Thierry Meyssan

Entgegen den Kommentaren der westlichen Presse hat Jewgeni Prigoschin nie einen Putschversuch gegen Wladimir Putin unternommen. Er wollte ihn vielmehr dazu bringen, seine exorbitanten Privilegien, die er seit der Gründung seiner privaten Militärfirma angehäuft hat, zu behalten. Dann gab er der Vernunft nach und kehrte in sein Amt zurück.

 

Kann Jewgeni Prigoschins Versuch eines „Staatsstreichs“ den Waffenstillstand in der Ukraine umkehren? Das war der Wunsch der NATO, die auf diesen Aufstand hoffte und ihre Schläfer in Rußland weckte. Das Vereinigte Königreich und die USA wollten die Teilung des Landes, die sie 1991 nicht zu Ende bringen konnten, endlich vollziehen [1].

Die Gründung privater Militärfirmen (PMCs), zu denen auch die Wagner-Gruppe gehört, war eine von Präsident Wladimir Putin bestätigte Idee, um neue  Befehlsformen zu testen, bevor er sie auswählt und die besten von ihnen in seiner Armee umsetzt werden. Innerhalb weniger Jahre haben diese Unternehmen tatsächlich viele verschiedene Methoden getestet undoft ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt.

Nun war der Zeitpunkt gekommen, die Umstrukturierung der russischen Armee abzuschließen, indem man diese Gruppen auflöste und ihre Streitkräfte in die reguläre Armee integrierte [2]. Präsident Putin hatte eine Frist gesetzt: den 1. Juli. Im vergangenen Monat schickte das Verteidigungsministerium daher Vertragsentwürfe an verschiedene private Militärfirmen, um deren Eingliederung durchzuführen. Die Wagner-Gruppe weigerte sich jedoch, darauf zu antworten, und Jewgeni Prigoschin verschärfte seine Beleidigungen gegen den Minister und den Generalstabschef.

Man muß sich klarmachen, was hier vor sich geht: Die Gründung privater Militärfirmen durch Rußland ist das Äquivalent zu dem, was die USA unter Verteidigungsminister Donald Rumsfeld taten, als sie neben dem ›Pentagon‹ vermehrt auf PMCs zurückgriffen. Anfangs funktionierte das, aber diese Firmen arbeiteten auch für die CIA, und die Vermischung der beiden Bereiche führte zu einer Reihe von Katastrophen. Wenn sie nur für das Pentagon arbeiteten, äußerten sich ihre Führungskräfte öffentlich, wie Erik Prince von ›Blackwater‹. Doch nie bezogen sie Stellung gegen den Verteidigungsminister oder den Vorsitzenden des Komitees der Stabschefs.

Übrigens sind weder die US-amerikanischen Soldaten von ›Blackwater‹ noch die russischen Soldaten von ›Wagner‹ Söldner. Sie kämpfen für ihr Land und werden dafür bezahlt, unverhältnismäßige Risiken einzugehen, die man von regulären Soldaten nicht verlangen kann. Im Gegensatz dazu kämpfen Söldner unter dem Kommando einer fremden Macht für Geld.

Die Tatsache, daß der Leiter einer privaten Militärfirma zwei Monate lang hetzerische Videos gegen die Befehlshaber der regulären Armeen veröffentlicht, und das auch noch mitten in einer Militäroperation, würde in keinem Staat toleriert werden. Im Fall von Jewgeni Prigoschin in Rußland war dies jedoch der Fall. Die Korrespondenten, die wir in diesen zwei Monaten befragten, waren alle der Ansicht, daß der Kreml ihn brüllen ließ, um die Aufmerksamkeit des Westens zu erregen und die Reorganisation der regulären Armeen vor ihnen zu verbergen. Einige begannen die Augen zu verdrehen, als im März eine Kandidatur Prigoschins für das Amt des ukrainischen Präsidenten ins Gespräch gebracht wurde: Hatte der Gauner seinen Verstand verloren?

Die westlichen Geheimdienste konzentrierten sich seit Beginn der Militäroperationen in der Ukraine auf Jewgeni Prigoschin. Am 18. März enthüllten sie tausend Dokumente über seine Aktivitäten [3]. Es ging ihnen darum, das von ihm aufgebaute Firmennetz aufzudecken, um dem Vorwurf Glaubwürdigkeit zu verleihen, Rußland sei keine antikoloniale Macht, , da Wagner Afrika plündere. Letztendlich zeigen diese Dokumente jedoch, daß Prigoschin ein Gauner ist, nicht aber, daß er die Länder, mit denen er zusammenarbeitet, ausraubt.

