt die Natur nicht mehr … die Natur ist zu einem undurchsichtigen und tödlichen Äußeren verkommen, dessen Geheimnis die profanen Wissenschaften mit kleinen Gesetzen und kleinen Hypothesen zu ignorieren suchen. Sie kennt die Weisheit nicht mehr… die großartige Wirklichkeit derer, in denen die Idee zu Blut, Leben, Macht geworden ist… Sie kennt den Staat nicht mehr… Was der Krieg ist – der Krieg, der in sich selbst als höherer Wert und Weg zur geistigen Erfüllung gewollt ist… Sie wissen es nicht mehr, diese formidablen „Aktivisten“ Europas… die keine Krieger kennen, sondern nur Soldaten… Es ist ein großer, lebloser Körper, der sich hin und her wirft, getrieben von undurchsichtigen und unberechenbaren Kräften, die jeden unerbittlich zerquetschen, der sich ihm widersetzen oder ihm nur entkommen will. All das hat die „Zivilisation“ des Westens hervorgebracht… Und der Kreis schließt sich immer mehr um die wenigen, die zu großem Ekel und großer Revolte fähig sind.

Julius Evola, Schmiede, Studie der Geräusche, 1918

Das hohe Alter: Rubedo

Diese Themen tauchen auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf, obwohl sich Julius Evola in dieser dritten Phase seines Lebens eher einer Art philosophisch-soziologischer Analyse zuwendet als einer rein mythisch-traditionellen (mit Ausnahme von ›Metaphysik des Sexus‹, einem seiner besten Werke, das 1958 veröffentlicht wurde), die ebenso unerschütterlich und distanziert wie leidenschaftlich und dramatisch prophetisch ist. In diese Zeit fallen ›Orientamenti‹ (1950), ›Gli uomini e le rovine‹ (1953) und später ›Cavalcare la tigre‹ (Den Tiger reiten, 1961) sowie die in ›L’arco e la clava‹ (1968) enthaltenen Essays, die im Anschluß an ›Il cammino del cinabro‹ erscheinen werden. Auch hier finden sich Anklänge an Jünger, vor allem in der eschatologischen Vision der ›Zeitmauer‹ mit ihren dunklen „mythischen Kräften“, die durch die triumphierende Hysterie der „Maschinenwelt“ geweckt werden, und das unsägliche Gefühl, sich in den ›Mäandern der Zeitwelle Null‹ [11] mit immer irrsinnigerer Geschwindigkeit dem abschließenden Eschaton zu nähern – und Überlegungen, die an Spengler und Guénon von ›Die Krise der modernen Welt‹ (1927) und ›Die Herrschaft der Quantität‹ und ›Die Zeichen der Zeit‹ (1939) erinnern, wie die folgenden (aus Kap. 9 von ›Der Weg‹), in dem ein keineswegs beruhigendes Bild des Chaos, das den zeitgenössischen Westen durchdringt, gezeichnet wird [12]:

Allgemeine Entweihung der Existenz, zunächst Individualismus und Rationalismus, dann Kollektivismus, Materialismus und Mechanismus, schließlich Offenheit für Kräfte, die nicht mehr zu dem gehören, was über dem Menschen ist, sondern zu dem, was unter ihm ist, um die Formen, Interessen und die unheimliche Macht einer allgemeinen planetarischen Zivilisation in der beschleunigten Bewegung zu bestimmen, die zur Schließung eines großen Zyklus führt, in Begriffen, die weit über die Spenglersche „Dämmerung des Westens“ hinausgehen.

