Sinn und Bedeutung des Aufbruchs aus dem ›Puppenheim‹
Nur konsequent, daß die Frauen, die vor hundert Jahren als erste die Zumutungen der ihnen aufgezwungenen Rollen im Stil einer ihrem Innersten widerstrebenden ›Weiblichkeit‹ abschüttelten und endlich sie selbst sein – ein ganzer Mensch statt Puppen nach Wunsch und Bedürfnis, Wohlgefallen und Bequemlichkeit ihres Besitzers ganz und gar aus der Rolle fielen.
Es waren die germanischsten unter den Frauen Europas, die das Unerhörte wagten, zu sich und ihrer durch Tradition und Gesetz sanktionierten Situation Stellung zu beziehen, und dabei entdeckten, daß sie kein unmündiges, weder zum Gehorsam noch Spielzeug verpflichtbares Kindwesen ihres gestrengen, nüchternen, von betriebsamer Geschäftigkeit erfüllten und ermüdeten Herrn und Gebieters waren, von ihm durch unübersteigbare Abgründe getrennt, sondern ein Mensch mit dem Willen zum eigenen Gesetz, zur Entfaltung ureigener Wesenskräfte, zur Verantwortung, zu selbständigem Wachstum und Reifen zur Persönlichkeit. Gewiß, es war nicht zu verwundern, daß die ›erste Emanzipation‹, wie jede Kraft, die, bis zur Unnatur gehemmt, plötzlich freigesetzt ist, hier und da über das Ziel hinausschoß; sie hatte sich längst in das Flußbett gefügt.
Die Neubelebung des eingeborenen Wesensgesetzes, diese Wiederergreifung unseres unvergänglichen Erbes germanischen Frauentums, war durch den Widerstand und Unverstand der um ihre Rechte besorgten Männer, ihr Nichtverstehen der geschichtlichen Notwendigkeit zwar erheblich zu hemmen, wie wir es erlebt haben, ist aber mit der Heraufkunft eines ›europäischen‹ Europa nicht mehr aufzuhalten. Denn diese Wandlung ist von evolutionärem Ausmaß, nicht nur für das Wesen der Frau und das Verhältnis der Geschlechter, auch für das Wesen des Mannes. Die evolutive Entwicklung, die die Frau eingeleitet hat, wird den Menschen insgesamt auf eine höhere Stufe heben.
Leonardo Da Vinci Frauenköpfe
Die positiven Ansätze für diese Wandlungen werden hier und dort bereits sichtbar. Das lehrt etwa ein Blick in die jungen Ehen der Zwanzig- bis Vierzigjährigen, in die schon infolge der Berufstätigkeit der Frauen an die Stelle der reinlichen Arbeitsteilung eine Gemeinsamkeit der Aufgaben einzieht, die wechselweise von beiden Partnern übernommen werden, ein Teilhaben am Sorgen für Kinder und Haushalt, ein ganz selbstverständliches Miteinander von Mann und Frau, das sich bereits beim Neugeborenen bewährt, das jetzt nicht mehr ausschließlich in die Sphäre der Frau gehört. Hier wird längst Väterlichkeit als natürliche menschliche Qualität gelebt, als dem Mann zugehöriger Wesenszug, als für die Entwicklung seiner Kinder unverzichtbare Notwendigkeit, die ihm genauso hingebungsvoll und zärtlich vertraut ist wie der Mutter.
›Mütterlichkeit‹ – entgegen landläufiger Auffassung nicht unbedingt an leibliche Mutterschaft gebunden noch ›automatisch‹ mit ihr gegeben – ist nicht mehr eine der Frau allein vorbehaltene Spezialität: Sie eignet als Väterlichkeit ebenso dem Mann und kann von ihm entwickelt werden und, mit Zartheit und Güte geübt, sein Wesen mitprägen. Mann und Frau schicken sich heute an, aus der Einseitigkeit ihrer Spezialisierungen zurückzukehren zur Ganzheit ihres Menschentums. Der Mann beginnt zur bloßen Verstandesausrichtung auch das Gefühl in sich zu entdecken, zu bejahen, sich zu ihm zu bekennen und es in sich zuzulassen.
Die Frau ist dem Mann auf diesem Wege ein gutes Stück vorausgegangen. Sie hat sich von der Spezialistin für Halbierungen des Menschlichen schon weit entfernt und aus eigener Kraft, aus eigener Wesensfindung sich der Ganzheit weit angenähert.
