Robert Steuckers

Die Idee, die griechische mythologische und philosophische Tradition mit dem futuristischen Elan zu koppeln, bewegte Guillaume Fayes Geist von dem Moment an, als ich ihn kennenlernte und zwischen 1979 und 1987 mit ihm zusammenarbeitete. Diese Jahre waren die fruchtbarsten seines intellektuellen Weges.

Guillaume Faye war während seiner Zeit am Gymnasium von seinen Griechisch- und Lateinlehrern tief geprägt worden. Er hatte Platon gelesen und sich auf den Realismus des Aristoteles berufen, eine Lektüre, die er durch ein Eintauchen in die Werke von Mircea Eliade, Walter Otto und Georges Dumézil ergänzt hatte. Faye war auch ein Schüler des italienischen Philosophen Giorgio Locchi, der der eigentliche Mentor dessen war, was man später der journalistischen Vereinfachung halber als „Neue Rechte“ bezeichnen sollte.

Guillaume Faye, ᛉ 7. November 1949 in Angoulême; ᛣ 7. März 2019

Ohne Locchi wäre sie nicht das, was sie ist, trotz der ungerechtfertigten Ächtung, die der italienische Denker nach 1979, dem Jahr seines endgültigen Rückzugs, erfahren hat. Für Locchi beruht die wahre europäische Idee, die leider von der Moderne verdrängt wurde, auf einem soliden mythischen Fundament, insbesondere auf der trifunktionalen Struktur der indoeuropäischen Gesellschaften, die durch das Werk von Georges Dumézil hervorgehoben wurde und die die Deutschen des 19. Jahrhunderts einfacher als das Tripel von „Lehr-, Wehr- und Nährständen“ bezeichneten.

Locchi, der auch ein sehr scharfsinniger Musikwissenschaftler war, war der Ansicht, daß die europäische Musik seit Bach dazu beitrug, die erstickende Decke, unter der der „europäische Mythos“ gefangen war, zu durchtrennen und zu fragmentieren.

Für Locchi lieferte Richard Wagner durch die Wort- und Tondichtung seiner Opern die entscheidenden Hammerschläge, um den europäischen Mythos aus seinem jahrhundertealten Gefängnis zu befreien und endlich eine Strukturierung der europäischen Gesellschaften herbeizuführen, die dem Inhalt dieses Mythos entspricht, und somit eine politische Form wiederherzustellen, die völlig frei von christlichen, scholastischen, cartesianischen und kantischen Zwängen ist.

Giorgio Locchi (1923-1992)

Locchi, der über den Streit zwischen Wagner und Nietzsche hinaus argumentierte, entnahm Nietzsches Werk alle Elemente, die seine Befreiungsthese stützen konnten, während Pierre Chassard, der ebenfalls „geläutert“ und in den Reihen der „Neuen Rechten“ geächtet wurde, in seinem Werk über Nietzsche die entmündigenden Platonismen geißelte, die Europa in den Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch der antiken Welt geschwächt hatten.

Faye liebte Platons Republik, wollte aber dennoch nicht zulassen, daß die Europäer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Höhle dahinvegetieren und sich mit Schatten an den Höhlenwänden begnügen. Die Rückkehr des europäischen Mythos, die Rückkehr der in der Höhle gefangenen Europäer zur Sonne, Nietzsches Hammerphilosophie, die die wurmstichigen Götzen des kranken alten Europas zerschlug: Das waren die Bestrebungen des Gespanns Locchi/Faye und auch von Chassard, der sehr schnell in die Eifel zurückkehrte, wo er sich niedergelassen hatte.

Die Synthese, die Faye vorschlug, wurde kaum schriftlich erläutert, mit Ausnahme jedoch eines kleinen Büchleins von seltener Dichte, das seine „Kameraden“ vernachlässigt und verachtet hatten, es für würdig befunden hatten, in den Papierkorb zu wandern. Ich rettete dieses Typoskript vor der Vernichtung und mein Freund Jean-Marie Simar aus Lüttich stellte eine bescheidene, handwerkliche Ausgabe mit den ersten Personalcomputern her. Dieses heute unauffindbare Büchlein trug den Titel „Europa und die Moderne“: Faye stellte darin fest, daß die Moderne, die der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, zu Ende ging und daß sich eine Postmoderne ankündigte, die allen Blockaden, allen entmündigenden Platonismen und allen Formen des Niedergangs ein Ende setzen würde, die die Aufklärung und die egalitäre Ideologie der Französischen Revolution unseren Völkern aufgezwungen hatten.