Um aus der ideologischen und existenziellen Sackgasse herauszukommen, ist es einmal mehr unerläßlich, zu den antiken Völkern zurückzukehren, zu der traditionellen Denkweise, durch die jede „vernünftige“ Gesellschaft, die jemals existiert hat, die „Welt der Realität“ entschlüsselt und gestaltet hat. Aus dieser Perspektive kann eine Reminiszenz an das ›Viśnu Purana‹ oder die lateinischen Klassiker auch eine Lektion in Bezug auf die arimanischen Mechanismen dieser verzerrten „modernen Welt“ sein, selbst in diesen „letzten Zeiten“, in denen es scheint, daß „jetzt alles verloren ist“ [13]:

 … Ich erinnerte mich daran, daß ein Satz von Tacitus bereits genau den Prozeß angedeutet hatte, der sich in der Endzeit in großem Umfang abspielen sollte: „Um den Staat [den wahren, organischen, traditionellen Staat] zu stürzen, werden sie die Freiheit vorschieben; wenn sie so weit gekommen sind, werden sie auch diese angreifen.

Die zyklisch-traditionelle und involutionäre Sicht der Geschichte des Kosmos – eine esoterische Doktrin, die spätestens seit der unverzichtbaren Abhandlung über die Morphologie der Geschichte der Zivilisationen ›Revolte gegen die moderne Welt‹ (1934) das „Arbeitspferd“ von Evola ist, – bestätigt durch die heilige Weisheit der Hindus, Perser, Hellenen, Fernöstler und Präkolumbianer – wird in dieser Zeit von dem Philosophen als eine bittere und unausweichliche Prophezeiung erlebt, als Vorbote eines katastrophalen Ereignisses, das unweigerlich eintreten wird. Daher der ausgeprägte Pessimismus seiner Analysen in den 1960er Jahren und der immer stärker werdende Eindruck, daß es jetzt „nichts mehr zu erreichen gibt“, außer zu versuchen, stoisch inmitten der Trümmer zu stehen.

Sascha Schneider, Der Anarchist, 1894

Gerade das konsequente und wiederholte Bekenntnis zu einer solchen überholten und antimodernen Ideenordnung sowie die Veröffentlichung der bereits erwähnten ›Orientamenti‹ und das Verfassen einiger Artikel für die Zeitschrift ›Imperium‹ stürzten den Philosophen in eine Tragikomödie, die man mit Recht als kafkaesk bezeichnen kann. Die ›Farce‹ begann am 24. Mai 1951, dem Tag, an dem Evola verhaftet und angeklagt wurde, der „Inspirator“ (der „moralische Anstifter“, würden wir heute sagen) einer angeblichen „Verschwörung, die nicht mehr und nicht weniger als die Wiederherstellung des faschistischen Regimes zum Ziel hatte“ [14], zu sein. Als Beweis für die Substanzlosigkeit der Anschuldigung wurden fast alle Angeklagten freigesprochen, der Prozeß endete in einer Seifenblase und „diente nur dazu, die eifrigen Beamten der politischen Polizei der neuen Republik lächerlich zu machen“. Inmitten der allgemeinen Verlegenheit führen zwei Wachen den rekonvaleszenten Evola in den Gerichtssaal, der sich trotz seines schlechten Gesundheitszustands gegen die Anschuldigungen verteidigen will, die gegen ihn erhoben werden. Der Kern seines Verteidigungsplädoyers (das trotz der Tatsache, daß fast siebzig Jahre vergangen sind, auch heute noch von großer Bedeutung ist) kann im Kapitel 12 von ›Der Weg‹ [15] nachgelesen werden:

Ich sagte, daß es absurd sei, mir „faschistische“ Ideen zuzuschreiben. Nicht insofern, als sie ›faschistisch‹ waren, sondern nur insofern, als sie im Faschismus das Wiederauftauchen von Prinzipien der großen europäischen Tradition im allgemeinen darstellten, hätte ich bestimmte Auffassungen der Staatsdoktrin verteidigen können und kann dies auch weiterhin tun. Es stand einem frei, solche Auffassungen auf den Prüfstand zu stellen. Aber in einem solchen Fall hätte man einen Platon von ›Der Staat‹, einen Metternich, einen Bismarck, einen Dante von ›De Monarchia‹ und so weiter auf dieselbe Anklagebank setzen müssen. Aber offensichtlich gab es in den derzeitigen Niederungen für die meisten nichts anderes als die Antithese Faschismus-Antifaschismus, und kein Demokrat, Sozialist oder Kommunist zu sein, war automatisch gleichbedeutend mit „Faschist“ zu sein.