Gewinnung neuer Dimensionen des Menschseins
Drei Besorgnisse freilich streiten heute noch gegen eine Entwicklung zur menschlichen Ganzheit: Der Mann verlöre seine Männlichkeit, heißt es, Mann und Frau würden zu neutralen, farblosen Wesen, und schließlich: Liebe und Ehe müßten unter der erlahmenden Spannung veröden. Diese Besorgnisse können nicht ernst genug genommen werden, denn sie blockieren unnötigerweise eine unaufhaltsame Entwicklung, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgehen. Nicht das Fallen von einer Einseitigkeit in eine neue: nicht eine sogenannte ›Verweiblichung unter Verlust der Männlichkeit‹ sind zu erwarten – vielmehr ein vollmenschliches Mannestum, das jene angeblichen männlich-weiblichen Gegensätze (die gar nichts mit Geschlechtseigenschaften zu tun haben, wie sich beweisen läßt) von Verstand und Gefühl, Sachlichkeit und Beseeltheit, Bewährung in einem Leistungsleben und Väterlichkeit, Güte, Innigkeit in sich integriert, beide zur Geltung kommen läßt und zur Synthese verschmilzt.
Anstelle der prophezeiten Verarmung der Geschlechter besteht im Gegenteil eine bisher unbekannte Bereicherung. Beide, Mann und Frau, gewinnen weitere Dimensionen des Menschseins hinzu, die ihrem Wesen mehr Gehalt, mehr Tiefe und Weite geben, sie differenzierter, reicher, vollständiger machen und ihrem Leben und Zusammenleben neue Qualitäten und Möglichkeiten freisetzen, auch die, in ihrer Liebe und Ehe, in der früher die Liebenden sich zu oft an den Widerhaken der unversöhnlichen Wesenswidersprüche wundgerieben hatten, sich in tieferer Übereinstimmung und Innigkeit zu erfüllen.
Entsprechend dem physikalischen Modell der Anziehung und Abstoßung ungleich- bzw. gleichnamiger Magnetpole gilt nach verbreiteter Meinung die ›Spannung‹ als unerläßliche Bedingung der Liebe und die Devise: ›Gegensätze ziehen sich an‹. Ovid hat diese Beziehung zwischen den Liebenden im mittelmeerischen Stile aufs reizendste als bezaubernde Kunst mit allen Schlichen und Finessen gelehrt, die der Magie des ständig neuen Reizes zum Schüren der Flamme bedarf, damit die Liebe im Zunahe des Alltags und in der Gewohnheit der Ehe nicht erkalte. Was für die Völker und die Menschen dieses Stiles selbstverständlich ist und bei uns das Ansehen einer Regel genoß, ist für uns längst keine Garantie mehr für eine glückliche Liebesbeziehung in harmonischer Ehe. Noch gilt es überhaupt für den Nord- und Mitteleuropäer, der gerade im gegenseitigen Verstehen, und das bedeutet: in Gleichklang und Gleichrichtung des Wesens, der Lebensauffassungen, Neigungen und Interessen die tragfähige Grundlage von Liebe und Ehe erblickt. Diesen Unterschied zweier Wesen der Liebe meint Antoine de Saint-Exupéry, den die Erfahrung ganz im germanischen Sinn „gelehrt hatte, daß die Liebe nicht darin besteht, daß man einander ansieht, sondern daß man gemeinsam in die gleiche Richtung blickt“.
Wenn hier ›Gleiches sich zu Gleichem gesellt‹, so schließt dies ja keinesfalls die erotische Anziehungskraft aus, sie wirkt sich nur auf gänzlich andere Weise – ausgehend vom Seelischen – aus, kaum wie für den Südländer aus den Sinnen, die sich im Spannungsfeld erhitzen, oft auch ohne die Seele zu erreichen. Noch verurteilt es die Partner zur Langeweile – im Gegenteil: Mann und Frau, nicht mehr menschliche Hälften, sondern ganze Menschen, haben durch besseres Verstehen, wechselseitige Anregung und die Möglichkeit, einander zu raten, zu helfen, füreinander einzutreten und einzustehen, bessere Schlüssel für eine reichere Gemeinschaft und tiefere Bindung, für die Erziehung ihrer Kinder und die Bewältigung ihres Lebensweges in den Händen. Und dies ist in Deutschland schon millionenfach gelebte, bewährte, als natürlich empfundene Wirklichkeit.
