Der französische Soziologe, Historiker und Publizist Emmanuel Todd hat sich in einem Interview des Schweizer Wochenmagazins „Weltwoche“ mit einer Zwischenbilanz des aktuellen Ost-West-Konflikts zu Wort gemeldet. Ausführlich äußert er sich dabei auch zur Situation Deutschlands, dessen Souveränität gegenüber den USA so gut wie komplett verschwunden sei.

Foto: Bénédicte Roscot

Nach einer Gesamteinschätzung befragt, stellt Todd zunächst fest, daß sich die USA in vielerlei Hinsicht auf dem absteigenden Ast befänden, während Rußland besser dastehe, als es die westliche Medienberichterstattung vermuten lasse.

Todd: „Die USA zogen sich aus Afghanistan und dem Irak zurück. Den Aufstieg Irans konnten sie nicht stoppen. Genauso wenig wie jenen Chinas. Die Saudis nehmen die USA nicht mehr ernst. In Amerika steigt die Sterblichkeit, die Lebenserwartung sinkt. Alle Zeitungen schreiben: Der Westen ist normal und Putin geisteskrank. Die Russen sind blutrünstige Monster. Die Demografie sagt etwas anderes: Rußland ist stabiler und seine Gesellschaft zivilisierter geworden.“

In einer besonders bedauernswerten Lage befänden sich im aktuellen Konflikt die Europäer – sie seien faktisch wehrlos und darüber hinaus ohne Orientierung: „Das geopolitische Denken ist ihnen abhandengekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung.“

Dies betreffe nicht zuletzt die Deutschen, die derzeit aus der Illusion erwachen müßten, sie würden von den USA beschützt. In Wirklichkeit seien sie das Hauptopfer der US-Geopolitik. Washington habe Berlin nicht verziehen, auf preiswertes russisches Gas zur Versorgung seiner Industrie gesetzt zu haben und eine Annäherung an Rußland anzustreben: „Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. Daß sie das Gasabkommen torpedieren wollten, hatten die USA stets deutlich gesagt. Der Ausbau der NATO in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Rußland gerichtet, sondern gegen Deutschland. Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner. Ich empfinde sehr viel Mitgefühl für Deutschland. Es leidet an diesem Trauma des Verrats durch den beschützenden Freund – der 1945 auch ein Befreier war.“

Im übrigen wüßten die Deutschen „nur zu genau, daß Nord Stream von den Amerikanern zerstört wurde. Durch eine gemeinsame militärische Aktion der Amerikaner, Briten und Polen. Gegen Deutschland. Aber sie können es nicht sagen.“

Vor diesem Hintergrund wertet Todd, der den USA bereits 2002 einen vielbeachteten „Nachruf“ widmete, die deutsche China-Politik unter Kanzler Scholz als eine der letzten Domänen einer selbständigen deutschen Politik: „Scholz reiste nach Peking. Deutschland verweigert den Amerikanern die Abnabelung von China.“

Europa als Ganzes gerate im Augenblick verstärkt unter amerikanische Kontrolle und leide zudem unter seinen verheerenden demographischen Kennziffern. Aber auch Rußland stehe, obschon es die westlichen „Werte“ ablehne, demographisch nicht besser da. „In der Ukraine führen sie gegeneinander Krieg. Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren“, warnt Tod zum Abschluß.

Der französische Publizist und Wissenschaftler absolvierte das Institut d’études politiques de Paris und promovierte in Cambridge in Geschichte. Von 1977 bis 1984 war er Literaturkritiker für die französische Zeitung „Le Monde“. Seither arbeitet er am Institut national d’études démographiques. 1976 prognostizierte er in seinem Buch „La chute finale“ das Ende der Sowjetunion. (rk)

Beitragsquelle: https://zuerst.de/2023/01/13/historiker-emmanuel-todd-ueber-die-deutschen-verrat-durch-den-beschuetzenden-freund/
Beitrags-Bildquelle: Flickr/U.S. Army Photo by Lacey Justinger, 7th Army Training Command/CC BY 2.0