Ach, möge ich nicht ohne Kampf und Ruhm sterben,
sondern eine Heldentat vollbringen, von der die ungeborenen Menschen lernen werden.
Ilias, XXII, 304-305

 

Homer singt von der klaren Energie der Menschen, die mit ihrem Schicksal ringen, die keine Illusionen über die Götter haben, von denen sie wissen, daß sie ihren Launen unterworfen sind, und die auf keine andere Quelle hoffen als auf sich selbst und ihre Seelenstärke. […] In der siderischen Leere des vollendeten Nihilismus wird die Ilias ihre Funktion als heiliges Buch wiederfinden, als vollendeter Ausdruck einer inneren Vision, ohne die ein Volk stirbt.
Dominique Venner, Geschichte und Traditionen der Europäer. 30.000 Jahre Identität

Wenn der Geist sich erinnert, bleibt das Volk erhalten. Dies ist einer der Grundsätze, die wir am Institut Illiade in den Vordergrund stellen. Ohne in der Phantasievorstellung einer längst verflossenen Vergangenheit zu schwelgen, ist es wichtig zu wissen, woher wir kommen. Je tiefer und fester unsere Wurzeln sind, desto mehr können wir wachsen, aufbauen und uns erheben.

Homer ist zweifellos eine der ältesten Figuren der europäischen Zivilisation, die noch immer zu uns sprechen.

Auf dieser unruhigen Reise gegen das Aussterben des kollektiven europäischen Gedächtnisses erscheint es uns wesentlich, diese Schutzfigur herbeizurufen, um unsere Identität und unsere jahrtausendealte Kultur zu bekräftigen und unser Erbe zu betrachten, das wir weitergeben müssen.

Indem wir uns Homer wieder aneignen, knüpfen wir an die europäische Tradition an, durch die Europa wieder zu einer echten Zivilisation wird und nicht nur zu einer politisch-wirtschaftlichen Marktunion, die von Verträgen regiert wird. Platon sagte, Homer sei „der Erzieher Griechenlands“, und es liegt an uns, ihn zum Erzieher Europas zu machen.

Die Wahl des XII. Jahrgangs des Institut Iliade fiel auf die Figur Homers, den Autor, den Dichter, aber vor allem das Symbol, die Allegorie des europäischen Genies. Der im 8. Jahrhundert v. Chr. geborene Homer schrieb die ›Ilias‹ und die ›Odyssee‹, zwei Gründungstexte der griechischen Literatur, die in der hellenischen Welt der Antike großen Anklang fanden und noch immer als Grundlage für die westliche Literatur dienen.

Für Dominique Venner führt das Lesen von Homer in den europäischen Geist ein und gehört zur authentischsten Ursprünglichkeit.

Er war ein sogenannter Adeus (von griechisch áidô, singen), ein nomadischer Dichter und Sänger, der mit einer Phorminx (Vorläufer der Leier) durch den Mittelmeerraum reiste und seine Geschichten erzählte. Traditionell wurde er als alter Mann mit Blindheit dargestellt, da der Name Homer im äolischen Dialekt „der Blinde“ bedeutet.

Die Figur des blinden Dichters erscheint uns in der ›Odyssee‹ in der Gestalt des Aeden Demodokos, der von den Musen, die allein über Wissen und Wahrheit verfügen, seines Augenlichts beraubt wurde. Er verfügt über ein großes Gedächtnis und die Fähigkeit, hinter die Fassade zu blicken. In einigen slawischen Regionen werden Barden rituell als „Blinde“ bezeichnet, da der Verlust des Augenlichts angeblich das Erinnerungsvermögen anregt.

Homer, der „blinde“ Aeda, erinnert uns mit seiner Gestalt also daran, nie zu vergessen, woher wir kommen, unsere epischen Heldentaten zu besingen und unser Gedächtnis zu pflegen, um es an unsere Mitmenschen weiterzugeben.

Das Bild der Muse, das in ihrem Werk präsent ist, ermöglicht es uns, in dieser Idee der Weitergabe noch einen Schritt weiterzugehen. Als Töchter von Zeus und Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses, verkörpern die Musen die verschiedenen Künste.

Bildquelle: wiktionary.org

Homer weist uns darauf hin, daß das kollektive Gedächtnis einer Zivilisation notwendigerweise über die Kultur erfolgt, da beide voneinander abhängig sind. Mit der Inspiration der Musen, den Töchtern des Gedächtnisses, komponiert jeder Adept sein Lied nach seinem eigenen Willen.

