Graf Hermann Keyserling

aus dem

›Reisetagebuch eines Philosophen‹

 

 

Keine Weltanschauung der Welt vertritt mit gleichem Radikalismus wie die indische die Überzeugung, daß im Bereiche des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft. Was einer tut, sei an sich völlig gleichgültig; es komme darauf an, in welchem Geist er es tut. – So ist es. Man verfolge diese Ansicht noch so weit, bis zu ihren verstiegensten Konsequenzen hinan: überall wird man ihr Prinzip bestätigt finden.

Wie viele Europäer hat die These der Bhagavat-Gîta befremdet, daß von dem, welcher das Selbst realisiert hat, alle Handlungen abfallen, so daß es kein Gut und kein Böse für ihn mehr gibt! Und doch spricht sie durchaus wahr, wie aus zeitgemäßerer Fassung des gleichen Gedankens sofort erhellt: wer immer nur tut, was seinem tiefsten Wesen gemäß ist, tut notwendig recht, welchen Eindruck immer sein Handeln auf andere machen mag.

Man könnte ja meinen – wie in der Tat alle Philister wähnen –, das Handeln des Gottmenschen müßte immer und allen als gut erscheinen, aber das ist nicht richtig, nicht möglich. Es könnte so sein, wenn alle gleich tief verinnerlicht wären wie er; aber da diese Voraussetzung nicht zutrifft, so dünkt sie sein Handeln häufig tadelnswert, wie die üblichen Verfolgungen der geistlich Großen zur Genüge beweisen.

Man nehme die banalste Unterscheidung, die zwischen Ego- und Altruismus. Im allgemeinen gilt als gut, auf die Gefühle und Wünsche anderer Rücksicht zu nehmen; wer das nicht tue, sei tadelnswert. Aber kein wahrhaft tiefer Mensch kann Altruist in diesem Sinne sein, da er bei anderen nicht mehr als bei sich selbst in der Neigung ein genügendes Motiv erblickt; er tut den Menschen das an, was deren Weiterkommen am meisten fördert, und nur zu häufig kommt dieses unerwünscht; er macht sie öfter unglücklich als glücklich, tritt ihre Wünsche häufiger mit Füßen, als daß er sie erfüllt. Da er keinen Egoismus mehr hat, so kennt er notwendig auch keinen Altruismus mehr. 

Ein anderer Fall, der die Wahrheit der indischen Lehre gut illustriert, ist der des großen Staatsmanns. Einem solchen wird, nachträglich wenigstens, allgemein zugestanden, daß er jenseits von Gut und Böse steht, aber weshalb? Weil, wie alle dunkel ahnen, die Bedeutung seiner noch so blutigen Handlungen mit diesen nicht zusammenfällt.

Wer im Strudel der Welt, vermittelst der Welt, ein Ideal verfolgt, kann nicht so rein durchs Leben schreiten wie der Anachoret; er wird, je nach der Zeit, in der er lebt, mehr oder weniger Unheil anrichten müssen, weil er, so oder anders, mit den bösen Mächten als äußeren Tatsachen zu arbeiten hat. Aber was er da Böses tut, geht sein tiefstes Selbst nichts an; es tangiert ihn nur im Sinn der Erbsünde, des Rassenkarmas (wie denn jeder für die Gebrechen seiner Zeit mitverantwortet, am Verschulden aller mitschuldig ist); blutbefleckt, mag er doch wesentlich rein sein.

Über den wesentlichen Charakter eines Menschen entscheidet der Geist, in dem er lebt. Wer daran noch zweifeln sollte, der bedenke, daß es sich beim Täter und beim Heiligen um eben das Verhältnis zwischen Tatsache und Bedeutung handelt, wie bei dem, welcher, pflichtmäßig tötet. Keiner brandmarkt den Richter, der ein Todesurteil fällt, als Mörder, noch den Soldaten, der in der Schlacht noch soviel Feinde niederschoß.

Das Pflichtmäßige wertet den Sachverhalt um. Das gleiche gilt überall vom Geist, in dem etwas geschieht: er entscheidet letzthin über den Tatbestand. Dies haben die Inder mit unerreichter Klarheit erkannt.
(…)
Die Inder haben gewußt, daß keine Erkenntnis das Handeln dem Dharma gemäß beeinträchtigen darf; dieses ist zumal die Grundidee der ›Bhagavat-Gîta‹. Dort lehrt ›Sri Krishna‹ den ›Arjuna‹, daß er kämpfen soll, was immer er weiß und erkennt, denn zum Kämpfen sei er geboren.

Krishna und Arjuna

Die gleiche Grundidee durchdringt die ganze Lehre vom Nichtattachement: töte den Ehrgeiz in dir, aber handele so, als ob du vom äußersten Ehrgeize beseelt wärest; ersticke allen Egoismus, aber lebe dein Sonderleben so tatkräftig wie nur irgendein Egoist; liebe gleichmäßig alle Kreatur, aber versäume darum nie, das Nächstliegende zunächst zu tun.

Gewußt haben die Inder eben alles. Aber Wissen und Leben sind zweierlei, und nirgends erweist sich dies eindrucksvoller als bei ihnen. Wir wissen von keinem Inder, der als lebendiger Mensch diese Weisheit im großen verwirklicht hätte; und es gibt wahrscheinlich weniger Hindus, die es im kleinen tun, als unter Türken und unter Chinesen. Das ist der Fluch jenes Primates des Psychischen, das, wie nichts anderes, den indischen Bewußtseinszustand charakterisiert. Die Inder haben von je den Akzent des Daseins auf das psychische Erleben gelegt, also das Realisieren des Lebens in der Sphäre des Psychischen.

