Dr. Pierre Krebs

Gedächtnisprotokoll im Rahmen der Hausdurchsuchung vom 2. November 2022

 

L’homme se découvre quand il se mesure avec l’obstacle.

Nur im Kampfe findet der Mensch zu sich selber.
A. de Saint-Exupéry

I.

Das Geschehen, objektiv dargestellt

Nachfolgend versuche ich, so exakt wie möglich die Geschehnisse zu schildern. Bevor ich dies tue, möchte ich erwähnen, daß Herr A., der Einsatzleiter, sich durchgehend tadellos, respektvoll und im Austausch anständig und sogar freundlich verhalten hat.

Am Dienstag, dem 2. November, fand abermals bei mir in Bad Emstal eine Hausdurchsuchung mit fünf Polizisten statt (von 9:00 bis ca. 15:00 Uhr, zeitgleich in Bad Wildungen und in Horn). Es wurden mitgenommen: zwei Macbook pro, 1 Smartphone, 5 externe Festplatten, ca. sieben USB-Sticks, die wir nach der Erfahrung vom 16. Mai 20171 besonders gut und sicher verwahrt zu haben meinten. Ebenso wurde ein Karton mit 23 Exemplaren der Publikation Was tun? beschlagnahmt. Diese Exemplare waren für Kundschaft in Frankreich reserviert und daher explizit seit der Indizierung außer Sicht verwahrt. Außerdem wurden Archivexemplare aus meiner Privatbibliothek entwendet.

Auf Empfehlung von Herr A. haben wir die Passwörter zu unseren Computern mitgeteilt, damit eine Spiegelung durchführbar ist, so daß die Rückgabe der Geräte, selbstverständlich ohne Schäden, wie es uns versichert wurde, und zeitnah geschehen könne.2

Eine Hausdurchsuchung hängt natürlich, sowohl für die Vollstrecker als auch für die Betroffenen vielfach mit Taktgefühl und psychologischen Parametern zusammen. Es gilt, jede Eskalation zu vermeiden. Und dies gelingt nur, vorausgesetzt, die Beteiligten halten sich an klare Regeln. Wir haben das getan. Seitens der Polizei, wie oben schon erwähnt, hat sich der Leiter tadellos verhalten und der Rest seine Mannschaft genauso, außer einem3, der größere von zwei Maskierten. Dieser Vollstrecker hat von Anfang ein unverhältnismäßiges Benehmen an den Tag gelegt: eine Mischung von Schikaniererei und Provokationen, die ich zwar ignoriert, aber stillschweigend sehr wohl registriert habe. Hat er die rudimentären Regeln aus dem psychologischen Kursus, inhärent in seiner Ausbildung, verpaßt oder vergessen?

Dazu drei signifikante Beispiele, deren Inszenierung in drei mini-Akten man sich auf der Bühne eines burlesken Theaters vorstellen könnte:

Akt 1
Der verdächtigen Spritze…

Wir befanden uns – der Einsatzleiter, der größere Maskierte und ich – im Schlafzimmer meines Sohnes, wo sich u. a. ein alter österreichischer Sekretär, ein Erbstück aus dem XIX. Jahrhundert, befindet. Der Maskierte öffnete eifrig alle kleinen Schubladen auf der Suche nach irgendwelchen gefährlichen oder verdächtigen Gegenständen, die es – wie frustrierend! – nicht gab.

Oder doch? In einer der Schubladen neben Schreibutensilien aller Art, entdeckte unser Schnüffelexperte einen kleinen Spritzenkolben. Er drehte sich in meine Richtung und fragte mich suggestiv, in Drogenfahndermanier, wofür ich ›sowas‹ bräuchte.

Obwohl ich genau wußte, worauf er hinauswollte, bewahrte ich die Haltung und erklärte ihm ausführlich meine große Liebhaberei für Füllfederhalter und Tinten aller Farben und aller Düfte, die ich mir seit Jahren bei der renommierten Manufaktur Atramentis besorge, besonders Tinten mit Lavendelduft, der mich beim Schreiben an meine geliebte Provence erinnert. Der Haken dabei ist, daß es die Tinten meistens – außer bei der Firma Montblanc und leider sehr selten –, nur im Glasfäßchen gibt und nicht als Patronen, wie ich sie für einige meiner Federhalter benötige. Das Problem des Auffüllens von leeren Patronen bezwinge ich deshalb siegreich mit der Hilfe dieses Spritzenkolbens.
Der Einsatzleiter war amüsierter Zeuge der Szene, hingegen schien der Auffinder dieser Fundsache sichtlich enttäuscht…