Er beteiligte sich an der Jagd nach Korruption innerhalb der russischen Armee, was ihn nicht daran hinderte, die Korruption außerhalb der Armee auszubauen. Es ist möglich, daß der Westen aufgrund dieser Ermittlungen einen Weg gefunden hat, ihn zu manipulieren; der Mann ist gleichzeitig ein Patriot, aber auch ein erwiesener Gauner, der in der Sowjetunion verurteilt wurde. Wir wissen es nicht und werden es auch nicht wissen können, bis der Fall abgeschlossen ist.

Immerhin hat sich Jewgeni Prigoschin auf ein Unternehmen eingelassen, das den Oligarchen der Jelzin-Ära würdig ist. Er versichert, dass der Verteidigungsminister, der aus Tuwa (Sibirien/Mongolei) stammende Sergej Schoigu, nach Rostow am Don gereist sei, um die Bombardierung von Wagners Truppen zu überwachen. Er wirft ihm vor, Tausende seiner Männer ermordet zu haben. Schließlich verließ er die Front, um nach Rostow am Don zu kommen, um das Hauptquartier der regulären Armeen in Besitz zu nehmen. Er kündigte an, dass er mit seinen 25000 Mann auf Moskau marschieren werde, um mit dem Verteidigungsminister und dem Generalstabschef abzurechnen.

In seinem neuesten Video erklärte er: „Wir waren bereit, dem Verteidigungsministerium Zugeständnisse zu machen, unsere Waffen abzugeben und eine Lösung zu finden, wie wir das Land weiterhin verteidigen würden (…) Heute haben sie Raketenangriffe auf unsere Lager gestartet. Viele Soldaten sind gestorben. Wir werden entscheiden, wie wir auf diese Gräueltat reagieren. Die nächste Runde ist unsere. Diese Kreatur [der Verteidigungsminister] wird verhaftet werden“.

Wagner verfügt zwar über 25 000 Mann, aber nicht nur an der ukrainischen Front. Viele sind in Asien und Afrika stationiert. Außerdem verfügt er zwar über Flugzeuge, doch seine Luftwaffe ist im Vergleich zu der der regulären Armeen unzureichend, seine Kolonne wäre bombardiert worden, ohne dass er sie hätte schützen können.

Innerhalb eines Tages haben alle Behörden der Russischen Föderation ihre Treue zum Kreml erneuert. Präsident Wladimir Putin trat im Fernsehen auf. Er erinnerte an den Präzedenzfall von 1917, als Lenin das zaristische Russland aus dem Ersten Weltkrieg zurückzog, als es kurz vor dem Sieg stand. Er rief jeden dazu auf, Verantwortung zu übernehmen und dem Vaterland statt einem persönlichen Abenteuer zu dienen.

Während dieser Rede lobte Wladimir Putin die Tapferkeit von Wagners Soldaten, von denen viele für das Vaterland gestorben waren. Er machte sie daher nicht für die Situation verantwortlich, sondern forderte sie auf, ihrem Anführer nicht gegen den Staat und damit gegen das Volk zu folgen.

Zum Ende seiner kurzen Ansprache an die Nation schloss Präsident Wladimir Putin: „Wir werden das retten, was uns lieb und heilig ist. Wir werden alle Prüfungen bestehen, wir werden noch stärker werden“.

Diese Rede wurde im russischen Fernsehen in einer Endlosschleife ausgestrahlt und dramatisierte die Situation.

Der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation leitete eine Untersuchung gegen Prigoschin wegen „Organisation eines bewaffneten Aufstandes“ ein.

Die ukrainischen Behörden riefen in sozialen Netzwerken die weißrussische Opposition dazu auf, die russische Unordnung zu nutzen, sich zu erheben und Präsident Alexander Lukaschenko zu beseitigen [4].

Der russische Geheimdienst, der alle Protagonisten beobachtete und sich von Anfang an im Hintergrund hielt, ließ die Verräter, die sich in Weißrußland und Rußland selbst enttarnt hatten, auf frischer Tat verhaften.

Im Laufe des Tages erreichte der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko, mit dem sein russischer Amtskollege telefoniert hatte, Jewgeni Prigoschin und überzeugte ihn, seine Pläne aufzugeben und seine Truppen wieder an die Front zu bringen. Wladimir Putin gab sein Wort, das von dem Rebellen unterzeichnete Abkommen zu respektieren. Letzerer kündigte an, auf den Sturz von Schoigu und Gerasimow zu verzichten.

