Chad Crowley
untersucht das Zusammenspiel zwischen Nietzsches Philosophie der Selbstbeherrschung und Solons Betonung der gemeinschaftlichen Verantwortung und beleuchtet die komplexe Dynamik von Autorität, Gehorsam und dem Streben nach Exzellenz.
Die Dialektik von Autorität, Gehorsam und Befehl hat Philosophen seit Jahrhunderten in ihren Bann gezogen. Zwei Zitate, eines von Friedrich Nietzsche: „Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann.“, und das andere von Solon von Athen, dem antiken athenischen Gesetzgeber aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.: „Wenn du gehorchen gelernt hast, wirst du auch zu befehlen verstehen“, bieten einen interessanten Rahmen für die Erforschung dieser Dialektik. Trotz der zeitlichen Kluft führen diese Philosophen einen Dialog, der unser Verständnis von Identität, Autorität und Machtdynamik erhellt.
Die tiefgreifende Wechselwirkung zwischen Nietzsches Philosophie und der griechischen Geistestradition bietet einen reichen Kontext für die Interpretation dieser Aussagen. Nietzsche, der ursprünglich Altphilologe war, hegte eine tiefe Verehrung für die griechische Philosophie und Kultur. Er betrachtete die Griechen, vor allem die vorsokratischen Philosophen, als Inbegriff menschlicher Schöpferkraft, Stärke und Weisheit.
Nietzsche bewunderte das griechische Konzept der „arête“, das in der Regel mit „Vortrefflichkeit“ übersetzt wird und das Erreichen des größtmöglichen Potenzials eines Menschen bedeutet. Dieses Streben nach Vortrefflichkeit steht in engem Zusammenhang mit Nietzsches Philosophie der Selbstüberwindung und Selbstschöpfung, wie sie in seinem Konzept des „Übermenschen“ zum Ausdruck kommt. Der Nietzsche’sche Übermensch stellt einen Menschen dar, der seine eigenen Grenzen überwindet, sich selbst beherrscht und damit seinen Willen gegenüber der Außenwelt behauptet. Diese Verkörperung des persönlichen Triumphes und der Selbstverwirklichung symbolisiert die ultimative Ausgestaltung der Arête.
Das griechische Ideal der Aristokratie, das Tugenden wie Mut, Ehre und geistige Tüchtigkeit hochhält, fand bei Nietzsche Anklang. Dieser edle Geist steht in Verbindung mit dem griechischen Konzept des „Agon“, des kämpferischen Strebens nach Exzellenz. Nietzsches Philosophie ist zwar stark von der griechischen Tradition inspiriert, geht aber über eine bloße Nachahmung hinaus und schafft eine nuancierte Neuinterpretation, in die seine Vorstellungen von Wille, Macht und dem Wesen von Sein und Werden einfließen.
Nietzsches Behauptung ›Wer sich selbst nicht gehorchen kann, dem wird befohlen‹ bringt seine Philosophie des Willens zur Macht auf den Punkt. Er stellt den Akt des Selbstgehorsams als eine Manifestation der Stärke in den Vordergrund, eine Selbstbehauptung, die gleichbedeutend mit Machtausübung ist. Für Nietzsche sind das Ich, das befiehlt, und das Ich, das gehorcht, Facetten ein und desselben Wesens und verkörpern eine komplizierte innere Dynamik der Macht. Bei dieser Machtdynamik geht es im Wesentlichen um Beherrschung und Stärke: Die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, ist eine persönliche Machtdemonstration, ein Beweis für die eigene individuelle Stärke. Sich nicht zu behaupten, sich nicht zu gehorchen, bedeutet im Umkehrschluß die Unterwerfung unter äußere Befehle und Werte – ein Verzicht auf die persönliche Macht und ein Affront gegen den dem Leben innewohnenden Willen zur Macht in Nietzsches Sichtweise.
Ein weiteres wesentliches Nietzsche’sches Konzept, das es zu berücksichtigen gilt, ist das „Pathos der Distanz“. Dieser Begriff bezieht sich auf die emotionale Trennung, die Nietzsche zwischen dem Hohen und dem Niedrigen, dem Edlen und dem Gewöhnlichen für notwendig hielt, eine Trennung, die aus überlegenen Werten und Errungenschaften erwächst. Beeinflußt vom Ethos der griechischen Aristokratie hielt Nietzsche diese emotionale Distanz für einen integralen Bestandteil des Weges zur Selbstüberwindung und zur Etablierung des Übermenschen. Diese Trennung ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Dialektik von Befehl und Gehorsam: Diejenigen, die sich selbst überwinden und sich nicht von äußeren Normen befehlen lassen, schaffen eine emotionale Distanz, die sie nicht nur von der „Herde“ abhebt, sondern sie auch mit der Autorität ausstattet, zu befehlen, und damit die komplexe Dynamik der Dialektik weiter erhellt.
Im Gegensatz dazu führt Solons Zitat ›Wer gelernt hat zu gehorchen, wird auch zu befehlen wissen‹ eine gemeinschaftliche Dimension in die Dialektik von Autorität und Gehorsam ein. Solon stellte sich die Gesellschaft als ein harmonisches, lebendiges Ganzes vor, in dem sich der Mensch an die überlieferten Traditionen halten muß, um eine ausgewogene Welt zu schaffen. Zu lernen, zu gehorchen, ist keine Kapitulation der Individualität, sondern ein Akt der sozialen Verantwortung. Außerdem versteht man durch den Gehorsam das ethische Gefüge des Befehls und wird fähig, andere zu befehligen.
Trotz ihrer Unterschiede schließen sich die Perspektiven Nietzsches und Solons nicht gegenseitig aus, sondern stehen in einem dialektischen Wechselspiel. Sie spiegeln unterschiedliche Facetten des menschlichen Zustands wider: die Betonung des Selbstseins und der inneren Machtdynamik (Nietzsche) gegenüber der Konzentration auf soziale Verantwortung und gemeinschaftliche Harmonie (Solon). Beide Perspektiven betonen die Rolle des Gehorsams für das Verständnis und die Ausübung von Herrschaft.
Kurz gesagt, Nietzsches Philosophie ermutigt zu einem Weg der Selbstbeherrschung und dem Streben nach dem griechischen Ideal der „arête“, das sich im Übermenschen manifestiert. Solons Weisheit betont die gesellschaftliche Tugend des Gehorsams gegenüber den Normen der Gemeinschaft, die für eine wirksame Führung unerläßlich ist. Trotz ihrer Unterschiede bilden diese Perspektiven eine komplexe Dialektik von Autorität und Gehorsam, die für ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und gemeinschaftlicher Verantwortung eintritt. Dieses Gleichgewicht spiegelt eine moderne Interpretation des edlen griechischen Geistes wider, den der Übermensch verkörpert. So erhellt der in der griechischen Philosophie verankerte Dialog zwischen Nietzsche und Solon weiterhin unser Verständnis von Selbstsein, Autorität und Exzellenz.