Akt 2
…folgen unmittelbar die seltsamen weißen Tabs

Das Thema Drogen blieb aktuell, nur die Substanz hatte sich nun von Tinte aufs Zückerli verlagert… als der nämliche Spritzen-Aufstöberer wieder auftauchte, diesmal mit einem verdächtigen Döschen, das er in einer Jackentasche aufgespürt hatte und jetzt seinem Chef wie eine Trophäe präsentierte. Mit dem dafür modulierten Ton eines Kriminalbeamten in unerläßlicher Ausübung seines auf Beute ausgerichteten Schnüffel-Auftrags, fragte er wiederholt seinen Chef: Was ist denn das? Ich lenkte seine Frage auf mich und erklärte ihm jetzt, daß es sich um Stevia handele, mit dem ich meinen Kaffee versüße, wovon er offenbar noch nie gehört hatte. Der Einsatzleiter gab, leicht genervt, dem bis dato erfolglosen Schnüffler zu verstehen: Ja, Stevia, ein Süßungsmittel! Und wieder so ein Pech…

Akt 3
Trivialer Liebesbriefe-Voyeurismus vs unvermutete Berufung zu Höherem?4

Als ich einmal in meine Küche ging, ertappte ich unseren Mini-Sherlock diesmal in die Lektüre eines Ordners meiner Privatkorrespondenz versunken…zudem eine ganz delikate!

Es gab in der Küche zwei Ordner: einen im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Publikation in unserem Verlag (eine Studie über den Stand der indoeuropäischen Forschung von dem angesehenen Sprachwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber der Indogermanistik in Frankreich, Prof. Dr. Jean Haudry). Dieser Ordner schien den polyvalenten Schnüffler nicht so besonders interessiert zu haben, umso mehr der zweite Ordner, der eine andere, sehr persönliche Thematik behandelt, nämlich eine Sammlung von Liebesbriefen, Gedichten, Postkarten, längeren und kürzeren Mitteilungen etc. verschiedener ehemaliger Verehrerinnen aus den 1980-er Jahren.

Ich frage: Was hat überhaupt eine private Korrespondenz von vor annähernd vierzig Jahren mit einer Publikation zu tun, die 2016 erschienen ist?…wenn nicht eine Interpretation, die sich daraus zwingend ergibt, nämlich die ganz klare voyeuristische Ambition, die die dienstlichen Pflichten dieses Schnüfflers weitgehend überlagert hat.

Diese ›Ausweitung seiner Dienstpflichten‹ ließ sich an den zahlreichen Schriftstücken erkennen, die er beispielsweise aus einem dick gefüllten Briefumschlag entnommen hatte und die jetzt, rund um den Ordner, auf dem Tisch veteilt lagen. Der Briefumschlag war zusätzlich mit Liebesgrüßen, die die Absenderin hinzugefügt hatte und außerdem mit einem liebevoll selbst gezeichneten Motiv verziert, was es jegliches Mißverständnis über Inhalt oder Thematik des Briefes rigoros ausschloß. Nun, gerade dieseti betonten Hinweise auf die erethischen Inhalte haben wohl das voyeuristische Interesse befeuert.

Ich war ziemlich verblüfft, hatte aber keine Zeit, über die fragwürdigen Sonderqualifikationen, mit denen ein BRD-Hauptschnüffler ausgestattet ist oder sein muß, nachzudenken, sondern forderte den Herrn mit offensichtlich voyeuristischen Ambitionen5 auf, seine unverkennbar geweckte Neugier auf der Stelle zu beenden. Weit gefehlt! Entweder war seine Versenkung zu tief oder seine Ratlosigkeit zu mächtig, KriKoYeur hob für einen Augenblick den Kopf in meine Richtung, senkte ihn aber noch schneller, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Kerl ignorierte, wie erstarrt, meine Forderung, blieb sprachlos, las und blätterte dennoch ungeniert weiter.

Ich verließ dann den Raum und überlegte kurz, ob ich den Einsatzleiter darüber informieren sollte, der kraft seiner Autorität diese voyeuristische Tätigkeit hätte stoppen, aber ihn dadurch womöglich vor der gesamten Mannschaft bloßstellen können. Ich verwarf also schnell diesen Gedanken, weil ich mich beinahe in der Rolle eines Denunzianten fühlte.

Diese Vorfälle sprachen aber, jeder für sich, eine klare Sprache, die mir zur Genüge den sonderbaren Charakter dieses Beamten offenbarte. Fürwahr, kein gutes Renommee für die Polizei!