Auch Armin Mohler glaubte auf der Grundlage der Arbeiten von Wolfgang Welsch, daß nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs eine radikal andere Postmoderne als die Aufklärung entstehen würde. Dem war jedoch nicht so. Die Postmoderne, die uns heute als Hauptgericht serviert wird, ist schlimmer als die schlimmsten Fehler der Aufklärung.

Für Faye, als er sein Manuskript verfaßte, das boykottiert werden sollte, gab es eine Implosion der Moderne, eine Rückkehr zu Stammes- und Gemeinschaftsformen (wie sein Freund, der Philosoph Michel Maffesoli, feststellte), redhibitive Meinungsverschiedenheiten zwischen den selbsternannten Vertretern der Aufklärung (Adorno, Horkheimer, Habermas, Lévy usw.) und so weiter.

Faye und Mohler, jeder in seiner Ecke, glauben, daß man die postmoderne Bewegung des Zerfalls der Moderne im Sinne einer Art vormoderner Restauration vorantreiben kann, die die Wiederherstellung des Politischen gemäß der Definition von Carl Schmitt und Julien Freund beinhaltet.

Die offizielle Moderne ist für den Nietzscheaner Faye das „christianomorphe Bewußtsein“, d. h. das Bewußtsein, das von allen Arten der derealisierenden Gnostizismen geprägt ist, die das Christentum bis zu ihrer Säkularisierung durch die englische und französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts propagierte und die die Kirche manchmal bekämpfte, indem sie über den Thomismus eine Rückkehr zum Realismus des Aristoteles forderte, dabei aber das Denken des Stagiriten austrocknete.

Diese gnostischen Formen wurden von einem heidnischen Unterbewußtsein überlagert, das vor allem in der volkstümlichen Folklore unserer ländlichen Gegenden fortbesteht. Doch das christianomorphe Bewußtsein und das unterworfene heidnische Unbewußte kommen, so Faye, an einen Punkt der Dissoziation, indem sie auf ein präpaianisches/präneolithisches Unbewußtes treffen.

Die Dissoziation vollzieht sich durch die Schaffung:

  1. eines modernen technisch-wissenschaftlichen Bewußtseins (das auf naturwissenschaftlichen Postulaten beruht, die nicht mit der kartesischen oder scholastischen Logik gleichzusetzen sind), das vom politischen und römischen heidnischen Unbewußten innerviert wird und dem Imperativ gehorcht, politische Macht zu schaffen.
  2.  Das westliche Massenbewußtsein, das das christianomorphe Bewußtsein erbt und gleichzeitig einen neuen Avatar darstellt, der nicht mehr religiös (außer in den USA in protestantischen Sekten), sondern ideologisiert ist (heute würden wir sagen: „politisch korrekt“). Dieses Bewußtsein widersetzt sich den Machtidealen der europäischen Techno-Wissenschaft, wie die Ideen von Horkheimer, Adorno und Habermas belegen, die in ihm einen „Neo-Faschismus“ sahen.

In demselben Kontext der Dissoziation wird das vorneolithische Unbewußte

  1.  das moderne Bewußtsein durchdringen und ihm Vitalität verleihen, wie Faye in seinem Buch ›Archäofuturismus‹ erläutert, denn sein Archäofuturismus ist tatsächlich eine Form des Vitalismus, inspiriert übrigens von dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset, der seinerseits von „vitalistischem Konstruktivismus“ sprach;
  2. das westliche Massenbewusstsein, dem dieses präneolithische Unbewußte einen Neo-Primitivismus beschert, der die Hippie-Mentalität und bestimmte kalifornische Sekten, die als ›New Age‹ bezeichnet werden, erbt.

Zu den Auswirkungen der Rückkehr des präneolithischen Unbewußten gehört auch die Theorie des Nomadentums, die von Bernard-Henri Lévy und Jacques Attali aufgewertet wurde, die sich darauf stützten, um ihre Version der Moderne und des westlichen Liberalismus zu untermauern.

