Karl Gotthelf Jakob Weinhold
Auszug aus dem Buch
›Altnordisches Leben‹
Der Autor Karl Gotthelf Jakob Weinhold (* 26. Oktober 1823 in Reichenbach (Eulengebirge), Niederschlesien; † 15. August 1901 in Berlin) war ein deutscher Philologe. Als Germanist und Mediävist widmete er den historischen Grundlagen und der Entwicklung der deutschen Sprache, insbesondere der mittelhochdeutschen Grammatik. Weinhold gilt als Vertreter der Romantischen Anthropologie.
Er beschreibt im vorliegenden Band das altnordische Leben, wie die Viehzucht, Fischfang, Ackerbau, Obstbau, Bienenzucht, Gewerbe und Handel, Schifffahrt, Nahrung, Kleidung, Wohnung, Waffen, die Erziehung, Spiele, die Heilkunst, Gebräuche und vieles andere mehr. Die altnordischen Zustände sind für die Erkenntnisse der deutschen Vergangenheit von großer Bedeutung.Nachdruck der Originalauflage von 1856.
(…) Die Ehe gründet das Haus, aber erst die Kinder erhalten es; unfruchtbare Ehen sind auf volkswirtschaftlichem Standpunkte nur halbe Ehen. Auch im alten Norden gab es solche, aber ihre Zahl war wie überall gering. Den Durchschnitt der altnordischen Fruchtbarkeit kann ich nicht angeben, aber Beispiele großen Ehesegens von Island anführen.
Thorstein Egilsson hatte außer zwei unehelichen Söhnen mit seiner Frau Jofrid zehn Knaben; Thord und Oddny hatten fünf Söhne und drei Töchter; Brynjolf zeugte mit seiner ersten Frau zehn Kinder und mit der zweiten drei; Hrut Herjolfson hat mit zwei Frauen sechzehn Buben und zehn Mädchen; als er in seinem Alter auf dem Sommerding erschien, stunden vierzehn kräftige Söhne um ihn und priesen ihn darob. Höfdathord Biarnarson zeugte mit Thorgerd neunzehn Kinder, elf Söhne und acht Töchter. Das sind Beweise genug für die Fruchtbarkeit der altnordischen Ehen, und nur so erklärt sich, daß Island in kurzer Zeit stark bevölkert war; die Einwanderung allein hätte das nicht bewirkt. Wie es scheint, wurden mehr Knaben als Mädchen geboren.
Wir wenden nunmehr den Kindern unsere Aufmerksamkeit zu und begleiten sie von der Geburt, bis sie zum Menschen aufgewachsen sind.
Das Kind wurde von dem Vater oder dessen Vertreter mit Wasser benetzt und mit einem Namen belegt. Es ward hierauf der Mutter zurückgebracht, die es in ein Tuch hüllte und in die Wiege (vagga) neben sich legte.
Die erste Nahrung gab ihm die Mutterbrust; aber sehr lange scheinen die Kinder sie nicht genossen zu haben. Man findet wenig Spuren davon, und auf Island war es wenigstens in den letzten Jahrhunderten Sitte, die Kinder bald zu entwöhnen. Man gab dafür Tiermilch und flößte sie dem Kinde aus dem spitzen Endes eines Hornes ein. Statt der Milch ward auch wassergemischte Molke gegeben; in Hungersnöten mußten sich die isländischen Kinder mit lauem Wasser begnügen, in das ein paar Tropfen Milch gegossen waren oder mit einer Fischbrühe. Mehlsuppe wäre viel zu hoch gekommen.
Außer der Milch ist der Honig uralte erste Speise der Kinder gewesen. In den skandinavischen Landschaften, welche eigene Bienenzucht hatten, dürfen wir das süße schöne Erzeugnis der Bienen gewiß auf den Lippen der Säuglinge denken. Doch suchte man auch bald kräftige Sachen zur Stärkung zu geben; wir lesen wenigstens, daß ausgesetzten Kindern, die man retten wollte, eine Fleischschnitte in den Mund gelegt ward, an der sie saugten. Es wird wohl diese kräftige Art von Zulp und Stöppel überhaupt angewandt worden sein.