Verdächtige Spritze… seltsame Tabs …und trivialer Liebesbrief-Voyeurismus

Die Suche nach unserer Arbeitsausrüstung war beinahe erfolglos beendet, als der Einsatzleiter die telefonische Anweisung von oberer Stelle erhielt, daß ein Spezialkommando mit zwei Spürhunden – ein Schäfer- und ein belgischrassiger Hund –, beide auf das Erschnüffeln von elektronischem Material wie Laptops, Festplatten, Sticks etc. abgerichtet – was wir nicht wußten und nicht ahnten –, von weither, annähernd drei Autofahrtstunden entfernt, sich schon im Anmarsch befände.

Die Hunde hatten Erfolg. Sie wurden die eigentlichen Sieger. Wir, einmal mehr die Beraubten, exakter formuliert, die Verfolgten einer Gesinnungs›justiz‹, die nichts anderes ist als der verlängerte Arm eines DemokraTURischen Systems im Bann einer völkermörderischen, naturwidrigen, menschenfeindlichen Wahnideologie, – der des Globalismus aller Couleurs –, die mit allen undenkbaren Mitteln der Gewalt und der Willkür panisch versucht, diejenigen, die lediglich, wie wir selbst, mit einem gewaltlosen Argumentarium, ob geistig, philosophisch, wissenschaftlich oder spirituell, teils aus der Urwurzel der europäischen Kultur6, teils aus den modernsten Errungenschaften der Humanwissenschaften7 stammend, fern allen Parteien des Systems, eine rein metapolitische und akademische Gegenwehr durchführen, auszuschalten. Eine Gegenwehr in Form einer völlig neuen Alternative – kulturell, politisch, gesellschaftlich und, fußend auf den geistigen Werten und mentalen Eigenschaften Europas, zivilisatorischer Natur. Denn es sollte mittlerweile bei immer mehr Europäern angekommen sein, daß die Verwirklichung des anvisierten identitätslosen Magma einer genetisch durchkreuzten Bevölkerung und politisch unipolaren gesichtslosen Gesellschaft nicht nur die elementaren Werte und das kulturelle Gerüst Europas ein für allemal vernichten, sondern auch den irreversiblen Bruch mit jahrtausendealten zivilisatorischen Errungenschaften europäischer Prägung bedeuten. Nicht umsonst fordern wir als unerläßlich eine Charta der Völkerrechte als Garant für den unverzichtbaren Erhalt und den Schutz der lebens- und zukunftsstiftenden Weltpolyphonie aller Völker und Ethnien samt ihren jeweiligen Kulturgütern, Geschichte, Kunst, Spiritualität, einen verfassungsverankerten Schutzwall also der naturgewollten und naturgegebenen planetarischen Verschiedenheiten der Völker, wissend, daß die wahre Toleranz erst mit der Anerkennung der Andersartigkeit beginnt. Diese Charta planetarischen Maßstabs demaskiert außerdem den globalistischen Transmenschismus, der mittels Panmixie das oben anvisierte Weltkonglomerat atomisierter, gleichförmiger, seelenloser, austauschbarer und leicht manipulierbarer ›Zombies‹ anstrebt, also moderne Sklaven auf dem neuen Weltmarkt des Homo Œconomicus, dessen Verwirklichung im Gange ist.8

Kurz vor dem endgültigen Abschluß des Einsatzes, als das Durchstöbern nicht aufhörte, obwohl die Spürhunde unsere Laptops usw. schon gefunden hatten, kam es in einer meiner Bibliotheken – unter der Zeugenschaft still-beredter, bahnbrechender Vertreter aller kulturellen Gattungen und Epochen – zu einem ziemlich ernsten Zwischenfall.

Akt 4
Rippen kennen keinen Spaß

Als ich bemerkte, daß die zwei Hundeführer in einer Ecke der Bibliothek dabei waren, auf dem Boden eine hölzerne Verblendung zu traktieren, kam ich in Sorge, daß sie möglicherweise meine davor befindliche elektrische Einrichtung beschädigen könnten. Ich trat hinzu, um das Geschehen zu beobachten. Es war der Augenblick, als KriKoYeur mir provokativ befahl, zurückzuweichen. Ich sah überhaupt nicht den geringsten Grund dafür, ich störte niemand, war stiller Beobachter und sonst nichts. Daraufhin sagte ich mit entschiedenem Ton, daß ich mich in meinem Haus befände, also auf meinem eigenen Territorium und mir das Recht nähme, auf dem Posten zu bleiben, wo ich war.