Das Prä-Neolithikum ist in der Tat nomadisch, es ist eine Zeit des Jagens und Sammelns. Das Nomadentum des modernen Bewußtseins, in dem, was es positiv und europäisch ist, ist dagegen ein abstraktes Nomadentum: Es beinhaltet die freiwillige Abwanderung aus Abenteuerlust, die Faye als „abenteuerliche Abwanderung“ bezeichnet, die der Pioniere, Entdecker, Glücksritter etc.

Das Nomadentum im „westlichen Massenbewußtsein“ ist seinerseits ein kosmopolitisches Handelsnomadentum oder ein erzwungenes Nomadentum, insbesondere in der Masseneinwanderung. Dieses erzwungene und/oder kosmopolitische Nomadentum ist das Ideal von Lévy und Attali.

Dieses Zwangsnomadentum zeichnet sich auch dadurch aus, daß es von Grund auf neu geschaffen wird, um das pathologische Streben nach Abstraktion zu perfektionieren, das die Aufklärung seit ihrem Einzug in das europäische Denken vermittelt: dieser Nomadismus zielt also auf die Auslöschung aller Verankerungen, die allgemeine Entwurzelung, die entwurzelnde Entvölkerung, nicht nur im Phänomen der Süd-Nord-Migration, sondern auch in der Verteilung der autochthonen Bevölkerung (in Europa wie in Afrika), die die Landflucht in die Städte und dann die Abwanderung der städtischen Migranten in die Kleinstädte und Dörfer (den Neo-Ruralismus, den Frankreich heute kennt) erlebt hat oder erlebt.

Das Nomadentum des westlichen Massenbewußtseins impliziert die fabrikmäßige Entstehung einer allgemeinen Wanderschaft, die von der Medienideologie immer wieder als unüberwindbares Ideal besungen wird. So entsteht die westliche Kosmopolis (Weltbürgerstadt), die den Westen zu einem „Nicht-Ort“ macht, ohne Verankerung, ohne Wurzeln.

In Deutschland nannte Hans-Dieter Sander dies ›Entortung‹. Das globale Projekt der Kosmopolis und der Entortung zielt auf das Verschwinden jedes Oikos ab, jedes Raums, der auf sich selbst zentriert ist und von einer Gemeinschaft verwaltet und geleitet wird, die in sich verwurzelt ist.

Das Verschwinden jedes Oikos bedeutet den Tod jeder realen Wirtschaft (Oikos/Nomos), da alles de-territorialisiert und de-kontextualisiert wird, ganz im Sinne von Frau Thatcher, die unwiderruflich und mit aller Macht behauptete: „There is no society“ (Es gibt keine Gesellschaft). Wir leiden unter den Auswirkungen dieser Behauptung, die heute in allen europäischen Ländern bis zum Überdruß wiederholt wird.

Faye sah jedoch Widerstand im mediterranen Europa (wie Ernst Jünger vor ihm), in Griechenland durch die orthodoxe Kirche, in Mittel- und Osteuropa vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Allerdings lauerte auf die Widerstände eine schleichende Gefahr: die der Folklorisierung. Die Reste unserer Verwurzelung wurden „folklorisiert“ (Beispiel: Das Fernsehen im Baskenland war froh, wenn es amerikanische Seifenopern wie ›Dallas‹ in baskischer Sprache zeigen konnte!)

Guillaume Faye bei seinem letzten Auftritt bei TV-Libertés (Paris).

Der Archäofuturismus stellt also ein Denksystem dar, und Faye zeigt auf der Grundlage einer sehr umfangreichen Lektüre die Grundlagen auf, auf denen die künftigen Generationen aufbauen müssen.

Es geht also darum, einerseits die griechischen und römischen mentalen Reflexe des antiken Heidentums zu bewahren, sowohl in ihren mythologischen (Ilias) als auch in ihren philosophischen Aspekten (Platon, Aristoteles), die keltischen, germanischen und slawischen Reflexe, die wir noch aus der Mythologie kennen; andererseits auf den Vitalismus dieser antiken Tugenden zu setzen und vom vorneolithischen Nomadentum nur die Neigung zum Abenteuerlichen beizubehalten.

Ansonsten ist es angesichts der Maßstabsverschiebung zwischen der griechischen Polis, dem römischen Reich und den heutigen Zivilisationsräumen angebracht, die energetische Unabhängigkeit, die wirtschaftliche Autarkie und die militärische Macht auf nunmehr kontinentalen Ebenen zu denken (wie es auch Jean Thiriart wollte).