Die erste Mahlzeit der Wöchnerin hieß, nach dem auf den Færöern erhaltenen Ausdruck, Nornengrütze (nornagreytur). Wahrscheinlich opferte die Mutter hiervon den Schicksalsgöttinnen, die bei dem Eintritt eines Menschen in das Leben ihre weisende und bestimmende Macht entfalteten.
Wir erfahren, daß man die menschlichen Vertreterinnen der Nornen, die weisen Frauen oder Walen, einlud, zur Wiege zu kommen und des Kindes Lebensfäden zu spannen und richten. Sie taten es unter feienden Sprüchen und knüpften die Enden möglichst nach den guten Gegenden. Kerzen brannten während der heiligen Handlung. Sie ahmten nur das nach, was man den Nornen selbst zuschrieb.
Besonders bekannt war im Norden der Besuch dieser weisen Frauen bei der Geburt Gests, des Sohnes eines vornehmen Mannes in Groening geworden. Der reiche Vater hatte drei von ihnen zu sich geladen, des Söhnleins Nativität zu stellen. Der kleine Gest lag in der Wiege, über ihm brannten zwei Lichter. Alles Gute ward geweissagt: wie reich und angesehen der Knabe sein, wie er alle seine Vorfahren und seine Zeitgenossen überragen werde. Aber in diese guten Reden schrie die jüngste böse Norne hinein, die sich geringer geachtet meinte als die beiden andern und von den übermütigen Gästen verletzt war. Sie stieß alle die guten Reden und Heilräte um, indem sie dem Knaben schuf, daß er nicht länger lebe als die Kerze bei ihm brenne. Da nahm die ältere Wala das Licht, löschte es aus und hieß es die Mutter aufbewahren, die es dem Sohne gab, als er groß geworden und die Worte der guten Nornen an ihm sich erfüllten. Er hieß von jener Weissagung Nornagest. Da er nun nach der Sage dreihundert Jahre alt geworden, begehrte er zu sterben. Er nahm den Lichtstumpf aus dem Stock seiner Harfe, darin er ihn bewahrte und zündete ihn an. Wie die Kerze niedergebrannt war, hatte auch er sein Leben geendet.
Das Kind wuchs heran. Wenn es den ersten Zahn bekam, erhielt es von den Eltern oder den Namensgebern (später den Paten) ein Geschenk, das Zahngeld (tannfê), das nach Umständen und gutem Willen verschieden war: ein Ring, ein Messer ein Gürtel, ein Landgut, zuweilen ein unfreies Kind vom selben Alter, das mit seinem kleinen Besitzer aufgezogen ward und sein treuester Gefährte blieb. Bekanntlich erhält jetzt in Deutschland die Wärterin des Kindes ein Geschenk, wenn der erste Zahn durchbricht; und die Mutter läßt sich das erste ausgefallene Zähnchen in einen Ring fassen.
In der ersten Lebenszeit ward das Kind als besondres Eigentum der Mutter betrachtet. Teilten auf Island Eheleute ihre Kinder bei erschwerter Ernährung, so fiel der Frau unbedingt das zu, was unter einem Jahre ist oder noch an der Brust trinkt (briostdreckr er). Werden die Kinder älter, so kann eine neue Teilung erfolgen.
Häufig ward namentlich in reicheren Häusern das Kind zur Erziehung (fôstr) andern übergeben. Der Zeitpunkt war verschieden; zuweilen nahm der Freund oder Verwandte, welcher den Namen gab, den Säugling sofort mit sich; gewöhnlich geschah aber dies „austhun“ später.
Dieses Verhältnis verband die beiden Häuser sehr innig, und Freunde erwiesen sich gegenseitig diesen Dienst zur Stärkung alter und zur Befestigung gelockerter Verbindung. Auch das uralte Band zwischen Neffen und Oheim zeigt sich hier, denn die Kinder wurden gerade bei den mütterlichen Verwandten häufig untergebracht.
Allgemach faßte man übrigens das Anerbieten, die Erziehung zu übernehmen als das freiwillige Eingeständnis der Unterordnung; wer dem andern ein Kind aufzieht, ist der ärmere, war ein Sprichwort.