Wir hatten alle zusammen fast sechs Stunden ohne Zwischenfall verbracht, und ich hatte mich mehrmals mit dem – wie schon erwähnt – interessierten Leiter des Einsatzes ausgetauscht. Und nun wieder diese eindeutige Provokation von demjenigen, der es offenbar nötig hatte, sein klein bißchen Macht zu demonstrieren. Statt mindestens an dem Platz zu bleiben, wo er war, näherte sich der ambitionierte Experte meiner Liebesbriefekorrespondenz abermals und noch provokanter als zuvor, so daß ich mich genötigt fühlte, mit donnernder Stimme, für alle hörbar, mehrmals zu warnen: »Berühren Sie mich nicht!«.

Statt die Situation zu entschärfen, wagte er es jetzt, mich anzufassen und gleichzeitig schubste er mich derart, daß ich mich reflexartig wehrte, denn – gelobt seien die Ahnen in mir – ich gehöre keineswegs zu der Gattung der Schaf-Menschen. Die Würde und die Ehre gehören als Merkmal zu meiner Biographie und sind offenbar genetisch in mir tief verankert. Ich bin nicht umsonst der Sprößling einer Familie, sowohl von meiner gallischen als auch österreichischen Abstammung her, deren Ahnen einen hohen Kodex der Ehre, des Stolzes, der Gerechtigkeit und des Anstandes gepflegt und von Generation zu Generation weitergegeben haben. Niemals in meinem Leben habe ich auch nur ein einziges Mal Gewalt gegen jemanden verübt, aufgrund der Tatsache, daß ich kein Mensch der geballten Fäuste bin, sondern des Geistes und der Feder.

Bevor ich KriKoYeur, jetzt mutiert zum Angreifer, abwehren konnte, wurde ich von dem kleineren Maskierten von hinten, versteht sich, brutal zu Boden geworfen. Ich hatte es, während ich zu Fall gebracht wurde, noch geschafft – um meine Brille zu retten –, meinen Kopf so zu drehen, daß ich nicht mit dem Gesicht frontal auf den Boden knallte. (Nur ein Brillenbügel war verzogen, und der wurde am nächsten Tag wieder repariert.) Kaum auf dem Boden liegend, stürzten sich die beiden Vollstrecker auf mich. Einer preßte meinen Rücken linksseitig mit dem Knie, um mich zu fixieren – es war, glaube ich, KriKoYeur – während beide gleichzeitig versuchten, mich zu fesseln und in Handschellen zu legen (eine erstmalige Erfahrung für mich!). Es ergab sich jedoch noch die Gelegenheit, den Schubser vernehmlich mit einem trivialen Ausdruck zu titulieren.

Nach dem Sturz empfand ich zwar einen Schmerz im Brustbereich links, aber … nicht der Rede wert! Ich saß noch einen Moment mit Handschellen auf einem Sessel, wurde dann befreit. Nach diesem unerhörten Geschehnis fragte mich der Einsatzleiter fürsorglich, ob ich verletzt sei oder Schmerzen hätte. Ich antwortete spontan mit Nein. Erst später im Laufe der Nacht, als ich von Schmerzen geplagt wurde, war mir klar, daß ich mir womöglich eine Rippenprellung durch den Sturz zugezogen haben könnte. Deshalb entschied ich mich, am nächsten Tag einen Arzt aufzusuchen. Der Tast- und Röntgenbefund ergab eine »Fraktur der 7. Rippe links mit einer starken Druckdolenz über der 5. bis 8. Rippe dorsolateral links«.9

Ein ganz kleines, aber vielsagendes pointiertes Detail sei noch erwähnt, weil charakteristisch für das in manchen Menschen schlummernde kleine Scheusal. Nach der Abfahrt der Vollstrecker entdeckte ich verblüfft, daß eine unsichtbare Hand das Namensetikett, das auf dem Türhammer der schweren Eingangstür klebte, zur Hälfte abgerissen hatte… Ein Rest von sich rächendem Infantilismus? Bei kleinen Geistern sollte man aber Großzügigkeit walten lassen…

Abschließend sei noch kurz gesagt, nach Nietzsches Überzeugung: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker!

pk, im November 2022.

 

 

II
Die Ereignisse, subjektiv empfunden

Car j’ai vu trop souvent la pitié s’égarer.
Mais nous qui gouvernons les hommes,
nous avons appris à sonder leurs cœurs
afin de n’accorder notre sollicitude
qu’à l’objet digne d’égards.

Allzuoft habe ich gesehen,wie das Mitleid irregeht.
Doch wir, die die Menschen leiten,
haben ihr Herz zu ergründen gelernt,
damit sich unsere Fürsorge einem Gegenstande zuwende,
der der Beachtung würdig ist.

Antoine de Saint-Exupéry

Exkurs für Optimisten

Warum?