Das geschriebene Wort allein reicht nicht aus, die Weitergabe erfolgt durch das gesprochene Wort, und der Gesang setzt daher ein Publikum voraus, das zum Zuhören anwesend ist. Die soziale Interaktion bleibt im Vordergrund der Überlieferung, wir müssen die Aeden unserer Zivilisation sein, unserer immer noch zu schreibenden Geschichte.

Von allen Menschen auf der Erde verdienen die Aeden Ehre und Respekt, denn es ist die Muse, die das Geschlecht der Sänger liebt, die sie inspiriert.
Odyssee, VIII, 479-481

Die Wahl Homers als Leitfigur unseres Jahrgangs bedeutet auch, daß wir uns mit einem kulturellen Erbe ausstatten, einem Grundstein unserer Zivilisation, wie sie heute noch existiert. Die Überlieferung von Homers Werk im Laufe der Zeit und das daraus resultierende Erbe in ganz Europa und später in der ganzen Welt stärken uns in diesem gemeinsamen Fundament, das uns verbindet.

Jedes lexikalische Feld, das Homer eigen ist, ist heute Teil der Alltagssprache, angefangen mit seinem eigenen Namen. Das Epitheton „homerisch“ ist Teil unseres Wortschatzes: „von Charybdis zu Skylla fallen“, „Penelopes Treue“, „Achillesferse“, „Trojanisches Pferd“ oder auch der Begriff „Odyssee“ sind nunmehr in unserer gemeinsamen Kultur verankert.

Dominique Venner erinnert uns daran, daß uns mit der ›Ilias‹ das erste Gedicht der alten europäischen Welt überliefert ist, das sowohl tragisch als auch episch ist, und vergleicht die Kraft seiner Ausstrahlung zusammen mit der ›Odyssee‹ – dem ersten Abenteuerroman – mit der der Bibel, wobei Homer eine Quelle der Weisheit und Vitalität ist, die den Test der Zeit bestanden hat.

Vergessen ist für den griechischen Helden nicht akzeptabel. Er strebt nur nach der Nachwelt. In Homers Vision ist das Leben tragisch: Wir steuern auf den Tod zu, wir leben zu schnell.

Wir müssen die Schlacht schlagen, wenn sie sich uns bietet. Wir lehnen weder den Krieg noch das Opfer ab. Der Ruhm soll dann der kürzeste Weg zum kollektiven Gedächtnis sein, das Unsterblichkeit garantiert. Der Held ist derjenige, den wir nie vergessen. Er ist auch derjenige, der uns inspiriert, wie Homer, der durch unsere Taten unsterblich geworden ist.

Bei Homer hat das Leben, dieses kleine, flüchtige und so gewöhnliche Ding, keinen Wert an sich. Es ist nur durch seine Intensität, seine Schönheit und den Hauch von Größe wert, den jeder – und in erster Linie in seinen eigenen Augen – ihm verleihen kann. Diese Auffassung unterscheidet sich deutlich von derjenigen, die von so vielen dieser Basarweisheiten und Plattitüden vermittelt wird, die den Geist der westlichen Massen erobert haben und dazu verleiten, sich ein möglichst langes Leben zu wünschen, und sei es noch so mittelmäßig und armselig.
Dominique Venner, Ein Samurai aus Europa. Das Brevier der Unbeugsamen

An den Baum unseres Erbes gebunden, werden wir dem Gesang der Sirenen widerstehen; von den Musen inspiriert, werden wir das lange europäische Gedächtnis der Menschen aufrechterhalten. Wie moderne Aeden werden wir der Welt von unserem kulturellen Reichtum singen, uns unsere Identität wieder aneignen und das europäische Bewußtsein wecken. Das ist der Kampf, den dieser Jahrgang führt, indem er sich in die Fußstapfen Homers begibt, um nie zu vergessen, daß der Kampf ewig währt, die Reise voller Hindernisse ist, die Rückkehr aber umso glanzvoller sein wird.

[Homer] ging mit dem Material des Volksglaubens so frei um wie ein Bildhauer mit seinem Lehm, also mit der gleichen geistigen Unabhängigkeit, die die großen Künstler der Renaissance sowie Shakespeare und Goethe besaßen. (Aus dem Französischen übersetzt)
Nietzsche, Allzu menschlich, Aphorismus 125

 

Quelle: https://institut-iliade.com/promotion-homere/?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=la_reponse_du_faible_au_fort_lecons_des_contre_attaques_hongroises&utm_term=2022-11-22

 

Dominique Venner: Ein Samurai aus Europa. Das Brevier der Unbeugsamen