Auf diesen Seiten des „Weges“ verkündet Evola zum x-ten Mal seine ideale Sehnsucht nach einem „organischen“ und „traditionellen“ Staatstypus, ähnlich dem, der die menschliche Gesellschaft seit Jahrtausenden bestimmte, vom pharaonischen Ägypten bis zum fruchtbaren Halbmond, von den Griechen bis zum antiken Rom und dann, wenn auch auf schwächere Weise, im Mittelalter, und der mit dem Zeitalter der Aufklärung endete, um schließlich in die so genannte „moderne Welt der Maschinen“ zu entarten. Ein Ideal, das, wie man leicht verstehen kann, in krassem Gegensatz zum westlichen Paradigma steht, das demokratisch und fortschrittlich, materialistisch und mechanistisch, atheistisch und wissenschaftlich ist und in dem kein Platz für die gefürchtete und sinnlose „Dämonisierung der Wirtschaft“ ist, in der sich „ein geschlossener und dunkler Kreis … sowohl der Marxismus als auch der Kapitalismus bewegen, eine identische materialistische Lebens- und Werteauffassung, die dem einen und dem anderen zugrunde liegt“ [16].

Um diesen Einblick in die Figur des Julius Evola zu beenden, müssen wir abschließend die Tatsache hervorheben, daß der Tod, wie so oft in den Biographien solch eigenartiger Persönlichkeiten, absolut mit dem Leben vereinbar war. An der Schwelle des Todes bat der Philosoph die Anwesenden, ihn zu stützen, damit er aufrecht stehend aus dem Fenster seiner römischen Wohnung im siebten Stock auf den Janiculum-Hügel hinausschauen konnte. Seine Asche wurde nach dem Vorbild der alten indoeuropäischen Ritter und römischen Patrizier beigesetzt und später, auf seinen ausdrücklichen testamentarischen Wunsch hin, in die Winde des Monte Rosa gestreut, dessen Hänge Evola zu Lebzeiten bestieg; eine wunderbare Metapher für ein Leben gegen den Strom, in ständigem Aufstieg und asketischer Einsamkeit, und für einen wahrhaft freien Geist, der sich auch nach seinem physischen Ableben in unerforschte Höhen erhebt, in die sich nur wenige wagen, weit weg von den lärmenden Massen [17].

Unverstanden von Freund und Feind gleichermaßen,
kämpfte er allein gegen die moderne Welt.

(Nachruf im Corriere della Sera vom 13. Juni 1974)

 

Das letzte Foto von Julius Evola, 1974

Anmerkungen:

[1] E. Servadio, Evola, oder der Magier; in J. Evola, Il cammino del cinabro. Mediterranee, Rom, 2018, S. 179.

[2] Zinnober oder Zinnoberit oder Quecksilbersulfid ist ein Mineral, das zur Klasse der Sulfide gehört, rötlich aussieht und chemisch gesehen eine Kombination aus Schwefel und Quecksilber ist. Aufgrund seiner Fähigkeit, sich in Quecksilber zu verwandeln, ist Zinnober die Grundlage des gesamten chinesischen alchemistischen Denkens im Altertum und spielt auch eine wichtige Rolle bei den Techniken der Langlebigkeit und dem Streben nach Unsterblichkeit, die für den Taoismus charakteristisch sind. Nach Mircea Eliade [Künste des Metalls und der Alchemie, Bollati Boringhieri, Turin 2018, S. 103 – 104) „verbirgt Zinnober […] das Geheimnis der Regeneration durch den Tod […] Daraus folgt, dass er die immerwährende Regeneration des menschlichen Körpers gewährleisten und letztlich Unsterblichkeit verschaffen kann“.

[3] Pfad, S. 48.

[4] Ebd., S. 53-54.