Nach dem bekannten Spruch eines Unbekannten sollten Pessimisten lediglich diejenigen Optimisten sein, die aus Erfahrung dahin gelangen! Das ist wahrlich kein guter Leumund für den Optimismus. Andere behaupten, daß die Hoffnung (und Hoffnung badet in Optimismus) als letzte stirbt. Hoffnung ist also begrenzt, und wenn Hoffnung begrenzt ist, schadet dies wiederum dem Optimismus. Deshalb bevorzuge ich, einmal mehr, die geistige Schärfe und die stilistische Eleganz des Weisen aus Sils-Maria, der aus der Vermählung von Pessimismus und Optimismus eine positive Denkart entspringen läßt und so die Hoffnung nie preisgibt, das Höhere zu erblicken, sei es auch nur ein Funke und sei es tief in das Niedere vergraben; ja, er empfiehlt sogar, das »Chaos in sich zu haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«10. Nun, was aber bleibt übrig, wenn die Hoffnung, Trägerin des Optimismus, auch stirbt… Die Resignation? Nicht unbedingt. Was übrig bleibt, ist meiner Ansicht nach der Humor. Ich meine damit, daß der Humor, ja, der Humor allein, die Hoffnung überlebt.

Inwiefern?

Die Hoffnung ist die unbändige Kraft des Glaubens, die alles noch zusammenhält, kurz vor dem Ende. Aber die Hoffnung steckt tief inmitten des Daseins der Dinge. Nicht so der Humor. Der Humor ist die überwindende, die verwandelnde Kraft also, die die Wahrnehmung außerhalb des Daseins der Dinge befreit – was der Hoffnung fehlt – und ihr dadurch die unantastbare Objektivität der Souveränität verleiht. Die Hoffnung brennt, kann aber schnell zu Asche werden. Der Humor dagegen bleibt nüchtern und ist allein imstande, die verbleibenden Enttäuschungen zu verwinden. Ermuntert durch nietzscheanischen Optimismus und zugleich beruhigt durch die rettende Kraft des Humors, habe ich versucht, in einer Art ›Feedback‹, einen Schlußstrich der anderen Art unter das gesamte Geschehen der Hausdurchsuchung zu ziehen und somit den utopischen Hoffnungen explizit eine gute Portion Humor beigemischt…

A.
Charakter-›screenshots‹

Herrn B., den sympathischen Jüngsten, dessen Magen gegen 15 Uhr zu knurren begann, und den Leiter des Einsatzes, worüber ich schon mein Lob geäußert habe, nehme ich aus. Sie passen nicht richtig in diese Szenerie.

Frau K. ist mir als die perfekte Schnüfflerin erschienen. Sie stört nicht, sie spricht nicht, sie fragt nicht: sie schnüffelt, still und unbemerkt. Würde man ihr klarmachen, daß sie in Grand Guignol-BRD für einen neuen König Ubu11 ihr wertvolles Leben vergeudet, würde sie unerschütterlich bleiben… und weiter schnüffeln.

Porträt von König Ubu, Holzschnitt von Alfred Jarry (1896)

Der kleinere maskierte Polizist (es handelt sich um Herrn R. oder Herrn W.) ist auch ein perfekter Schnüffler, aber anders als Frau K., einzig durch seinen grenzenlosen Eifer. Furchtlos und heldenhaft nimmt er, wenn notwendig, alles in Kauf, ignoriert Platzangst und ist spontan bereit, auf Knien oder auf dem Bauch auf hartem Holzboden zwischen nicht ungefährlichen Mäusefallen zu krabbeln. Die Treibjagd, in diesem Fall nach Ordnern, wirkt offenbar bei ihm wie ein Imperativ, der ihn derart beflügelt, daß ihm mitunter die Wahrnehmung des Naheliegenden komplett verlorengeht. In diesem Fall war es die brandgefährliche Publikation, die 2016 erschien und auf deren Suche er sich befand… und als Fundstücke Ordner sicherte, auf deren Rückseite mit großen plakativen Buchstaben die ersten Jahrgänge des XXI. Jahrhunderts zu sehen waren… Dadurch erwiesen sich logischerweise die schwer ergatterten Trophäen, die unser Mann vom Dachboden über eine steile Treppe nach unten befördert hatte, als vollkommen unbrauchbar. Aber auch kleinste Details entgehen nur selten der hohen Wachsamkeit dieses Systemhüters, der durchaus in der Lage ist, nachzudenken und Zusammenhänge zwischen Fakten herzustellen. Aber nicht nur das: Neben solchen neuronalen Leistungen – und dafür zeugt meine siebte gebrochene Rippe –, ist der berufene Schnüffler zweifelsfrei fähig, von hinten versteht sich, mit brutaler Gewaltanwendung, ordentliche Ergebnisse zu erzielen… wird zweifellos vom König-Ubu-System belobigt und folgerichtig befördert.