Fayes erster Vortrag, den ich 1975 in Lille besuchte, sprach über die energiepolitische Unabhängigkeit Europas, ein Thema von höchster Aktualität, heute im Jahr 2022! In diesem Sinne war Faye ein futuristischer Schüler von Clausewitz.

Für Clausewitz, der im Wesentlichen auf der Grundlage des römischen Sprichworts „Si vis pacem, para bellum“ argumentierte, waren Energie- und Nahrungsmittelautarkie, eine hervorragende industrielle Struktur und die Produktion technischer Güter von höchster Qualität Garanten für politische Unabhängigkeit.

Clausewitz ging vom preußischen Staat aus und antizipierte vielleicht ein Deutschland, das sich auf den Zollverein ausdehnte: Zwei Jahrhunderte nach ihm sollte man den „Großraum“ (Carl Schmitt) auf der Grundlage der gleichen autarken Trümpfe denken.

Faye war in seiner großräumigen Vision (einschließlich Rußland/Sibirien) auch von den Schriften des Ökonomen François Perroux beeinflußt (Autor eines viel beachteten Buches über die nationale Unabhängigkeit in der Zeit des antiamerikanischen De Gaulle der 1960er Jahre).

Perroux hatte die Idee eines großen Kontinents für Lateinamerika theoretisiert und die Energieautarkie befürwortet, die mit dem Atomprogramm von De Gaulles Frankreich angestrebt wurde. Zweitens erforderte die Schaffung eines großen euro-russischen und damit euro-sibirischen Raums, in dem die Verwurzelungen geschützt, gefördert und bewahrt würden, die Organisation eines Systems schneller und landgestützter Kommunikation (im Schutz der angelsächsischen Flotten).

Faye war von Eisenbahnprojekten fasziniert: der Aérotrain Paris-Orléans, ein gescheitertes Projekt des Frankreichs von De Gaulle, die Breitspurbahn des nationalsozialistischen Deutschlands, die Berlin mit Teheran verbinden sollte, die sowjetische Baikal-Amur-Magistral-Realisierung. Er soll die Pläne für Xi Jinpings neue Seidenstraße, die ›Belt & Road Initiative‹, gebilligt haben.

Im Anhang seines Buches über Archäofuturismus findet sich eine kleine Kurzgeschichte, die nun auch ins Deutsche übersetzt wurde und seine archäofuturistische Zukunftsvision auf den Punkt bringt: Verwurzelte bretonische Gemeinschaften, die in der Lage sind, eine originelle, keltisch inspirierte Musik zu produzieren und eine Lebensmittelwirtschaft auf armenischem Boden zu organisieren; eine imperiale Instanz, die zwischen verwurzelten Gemeinschaften auftretende Streitigkeiten schlichtet, vertreten durch Kommissar Oblomow; autarke und getrennte Zivilisationspole, die in den Gesprächen zwischen Oblomow und der jungen Vertreterin des indischen Raums kurz hervorgehoben werden; eine hochfliegende Technologie mit einem Zug- oder Hyperloop-System, das ultra-schnelles Reisen zwischen Britannien und der Insel Sachalin im Pazifik ermöglicht.

Die archäofuturistische Ideologie, die sich logischerweise aus dem von uns geschätzten Guillaume Faye brach liegenden Gedankengut ergeben müßte, ist ein schwieriger Weg: Denn scheinbar sollen sich ganz unterschiedliche Kontinente des Denkens in einem Gedankengut verflechten, das das Politische, die Doppelidee von Macht und Autarkie, restauriert.

Sie ist allerdings das perfekte Gegenmittel zur herrschenden Ideologie des amerikanisch-zentrierten Westens. Sie will die Wurzeln bewahren, ruft zur Autarkie und damit zur europäischen und russischen Unabhängigkeit auf, lehnt die Feindbezeichnungen ab, die die von den amerikanischen Denkfabriken inspirierten Medien verbreiten, und weist den Anti-Technizismus der ›Grünen‹ zurück, die nunmehr die besten Verbündeten Washingtons sind. Ein Werk, das übersetzt und so weit wie möglich verbreitet werden sollte.

 

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/

 

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