[5] Der österreichische Romancier Gustav Meyrink, der den meisten durch Der Golem (1915) bekannt ist, hatte Gelegenheit, in einem seiner Essays über die Erfahrung des „Schlangenbisses“ mit diesen Worten zu schreiben, die einerseits Evolas „Bekenntnisse“ und andererseits unsere zusätzlichen Klarstellungen widerspiegeln: „Die Menschen aller Völker und aller Epochen tragen die Spuren des Bisses dieser Schlange, und aus ihren Reihen – die im Laufe der Zeit ausgerottet wurden – ist jenes Heer entstanden, das vom Durst nach dem Transzendenten gequält wird und das, indem es sich okkulte Ziele zuschreibt, für andere ein unlösbares Rätsel darstellt.“ „Entartete“ nannte Max Nordeau diese von der Schlange besessenen Wesen, aber Jesus Christus nannte sie „das Salz der Erde“. Das Gift der Schlange löst bei den einen einen dunklen und unverständlichen Impuls zur Selbstbestrafung und Askese aus, während es sich bei den anderen als sehnsüchtiges Verlangen nach einer übersinnlichen Kraft, nach metaphysischem Wissen und Erkenntnis oder als religiöser Durst nach dem Göttlichen manifestiert“ (G. Meyrink, ›La via del fachiro‹, in ›Alle frontiere dell’occulto‹, hrsg. von G. de Turris und A. Scarabelli, Arktos 2018, S. 64).

[6] Der Weg, S. 55.

[7] Ebd., S. 56.

[8] Ebd., S. 182.

[9] Eine Rezension von Evola über Jüngers ›An der Zeitmauer‹ ist in der Aufsatzsammlung ›Reconnaissance. Menschen und Probleme‹ (1974).

[10] Der Weg, S. 150.

[11] Um eine Terminologie von Terence McKenna zu verwenden, einem anderen unvergeßlichen „Erforscher des Astralen“ (obwohl er einer völlig anderen kulturellen Strömung als Evola angehört) des letzten Jahrhunderts; vgl. M. Maculotti, Towards the „TimeWave Zero“: ›Psychedelia and Eschatology in Terence McKenna‹, in AXIS MUNDI.

[12] Der Weg, S. 265.

[13] Ebd., S. 357.

[14] Ebd., S. 351.

[15] Ebd., S. 353.

[16] Ebd., S. 358. Diese eigentümliche Auffassung Evolas, die den amerikanischen Kapitalismus und den sowjetischen Kommunismus als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet, taucht bereits in ›Revolte‹ und in vielen Werken auf und ist in vielen Artikeln der 1950er bis 1960er Jahre präsent; dem Leser, der sich eingehender damit befassen möchte, sei als Beispiel die Aufsatzsammlung ›American Civilisation. Writings on the United States‹ 1930-1968 (herausgegeben von Alberto Lombardo; Controcorrente Edizioni, Neapel 2010).

[17] Man kann Evolas Leidenschaft für das Bergsteigen, wie sie in seinen ›Meditations on the Summits: writings on the mountains‹ 1927-1959 (veröffentlicht 1973, kurz vor seinem physischen Tod) zum Ausdruck kommt, als eine „physisch-praktische Erweiterung“ seiner philosophisch-metaphysischen Vorstellungen betrachten. Man kann behaupten, dass Evola das Bergsteigen als eine asketische und meditative Praxis beabsichtigte: das Ziel, das er sich setzte, war auch hier die Überwindung der Grenzen der menschlichen Kondition durch Aktion und Kontemplation, bis zu dem Punkt, dass sie in einer solchen ›coniunctio oppositorum‹ zu den beiden untrennbaren Elementen eines „Aufstiegs, der zur Askese wird“ werden (F. Demattè, ›Julius Evola, Meditationen der Gipfel‹, in Secolo d’Italia, 26. August 2003).

Quelle: https://axismundi.blog/2018/12/15/il-cammino-solitario-del-cinabro/
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