B.
Sie haben Epistolograph12 gesagt?

Es war schon tief in der Nacht. Geplagt von heftigen Schmerzen, die der brutale Wurf auf den Boden mir zugefügt hatte, konnte ich keine Ruhe finden. Als die Beschwerden allmählich etwas nachließen, versuchte ich, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen.

Warum dieses giftige Bündel von gemeinen Provokationen, hinterlistigem Schikanieren, grotesker Versenkung in einen Ordner privater Korrespondenz eines vom ominösen Covid immer noch beängstigten, maskierten ›KriKoYeur‹?Warum hat ein Mensch es überhaupt nötig, sich zu solch einem dummen und anstößigen Verhalten hinreißen zu lassen? Was steckt tiefenpsychologisch dahinter? Ist es ein Mangel an Selbstbewußtsein, der Versuch, Minderwertigkeitskomplexe zu überspielen, schiere Boshaftigkeit, oder was noch?…

Ausgerechnet in diesem Augenblick des Nachsinnens vernahm ich aus dem nahe gelegenen Wald den fast elegischen Schrei von Minerva, meiner hochgeachteten Eule, der berühmten Göttin Athene geweiht. Ich fand keine Antwort und schlief allmählich ein, bis ich wenig später plötzlich erwachte, der Geist tief durchdrungen von bildhaften Impressionen vom Meer, Sonne und Dünen, alles vermischt und durchkreuzt von Gedankenfragmenten um die Leitmotive Optimismus, Pessimismus, Hoffnung, aber besonders von Wortfetzen einer weiblichen, sehr weit entfernten, zunächst unbekannten Stimme. Ich versuchte, mich zu sammeln und peu à peu fügten sich die verschiedensten Fragmente des Traums wie die Teile eines Puzzles zusammen, bis der Traum, o Wunder, fast vollständig rekonstruiert war.

Auf einmal klang die mysteriöse Stimme klar und deutlich, so deutlich, daß ich sie jetzt auf Anhieb erkannte. Es war die unvergeßliche Stimme einer außergewöhnlichen, feinsinnigen Person, talentierte Malerin mit einem Anflug von Hellsichtigkeit.

Die Stimme sagte:
»Müssen auf Dauer die unerfreulichen Erinnerungen von vorgestern in einem desolaten Hafen des Pessimismus vor Anker gehen? Ich glaube es nicht… Laß den Anker hieven, die Segel setzen und nimm Kurs auf eine Insel, einen Ort ungestörten Nachdenkens, nur noch vom Hin- und Herschwanken der Brandung unter den Rauschen des Ozeans und dem katzigen Schrei der Möwen skandiert …die salzige Luft der Gischt Deine Lungen spülend, Deinen Geist reinigend und Deine Gedanken peitschend. Schöpfe Klarheit aus dem Brunnen des Optimismus und folge dem erleuchtenden Pfad Deiner Eingebung… Sie wird Dir helfen zu erkennen, daß das wahre Sein eines Menschen sich nicht selten unter einem meist gräulichen Schleier verschanzt… Habe keine Furcht, ihn zu heben… sofern es einen geben sollte… und versuche dann, sein wahres Gesicht wahrzunehmen…«
Alsdann verstummte die seltsame Stimme.

Ich folgte unmittelbar dem weisen Rat und begab mich zunächst auf den Pfad einer aufklärenden Enträtselung meiner noch nicht gelösten Frage. Der Schleier begann Risse zu bekommen, und je mehr sie sich vermehrten, umso klarer zeichnete sich eine Hypothese ab, bis ich in der Lage war, die Prämissen zusammenzutragen… sie stimmten miteinander überein und das genügte mir vollkommen, denn es ging nie darum, das Rätsel um das Verhalten von KriKoYeur restlos zu knacken, sondern nur um die Enthüllung einer für mich stimmigen Deutung eines Verhaltens-Phänomens.

Daher stellte ich folgende Erwägungen an:
Könnte es sein, daß dieser scheinbare Hüter eines volksfeindlichen Systems, in Wahrheit angeödet von seinem Vollstreckerdasein und der mithin unehrenhaften Schnüffelei bei nicht endenden Hausdurchsuchungen, von Frust und Überdruß geplagt, kurz davor war, seinen lästigen ›Job‹ an den Nagel zu hängen? Befindet sich möglicherweise hinter der martialischen Schußweste eine sensible und verzweifelte Seele?
Rattert hinter der maskierten Visage vielleicht ein Geist, der insgeheim nur noch davon träumt, diesen Broterwerb endlich gegen eine höhere Berufung auszutauschen?

