Constantin von Hoffmeister
Oswald Spenglers akribische Untersuchung von Kulturen ist von fast pathologischer Natur. Er öffnet den Leichnam einer Kultur und seziert ihn mit einer solchen Präzision, dass er immer die Todesursache findet, die tief in den komplexen Eingeweiden verborgen liegt. Der übliche Schuldige ist der Verfall mit der damit einhergehenden Trägheit und Stagnation, die allen Organismen gemein ist, die die Blüte ihrer Jahre und damit ihre Lebenszeit überschritten haben.
Im Gegensatz zu dem, was viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen glauben, ist Spengler kein Prophet des Unheils. Er beschreibt den Aufstieg und Fall von Kulturen, als ob es sich um lebende und atmende Wesen handeln würde, die geboren werden, altern und schließlich sterben. Die Ursache des Todes ist fast immer dieselbe – die Kultur wird träge und desinteressiert. Sie kann nur noch Leidenschaften für die niedrigsten Dinge im Leben wecken: Sex, Gewalt und das genüßliche Zuschauen bei inszenierten Veranstaltungen oder choreografierten Aufführungen. So wird die Kultur primitiv und eintönig. Sie verwandelt sich in eine Zivilisation (alias eine „Gesellschaft des Spektakels“), die mechanisch überholte Traditionen wiederholt, die jeglicher Lebendigkeit und jeglicher innovativer Tendenz entbehrt.
Stellen wir uns Spengler in der Unterwelt vor: Charon steht starr vor ihm, ein Ruder aufrecht in der linken Hand und die rechte Hand ausgestreckt, darauf wartend, dass Spengler das geforderte Fahrgeld hineinlegt. Aber leider! Spengler hat kein Geld, weil niemand daran gedacht hat, seinem toten Körper eine Münze in den Mund zu stecken. Nun ist er gezwungen, hundert Jahre lang ziellos am Ufer des Acheron entlangzulaufen, und endlos über Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr nachzudenken, während die Schatten links und rechts von ihm ständig an den Hemdsärmeln zerren und ihn anflehen, sie daran zu erinnern, warum sie sich nach dem Tod jeder ihrer Inkarnationen ohne Geld am Ufer des Acheron wiederfinden. Spengler antwortet geduldig:
Das liegt daran, daß ihr in einer Zivilisation gestorben seid, nicht in einer Kultur. In einer Kultur sind die Menschen spirituell und gläubig, also legen die Angehörigen dem toten Verwandten eine Münze in den Mund. In einer Zivilisation sind die Menschen rational und ungläubig, also sehen die Angehörigen keinen Sinn darin, dem toten Angehörigen eine Münze in den Mund zu legen.
Wenn eine Zivilisation wirklich tot ist, wird aus ihrer Asche eine neue Kultur entstehen. Die Natur verabscheut ein Vakuum, und gemäß der Newtonschen Physik geht Energie nie verloren, sondern bleibt immer konstant. Spengler bestätigt damit den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten, an den die Hindus seit Jahrtausenden glauben. So wie die Seele eines Lebewesens von einem physischen Gefäß zum nächsten wandert, können die Überreste einer Zivilisation in die neue Kultur transportiert und inkorporiert werden – wie der griechische Zeus, der sich in den römischen Jupiter verwandelt.