Dank dem sind sie als Erkenner und als Schauer des Göttlichen wunderbar weit gelangt; aber eben dank dem sind sie nie auch nur ein Bruchteil dessen gewesen, als lebendige, handelnde Menschen, was ihre Theorie postuliert. Und das ist nur natürlich. Wenn der Geist sich in der Vorstellungswelt zentriert, so entstehen Erkenntnisse als selbständige Wesenheiten, ohne Zusammenhang mit dem persönlichen Leben; dieses bleibt, trotz aller Erkenntnis, wo es war.

Es bedarf einer anderen Einstellung, um einen großen Menschen zu machen. So illustrieren die Hindus mit vorbildlicher Deutlichkeit die Vorteile sowohl als die Nachteile eines rein auf Erkennen gerichteten Daseins. Es führt zur Erkenntnis wie kein anderes; es führt ferner die geborenen Weisen und Heiligen zu einer Vollendung, wie sie unter anderen Voraussetzungen unerreichbar scheint; aber dem Leben der übrigen Menschen tut es nicht gut.

Neuerdings weisen des Englischen mächtige Hindus, aufgestachelt durch ihnen mißfällige Urteile Europas, immer wieder darauf hin, daß die indischen Lehren dem praktischen Leben wohl gerecht werden und mitnichten Quietismus predigen. Gewiß tun sie das nicht; sie sind als Lehren die wahrsten und tiefsten, die umfassendsten und erschöpfendsten, die es gibt. Aber sie haben auf das indische Leben nie eingewirkt.

Dem Durchschnittsmenschen tut es nicht gut, so viel zu wissen; hört Alexander einmal, daß er vor Gott nur ein Blümlein ist, so dankt er nur allzu bereitwillig als Alexander ab. Er entscheidet für sich, daß kein bestimmtes Dasein Zweck habe, tut bestenfalls das Nächstliegende, füllt schlecht und recht die Stellung aus, in die er hineingeboren ward. Er verleugnet allzufrüh allen Ehrgeiz.

Wohl lehren die heiligen Schriften, zum höchsten Leben sei nur der Höchste reif; die übrigen hätten zu kämpfen, zu streiten, tätig zu leben, ehrgeizig zu sein, denn nur das bringe sie innerlich vorwärts. Aber welcher nicht Höchstgebildete bescheidet sich dabei, nicht zum Höchsten geboren zu sein? Wo einmal ein Zustand als höchster proklamiert ward, dort sucht ihn jeder auf seine Art darzustellen.

Im Osten gilt Ehrgeiz allgemein als unwürdig: das ist ein Unglück. Wohl bezeichnet es das Höchste, wenn ein Gewaltiger ohne Ehrgeiz ist, aber der Kleine, der keinen Ehrgeiz hat, kommt nicht vorwärts. Den Hindus, gleich Christus, gilt Sanftmut als höchste Tugend: dies ist ein Unglück.

Nur wer die Leidenschaft eines ›Peters des Großen‹ besitzt, darf sich zum Ideal der Sanftmut bekennen; die Schwachen – und schwach sind die Hindus – macht es noch schwächer. Allverstehen gilt als Höchstes: von Unverständigen bekannt, hemmt dieses Ideal wie kein anderes die Entwicklung, denn es macht sie zu energielosen Skeptikern.

So hat gerade die einzigartige Tiefe ihrer Erkenntnis den Indern als Volk zum Verderben gereicht. Sie hat sie schlaff und schwach gemacht. Das ist höchst bedeutsam. Es ist wieder ein Beispiel, das Indien der ganzen Menschheit gibt. Es zeigt, wie wenig gut es tut, wenn alle als Philosophen nach Vollendung streben. Dieser Weg ist nur den ganz wenigen gemäß, die diesem Wesenstypus angehören; alle anderen führt er ins Verderben.

So bedeutet denn die indische Theorie, nach welcher der Rishi, der Yogi, ja der Sanyassi von allen Menschen der höchste sei, ein anderes, als es den Anschein hat. Sie bedeutet nicht, daß diese Typen von allen tatsächlich die höchsten seien, nicht daß alle in deren Rahmen ihre äußerste Selbstverwirklichung finden würden: sie bedeutet, daß unter indischen Voraussetzungen nur geborene Philosophen und Heilige vollkommen werden können. Während die übrigen Menschen verkümmern.

Dies denn wäre die wahre Ursache dessen, daß die Weltanschauung der Inder nicht mit Unrecht als quietistisch gilt: nicht die Lehre als solche erkennt dem Nichthandeln gegenüber dem Handeln, der Apathie gegenüber der Energie den Vorrang zu, sondern dies ist der Sinn, in dem sie eingewirkt hat auf das Leben.

 Als Erkenner haben sich die Hindus, wie sonst kein Volk, über die Zufälle der Empirie hinausgehoben; aber das praktische Leben ist dem Hochflug des Geistes nicht nachgefolgt; es hat ihn durch desto ausgesprochenere Spezifität als Ausdruck jener Hybris entlarvt, welche die Götter niemals ungestraft lassen.

Alles Erkennen ist Perzeption

Rayküll – Heimkehr

 

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