Die eifrige Lektüre der Briefe meiner ehemaligen Verehrerinnen sprang mir plötzlich ins Gedächtnis und verwandelte sich spontan zu einer erleuchtenden Aufklärung, die den finsteren Vorwurf des ›Liebes-Brief-Voyeurismus‹ binnen eines Sekundenbruchteils fallen ließ.

Umkehr… Ja! Umkehr sei angesagt! Denn könnte es nicht sein, daß hinter diesem so zu Unrecht herabgesetzten KriKoYeur möglicherweise… ein ganz anderer sich verschanzt hat… ein Hobby-Epistolograph oder einer auf dem Weg dahin… dessen Herz in Wirklichkeit hauptsächlich für die Studie des Liebeskorrespondenz illustrer Schriftsteller, wie Goethe, Rilke, Voltaire, Balzac, Dante oder Cervantes, schlägt und bebt…

Ich war verwirrt und fassunglos. Ich malte mir noch einmal die Situation aus. Ich glaubte, einen Liebesbriefvoyeur ertappt zu haben, aber in Wahrheit… wurde ich – ohne es zu ahnen – womöglich Zeuge von den ersten Gehversuchen auf dem Terrain der Epistolographie eines Hoffnungsträgers dieses literarisch-wissenschaftlichen Genres, das ein hohes Maß an Feinfühligkeit, Subtilität und Takt voraussetzt? Zeuge eines zukünftigen Epistolographen und vielleicht, wer weiß… ja, wer weiß… einer aus der Klasse eines Cicero oder eines Seneca, wenn nicht, zeitlich uns näher, eines Theodor Fontane, einer der größten unter den Deutschen…

Eine Möwe flog einige Meter vor mir her. Ihr langer Schrei durchbohrte die Stille. Sie setzte sich graziös auf das Meer und ließ sich von den Wellen schaukeln. Es war plötzlich so, als wäre alles rundum in einen unsichtbaren Schleier gehüllt. Ich spürte in mir ein immer tiefer gehendes Gefühl der Ruhe, der Ordnung und des Gleichgewichts. Alles stand an seinem Platz. Das Meer, die Möwe, die Dünen, die Sonne. Meine Gedanken auch. Ich ließ mich auf den warmen, sanften, hellen Sand fallen und schloß die Augen…

Diese unerwartete Enthüllung ist wahrlich viel zu spektakulär, viel zu wertvoll, ja, viel zu märchenhaft, um nur einen Sekundenbruchteil daran zu zweifeln. Es ist von nun an eine Gewißheit. Der Kasseler ist enttarnt als Epistolograph.

Es gibt Märchen… sie sind viel realer als die öde, vorgetäuschte Realität. Weil sie im Besitz eines höchsten Geheimnisses sind, einer höchsten Kraft, die allein fähig ist, die begrenzte Realität in einen unaufhörlichen Traum zu verwandeln.

Und so mutierte am 2. November des Jahres 2022 ein anonymer Kasseler Polizist, gekannt bis dahin, je nach Verwandlung, als ›KriKoYeur‹ oder ›Zorro, der Rippenbrecher‹, zu einem Epistolographen, der – bleiben wir davon fest überzeugt – tiefe Spuren in der Literaturgeschichte hinterlassen könnte. Diese Wissenschaft hat Zukunft, denn die epistolographischen Forschungen öffnen ständig neue Schneisen, die unerwartet, manchmal sogar heftig, das Bild oder das Verständnis, das man bis dahin von einem betreffenden Schriftsteller kultivierte, ganz anders darstellen können. Auf diese Weise gleicht auch die Rezeption literarischer Werke dem nie endenden Rauschen eines ebenso wilden Flusses, der von neuen Wirbeln, neuen Strömungen aufgewühlt, ununterbrochen sein Lauf wechselt und Kurs auf völlig andere Horizonte nimmt.

Wünschen wir dem Aspiranten-Epistolographen, inspiriert von Musen dieses Genres, großes Gelingen. So könnte vielleicht in ferner Zukunft eine Statue eines berühmten Sohnes der Stadt Kassel auf dem leeren Königsplatz in steter Erinnerung errichtet werden.