Ende der Geschichte

Erste Bemerkung: Es gab nie einen Versuch eines „Staatsstreichs“. Wagner war nicht in der Lage, Moskau einzunehmen, und Prigoschin hat Präsident Putin nie verbal angegriffen. Dieser hat übrigens so etwas nie angeprangert, sondern „einen Dolchstoß in den Rücken“ der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine.

Zweite Bemerkung: Es handelt sich auch nicht um eine „Meuterei“. Wagner untersteht nicht dem Verteidigungsminister, sondern direkt dem Präsidialamt. Prigoschin rebellierte gegen dieses und nur gegen dieses. Seine einzige Forderung war, unabhängig von den regulären Armeen zu bleiben. Während er bereit war, seine militärischen Aktivitäten aufzugeben, hielt er an den damit verbundenen Geschäften fest, die er auf allen Einsatzgebieten, auf denen er präsent ist, aufgebaut hat. Der Mann ist, wie wir bereits gesagt haben, sowohl ein Patriot als auch ein Gauner.

Dritte Bemerkung: In den Worten von Präsident Putin handelt es sich um eine „bewaffnete Rebellion“ und eine „Vernachlässigung des Postens“. Wagner verließ die Front, aber die Ukrainer wagten es nicht oder waren nicht in der Lage, den von ihm verlassenen Teil der Front anzugreifen. Nun gibt es für Russen nichts Verabscheuungswürdigeres als Verteidiger, die ihre Stellung verlassen. Deshalb hatte Prigoschin am Vortag ein Video veröffentlicht, in dem er versicherte, daß Kiew den Donbass in den vergangenen acht Jahren nicht bombardiert habe, und damit schamlos den Beobachtungen der OSZE und des UN-Sicherheitsrats widersprach. Zu seinem Pech können es die Russen genauso wenig ertragen, wenn man ihren guten Glauben in Frage stellt.

An dieser Stelle ist eine weitere Bemerkung angebracht: Während er sich gegen Präsident Putin auflehnte, tötete Prigoschin niemanden. Seine Truppen marschierten in Rostow am Don ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die regulären russischen Streitkräfte griffen den Sitz von Wagner in St. Petersburg nicht an. Prigoschins Männer marschierten nicht auf Moskau. Das Verteidigungsministerium feuerte offenbar keine Raketen auf die Soldaten von Wagner ab. Der Generalstaatsanwalt schloß den Fall der Rebellion ab. Die Wagner-Milizen, die nicht an der Rebellion teilgenommen hatten, wurden sofort in die reguläre Armee integriert. Drei Einheiten kehrten an die Front zurück. Das Schicksal der Milizionäre, die an der Rebellion teilgenommen hatten, wird von Fall zu Fall behandelt.

Alles in allem wurde der Staat nicht geschwächt. Die beiden Gewinner sind die Russische Föderation und Weißrußland. Es bleibt jedoch die Tatsache, daß in den Köpfen der Russen die ganze Angelegenheit größtenteils eine Inszenierung war: Man wurde Zeuge einer bedrohlichen Rebellion, die sich sofort wieder auflöste. Das Einzige, was davon übrig blieb, war die Infragestellung der Qualität der militärischen Führung; ein hartnäckiger Gedanke trotz des Glaubens der Bevölkerung an den Opfergeist ihrer Soldaten.

Nach dieser seltsamen Episode trat Präsident Putin erneut im Fernsehen auf. Er lobte die Wagner-Kämpfer erneut und rief sie dazu auf, sich den regulären Armeen, dem Geheimdienst oder anderen Sicherheitskräften anzuschließen. Er stellte sie auch vor die Wahl, nach Hause zurückzukehren oder sich Prigoschin in Weißrußland anzuschließen.

In den russischen sozialen Netzwerken kursieren die unterschiedlichsten Hypothesen. Die überraschendste besagt, daß Wagner ohne die Hilfe des Verteidigungsministeriums, das ihn mit Treibstoff versorgte, nicht rebellieren und auf die Hauptstadt marschieren konnte.

In den nächsten Wochen dürfte die letzte Phase der Umgestaltung der russischen Armee beginnen. Es ist keineswegs sicher, daß sich diejenigen, die sich in der Vergangenheit gegenüberstanden, als Gegner erweisen werden.

Anmerkungen

[1Die westliche Strategie zur Demontage der Russischen Föderation“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen : Werner Leuthäusser, Voltaire Netzwerk, 17. August 2022.

[2Die Reorganisation der russischen Armeen“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 3. Juni 2023.

[3Sie sind hier durchsuchbar.

[4Wer will Präsident Lukaschenko stürzen?“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 1. September 2020.

Quelle: https://www.voltairenet.org/article219541.html

 

Alle Imperien sind sterblich, auch das “amerikanische Imperium”

 

 

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