Ingigred, die Tochter Olafs von Schweden, war früher an König Olaf von Norwegen versprochen gewesen, hatte aber Jarisleif von Gardarîki heiraten müssen. Dieser Russe hatte ihr als Urkunde seiner ehelichen Zärtlichkeit eine Ohrfeige ausgehändigt; allein Ingigred wußte ihn zur Buße dahin zu nötigen, daß er den norwegischen König um die Gunst bat, dessen Sohn aufziehen zu dürfen. Es geschah, und Jarisleif verlor dadurch in seinem eigenen Volk an Achtung.
Olaf Pfau, ein reicher Isländer, war mit seinem Halbbruder Thorleik nicht im besten Einvernehmen, denn dieser war gegen ihn neidisch. Um dies zu ändern, erbot sich Olaf Thorleiks Sohn zu erziehen, „denn der heißt stets der geringere, welcher solches tut“.
Bei solchen Ansichten erklärt sich leicht, wie freie Landleute sich erbieten konnten, die Kinder ihrer Könige zu sich zu nehmen. So wuchs bei Hilding, einem Bonden in Sogn, Ingibiörg, die Königstochter, auf, und zugleich der junge Fridthiof, dies Paar, von dessen Liebe eine alte Saga schön erzählt, aus der Tegner ein Lieblingsgedicht der gebildeten Völker geformt hat.
Auch ohne daß sie sich erboten, schickten Fürsten den Dienstmannen und den freien Landsassen ihre Kinder zu. Selbst wenn sie wollten, konnten diese sich der gewünschten Pflicht nicht entziehen und mußten den Rat unbeachtet lassen, den König Höfund seinem Sohne Heidrek gab, daß er niemals die Kinder ihm an Stand und Reichtum Überlegener zu sich nehme.
Der Hauptgrund dieser Erziehung außerhalb des eigenen Hauses liegt in dem Wunsche der Eltern, dem Kinde eine strengere und bessere Zucht zuzuwenden, als sie selbst gegeben hätten; bei reicheren auch in dem Verlangen, es an einfachere Verhältnisse zu gewöhnen. Deshalb wurden auch arme und selbst unfreie Kinder mit reichen zusammen erzogen.
Das Geschenk eines Ziehsklaven (fôstrman), der zum Spiel- und Lerngenossen diente, hatte den Zweck, das reiche Kind in strenger und einfacher Art zu bilden; denn wir haben keinen Grund, zu glauben, daß der kleine Gefährte, wie in neuerer Zeit unter etwas andern Umständen geschah, der Sündenbock für den jungen Herren sein sollte.
Königs- und Sklavenkinder spielten miteinander auf der Diele der fürstlichen Halle; und von Königstöchtern wird erzählt, daß der Erzieher sie mit den Mädchen eines Knechtes aufwachsen ließ, die freilich dabei manches lernten, was ihnen sonst unbekannt geblieben wäre.
Zwischen dem Kleinen und seinem Ziehsklaven bildete sich meist für das ganze Leben ein trautes Verhältnis, das sich höchstens noch hier oder da abspielen mag in der Treue eines alten Dieners, der von Kind auf in dem Hause war und mit der Herrschaft Sonne und Regen teilte. Zur selben Zeit geboren, durch dasselbe Leben gegangen, ward der hörige Gefährte auch bei der letzten Fahrt nicht zurückgelassen; er starb mit dem Gebieter und genoß den Vorzug, mit ihm in denselben Ort des Jenseits einzugehen.
Von höherer sittlicher Bedeutung war freilich das Band zwischen zwei freien Ziehgeschwistern (fôstrsyskin). Gewöhnlich wurden ihrer zwei zusammen erzogen, von denen oft keiner dem Ziehvater angehörte; waren es Knaben, so schlossen sie einen förmlichen Ziehbrüderbund (bundu fôstbroedrlag), der für das ganze Leben galt. Sie ritzen ihre flache Hand, ließen das Blut in ein Grübchen im Boden zusammenrinnen und rührten es ineinander; dann reichten sie sich die Hand unter dem Gelöbnis der vollen Brüderschaft.
