Christophe Clavé

 

Der durchschnittliche IQ der Weltbevölkerung, der von der Nachkriegszeit bis Ende der 1990er Jahre stets gestiegen war, ist in den letzten 20 Jahren gesunken. Dies ist die Umkehrung des Flynn-Effekts.

Es scheint, daß das durch Tests gemessene Intelligenzniveau in den am weitesten entwickelten Ländern abnimmt. Die Ursachen für dieses Phänomen können vielfältig sein. Eine davon könnte die Verarmung der Sprache sein.

Mehrere Studien zeigen, daß das lexikalische Wissen abnimmt und die Sprache verarmt: Nicht nur der Wortschatz wird reduziert, sondern auch die sprachlichen Feinheiten, die es ermöglichen, komplexe Gedanken zu entwickeln und zu formulieren.

Das allmähliche Verschwinden von Zeitformen (Konjunktiv, Imperfekt, zusammengesetzte Formen der Zukunft, vergangenes Partizip) führt zu einem Denken, das fast immer in der Gegenwart stattfindet und auf den Augenblick beschränkt ist: Es ist nicht in der Lage, in die Zukunft zu blicken.

Die Vereinfachung von Lernprogrammen, das Weglassen von Großbuchstaben und Satzzeichen sind Beispiele für “Todesstöße” gegen die Genauigkeit und Vielfalt des Ausdrucks.

Ein Beispiel: Die Streichung des (inzwischen veralteten) Wortes “signorina/senhorita/mademoiselle” bedeutet nicht nur, auf die Ästhetik eines Wortes zu verzichten, sondern fördert auch ungewollt die Vorstellung, daß es zwischen einem Mädchen und einer Frau keine Zwischenstufen gibt.

Weniger Wörter und weniger konjugierte Verben bedeuten weniger Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, und weniger Fähigkeit, Gedanken zu verarbeiten. Studien haben gezeigt, daß ein Teil der Gewalt im öffentlichen und privaten Bereich direkt aus der Unfähigkeit resultiert, Emotionen mit Worten zu beschreiben.

Ohne Worte, mit denen man ein Argument aufbauen kann, wird komplexes Denken unmöglich.

Je ärmer die Sprache ist, desto mehr verschwindet das Denken. Die Geschichte ist voll von Beispielen und viele Bücher (George Orwell – “1984”; Ray Bradbury – “Fahrenheit 451”) erzählen, wie alle totalitären Regime das Denken stets behindert haben, indem sie die Anzahl und Bedeutung von Wörtern reduziert haben.

Wenn es keine Gedanken gibt, gibt es freilich auch keine kritischen Gedanken. Und ohne Worte gibt es kein Denken. Wie kann man hypothetisch-deduktives Denken ohne das Konditional aufbauen? Wie kann man die Zukunft ohne eine Konjugation mit der Zukunft denken? Wie ist es möglich, Zeitlichkeit – eine Abfolge von Elementen in der Zeit, Vergangenheit oder Zukunft, und ihre relative Dauer – ohne eine Sprache zu erfassen, die zwischen dem unterscheidet, was hätte sein können, was war, was ist, was sein könnte und was sein wird, nachdem das, was hätte sein können, tatsächlich eingetreten ist?

Liebe Eltern und Lehrer: Lassen Sie uns dafür sorgen, daß unsere Kinder lesen und schreiben lernen. Lassen Sie uns die Sprache in ihren verschiedensten Formen lehren und praktizieren. Auch wenn sie kompliziert erscheint. Vor allem, wenn sie kompliziert ist. Denn in dieser Anstrengung liegt die Freiheit.

Diejenigen, die behaupten, daß die Rechtschreibung vereinfacht werden müsse, daß die Sprache von ihren “Fehlern” befreit werden müsse, daß Genera, Zeiten, Nuancen und alles, was Komplexität schafft, abgeschafft werden müsse, sind die wahren Architekten der Verarmung des menschlichen Geistes.

Es gibt keine Freiheit ohne Notwendigkeit.

Es gibt keine Schönheit ohne den Gedanken an die Schönheit.

Christophe Clavé

 

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/01/24/le-declin-de-l-intelligence-et-l-appauvrissement-du-langage.html
Originalquelle: https://jornalpurosangue.net/2023/01/21/o-ocaso-da-inteligencia-e-o-empobrecimento-da-linguagem/

 

 

 

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