 

Noten:

1 Nach mehr als fünf Jahren warten wir immer noch auf die Rückgabe unserer Arbeitsgeräte – und was mich betrifft außerdem ca. 300 CDs streng privater Natur (Familienfotos) –, obwohl die Ermittlungen längst beendet sind, da ein erster Prozeßtermin, der 2018 stattfinden sollte, vom Fritzlarer Tribunal annulliert wurde, nach Beschwerde von der Staatsanwaltschaft Kassel jedoch gefolgt von einem zweiten, der im August 2022 stattfand und gegen dessen Urteilsspruch Revision beantragt wurde.

2 Siehe meine Mitteilungen an Herrn Osken vom 27.11.2022

3 Aus der Niederschrift der während der Durchsuchung beschlagnahmten Objekte kann es sich nur um Herrn R. oder Herrn W. handeln.

4 Siehe nachfolgend : z.B. Sie haben gesagt ›Epistolograph‹?

5 Ab hier mit dem Spitznamen ›KriKoYeur‹ tituliert = KriminalKommissarVoyeur.

6 Wie z. B. die authentische organische Demokratie volklicher Art und hellenischer Prägung

7 Die Entzifferung der DNA u.v.a.

8 Der Schriftsteller, Pilot und berühmte Autor des Kleinen Prinzen, erblickte schon – in den aus den USA auf uns kommenden, ersten gesellschaftlichen Anfängen einer kultur- und rassenvernichtenden Welt – die dämonische Ideologie des massifizierenden, identitätslöschenden Egalitarismus… daher die Konsumgesellschaft, daher der Kult des Materialismus und Merkantilismus, daher die Herrschaft der Wirtschaft über die Belange des Politischen. Saint-Exupéry legte Zeugnis dieser eschatologischen Vision ab in seinem erschütternden, in Tunesion 1943 verfaßten Brief an einen US-General ab: »Ich hasse meine Epoche aus ganzer Seele […]. Zwei Milliarden Menschen hören nur noch auf den Roboter, verstehen nur noch den Roboter, werden eines Tages selber zu Robotern […]. Doch ich hasse diese Epoche, in der der Mensch unter dem allgemeinen Druck zu sanftem, höflichem und ruhigem Vieh wird […]. Den Menschen, der seiner ganzen Schöpfungskraft beraubt wurde und der nicht einmal mehr in seinem Dorf einen Tanz oder ein Lied hervorzubringen vermag. Den Menschen, den man mit Konfektionskultur, mit Standardkultur versorgt, so wie man das Vieh mit Heu versorgt […]. Ich habe den Eindruck, daß wir den schwärzesten Zeiten der Weltgeschichte entgegengehen«. (Brief an einen General, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Bd. 3, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1959, S. 225ff.) Der weltbekannte Ethologe und Biologe Konrad Lorenz äußerte sich in ähnlicher Weise, als er vom ›lauen‹ Tod sprach, während der ebenbürtige Evolutionsbiologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt ebenfalls (und wiederholt) vor der Errichtung multirassischer Gesellschaften warnte. Er sah in der Schaffung territorialer Schutzmaßnahmen die einzige Möglichkeit, der Gefahr der genetischen Vernichtung zu entkommen und zu verhindern, daß Europa in den »Strudel zunehmender Verelendung hineingerissen« wird. Irenäus Eibl-Eibesfeld in: M. Klöckner et al., Multikulturelle Gesellschaft im Brennpunkt, Böhlau. Köln, 1990.

9 Laut Befundbericht

10 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, 1883-1885 (1. vollständige Ausgabe aller Teile 1892). Erster Teil: Zarathustras Vorrede

11 König Ubu verkörpert die fleischgewordene Lust am Fressen, Rauben und Morden. Er inkar- niert also alle primitivsten Laster, aber mit kindlicher Grausamkeit. Berühmtes und groteskes Theaterstück in fünf Akten des französischen Schriftstellers Alfred Jarry (1873–1907). Das Drama wurde später in zahlreiche Sprachen übersetzt und inszeniert. Es fand auch Rezeption in der Musik und in der bildenden Kunst.

12 Neben Philosophie und Rhetorik markiert die Epistolographie einen wichtigen, aber zumeist verkannten Zweig der Literaturwissenschaft. Sie beschäftigt sich nämlich mit der Erforschung der Gattung Brief, mit der Korrespondenz also von Schriftstellern, besonders mit der ihrer Liebschaften – sprich mit ihrer verborgenen, inneren Welt – mit dem Ziel, neue Erkenntnisse aufzudecken. Dadurch verspricht sich die Epistolographie ein besseres, realistischeres Verständnis, manchmal sogar eine vollkommen andere Deutung der literarischen Rezeption der dafür ausgewählten Autoren und ihrer  – explizit der äußeren Welt gewidmeten Werke, ob Romane, Essays, Gedichte etc.

Gemälde von Konstantin Wassiljew

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