Am feierlichsten geschah dieser Schwur unter dem Rasenstreifen (iardarmen). Ein Streifen Rasen, zuweilen ihrer drei, wurden von dem Boden abgelöst, aber an den Enden nicht losgetrennt; darauf hub man sie empor und stützte sie mit zwei Geren, die so hoch waren, daß ein Mann mit der Hand bis an die Spießnägel reichte. Unter diesem Erdbande knieten die Blutsbrüder nieder und legten mit Anrufung der Götter als Zeugen den Eid ab, daß sie einander fortab wie geborne Brüder ansehen wollten.
Das Zusammenrühren ihres Blutes war das äußere Zeichen ihres Einswerdens im Blute; darum auch das Hauptziel des Bundes die Blutrache, die jeder dem andern gelobte, oder die Pflicht zur Klage gegen den Mörder, wenn auf die Rache verzichtet ward. Auch die Sorge für den Toten war inbegriffen: ein ehrliches Begräbnis also mit Aufwerfung des Hügels und der Beigabe von Geld und Gut.
Dieser enge Freundschaftsbund, von dem unsre Brüderschaft ein schwacher Nachschimmer ist, ging nach dem Worte von der wirklichen Ziehbrüderschaft aus, indem Pflegegeschwister ihr nahes Verhältnis in seiner sittlichen Bedeutung auf das ganze Leben ausdehnten. Das fôstbrœdralag banden aber dann alle, welche sich durch Liebe und Achtung aneinander gefesselt fühlten, oder die aus äußeren Rücksichten sich als eins darstellen wollten.
Oft entwickelte es sich aus Haß oder Kampf; tüchtige Männer, die ihren Mut und ihre Stärke im Gefecht erprobt, ruhten mit den Waffen und boten sich die Blutbrüderschaft an.
Ein Bund andrer Art wurde der Saga nach unter zwei wirklichen Brüdern geschlossen. Bödvar, Biörnssohn, hatte seinen Bruder Elgfrôdi, der vom Nabel ab ein Elch war, im Gebirge besucht, wo er als Räuber hauste. Beim Abschiede prüft der wilde Mann Bödvars Stärke und sagt: Du bist nicht so stark, Freund, als es sich gehörte. Er ritzte sich hierauf die Wade und hieß den Bruder daraus trinken, prüfte dann wieder seine Stärke, indem er an dem sich Stemmenden zog; und da Bödvar fest stand, war er zufrieden.
Der Text wurde von uns der derzeitigen Sprachregelung angepaßt. Als Beispiel der damaligen Schrift im Original der Buchausgabe: Er rizte sich hierauf die Wade und hiess den Bruder daraus trinken, prüfte dann wider seine Stärke indem er an dem sich stemmenden zog; und da Bödvar fest stund, war er zufrieden.
Er trat dann eine Stapfe in den Fels und sprach: Hieran will ich alltäglich dein Schicksal erkennen. Finde ich Blut darin, so weiß ich, daß du tot bist, und ich werde dich rächen, denn ich liebe dich von allen Menschen am meisten.
Nach Einführung des Kristentums ward gegen die Blutbrüderschaft geeifert; das Blutmischen erschien gar zu heidnisch und teuflisch, war doch unter den Heidengöttern selbst, zwischen Odin und Loki, dereinst ein solcher Bund gemacht worden. Überdies war die Blutrache, der eigentliche Zweck dieser Brüderschaft, dem kristlichen Geiste zuwider; und so gelang es allgemach, von der alten Sitte alles zu tilgen, bis auf den Eid der Freundschaft.
An die Stelle der Blutbrüderschaft trat nach der ganzen Entwicklung der Gesellschaft die Geldbrüderschaft (fêlagskap) oder Gütergemeinschaft, welche gute Freunde namentlich auf Kauf- und Raubfahrten schlossen; sie hatten einen Beutel „und es war die teuerste Freundschaft“. Der fêlagi (engl. Fellow) hat den Zieh- und Blutsbruder aus dem Leben gejagt. (…)