Der Sinn des Geschehens seit dem Aufbruch der Frau aus dem ›Puppenheim‹ vor hundert Jahren wird viel zu kurzsichtig gesehen, wenn man ihn allein in ihrer Selbstbefreiung, Emanzipation und in ihrer ›Gleichberechtigung‹ mit dem Mann erblickt. Dies war und bleibt immer noch notwendig – ist aber geschichtlich gesehen nicht das Entscheidende. Es gibt keine Wandlung eines Geschlechts ohne die des anderen. Auch der Mann ist, ob er mag oder nicht, in die Entwicklung hineingerissen, in eine Entwicklung, die – ohne im mindesten an zeitgebundene Formen, Werte, Ideale oder Gesinnungen einer endgültig vergangenen Frühzeit anzuknüpfen, geschweige im bewußten oder beabsichtigten Rückgriff auf jene Vergangenheit – nichts anderes bedeutet als die Verwirklichung seines ureigensten Wesensgesetzes. In einen Wandel, der keineswegs eine als Schreckgespenst an die Wand gemalte ›Verweiblichung‹ herbeiführt, ›keine Niveauminderung‹ – sondern im Gegenteil Steigerung und Wesensfülle, nicht ›Nivellierung der Geschlechter‹, geschweige denn ›Neutralisierung‹ – sondern im Gegenteil Entfaltung ungenutzter Anlagen und Kräfte, Ausformung neuer Möglichkeiten der Selbstfindung durch Preisgabe der verkrüppelnden Einseitigkeiten, Überspitzungen und neurosenerzeugenden Verdrängungen durch Zulassung des verweigerten Selbstes zur Vollständigkeit.
›Die große Erneuerung der Welt‹ (Rilke)
Dies bedeutet aber, aufs Ganze gesehen, einen Evolutionssprung des Menschen insgesamt,dessen Zeugen und Betroffene wir heute sind. Er wurde von der Frau ins Werk gesetzt und wird heute schon sinnfällig ihr zuteil. Können wir es noch übersehen, daß seit jenen kindlichen, frühverkümmerten Frauen, die unsere Urgroßmütter waren, innerhalb von nur vier Generationen Unerhörtes geschehen ist? Zu ihrer intellektuellen Entfaltung, geistigen Beweglichkeit und schöpferischen Vitalität hat die Frau in dieser Zeit eine natürliche Vollendung und Schönheit des Körpers hinzugewonnen, dazu ein unbefangen wie ein Parfüm getragenes, erotisches Fluidum, ja sogar mehrere Jahrzehnte an Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit. Der Mann wird es mit der vollen Entfaltung und Anwendung der in dem einzelnen liegenden Möglichkeiten unvergleichlich viel leichter haben, seine der ihren entsprechende Wesensform zu finden – sofern er bereit ist, den Gang der Entwicklung zu fördern statt zu hemmen. Was sollen wir tun? Zunächst müssen wir uns in bezug auf Mann und Frau endgültig freimachen von einem dualistischen Denken in einander ausschließenden und wertverschiedenen Gegensätzen zugunsten eines Ganzheitsdenkens, wie es sich in anderen Denkbereichen längst durchgesetzt hat. Zweitens gilt es, die fixierten, als Maßband selbst auf andere Rassen und Kulturen angewendeten Begriffe von ›männlich‹ und ›weiblich‹, die sich als falsch besetzt erwiesen haben, endgültig aus dem Verkehr zu ziehen und nicht weiterhin ›weibliche Komponenten im Mann‹ und ›männliche Wesensmerkmale, Eigenschaften, Züge‹ an der Frau als absolute Größen ins Feld zu führen, bevor wir den wahren Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht erfaßt haben. Drittens muß sich der Mann entschließen, wie sein Urahn vor tausend Jahren, die Frau nicht schlechthin durch die Brille des Geschlechts zu sehen und als ein für ihn und in bezug auf ihn existierendes Wesen zu definieren, sondern sie als Menschen weiblichen Geschlechts von eigener Daseinsbestimmung und Würde anzunehmen.
Rainer Maria Rilke Sigrid Hunke
Was der weiße Mann heute keinem Andersfarbigen verweigert – ihn als Menschen anzuerkennen und privat, beruflich, finanziell mit denselben Maßen zu messen wie sich selbst –, das darf er, in seinem eigenen Interesse, auch der Frau nicht mehr verweigern. Seherisch hat Rilke diese Notwendigkeit schon 1904 vorausgefühlt: „Dieses in Schmerzen und Erniedrigungen ausgetragene Menschentum der Frau“, schrieb er, „wird dann, wenn sie die Konventionen der Nur-Weiblichkeit in den Verwandlungen ihres äußeren Standes abgestreift haben wird, zutage treten, und die Männer, die es heute noch nicht kommen fühlen, werden davon überrascht und geschlagen werden. Eines Tages… wird die Frau da sein, deren Name nicht mehr einen Gegensatz zum Männlichen bedeuten wird, sondern etwas für sich, etwas, wobei man keine Ergänzung und Grenze denkt – der weibliche Mensch. Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter, als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern sich zusammentun werden als Menschen… in jenem wundervollen Nebeneinanderwohnen, das die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen.“◊
Dieser Artikel ist in ›Elemente der Metapolitik für die europäische Neugeburt‹ von Juni/September 1987 erschienen.
https://ahnenrad.org/2021/06/04/elemente-der-metapolitik-ausgabe-3-pdf/