Hans-Friedrich Blunck

Wenn man nur Glück hat, dachte die kleine schwarze Ahlbeere, da sprang sie – witsch – der Bahnwärterfrau, die all ihre Geschwister in den Einmachtopf werfen wollte – witsch – zwischen den Fingern durch. Flink hüpfte sie auf den heißen Herd, was sehr weh tat, stieß sich arg an einer Kante und hatte doch immer noch solchen Schwung, daß sie – hupp – mit dem drittenmal über die Türschwelle in den Garten kam.

Der kleine Junge des Bahnwärters hatte sie indes springen sehen. Er wollte seiner Mutter beim Einmachen helfen, wurde aber zur Seite geschoben, weil er immer im Wege stand. Jetzt wollte er zeigen, daß er doch nützlich sei, tappte durch die Küche, kletterte auf allen vieren über die Türschwelle und griff wahrhaftig nach der kleinen schwarzen Kugelrunden. Als er sie mit seinen schmutzigen Fingern aber schon beinah erwischt hatte und die kleine Beere, die eben noch ihr Glück gepriesen, schon entsetzlich in Angst geriet, fiel ihr gerade noch ein guter Gedanke ein. „Hör mal“, sagte sie leise, „die Glucke hat eben Küken gekriegt, lauter kleine gelbe piepsende Küken.“

Als das der kleine Bahnwärterjunge hörte, ließ er Ahlbeere Ahlbeere sein, patschte sich hoch und wollte zum Hühnerhof. Aber weil er noch nicht so weit laufen durfte, steckte er nur beide Hände in den Mund und sah voll Verlangen zum Kakelstall mit den gelben Küchlein, fing an zu weinen und vergaß ganz, daß er die kleine Ahlbeere hatte holen wollen.

Der sollte das Aufschneiden aber doch nicht recht bekommen. Kaum war sie den Jungen los, da kreiste brusebrusebrumm eine dicke Wespe gerade über ihrem Kopf. Wie hat sie sich da fürchterlich erschrocken! „Bitte, bitte, tu mir nichts“, sagte sie ganz laut, so daß die summende Wespe es hören mußte. „Bitte, stich mich nicht, ich will dir auch verraten, daß hinter mir in der Küche alle meine Geschwister mit Zucker eingemacht werden.“ Als die Weste das Wort Zucker hörte – hast du nicht gesehen –, weg war sie und in die Küchentür hinein; man hörte die Frau gleich zetern und mit der Schürze schlagen.

Die Ahlbeere kam indes immer noch nicht zur Ruhe. Kaum war sie die Wespe los, das stand ein ungeheurer Riese dicht neben ihr. Der Riese aber war der Stiefel eines alten Bettlers, der sich nicht recht in die Tür wagte, verlegen im Sand schurrte und so viele Löcher wie Zehen am Fuß hatte – es war drollig, den Stiefel anzusehen. Die kleine Ahlbeere hat denn auch alle Furcht vergessen, das schönste Loch hat sie sich ausgesucht, hat sich lautlos hineingerollt und ganz warm und behaglich sich neben der großen Zehe des Bettelmanns eingekuschelt.

Es gibt aber keinen ungetrübten Frieden hienieden, auch nicht bei den Ahlbeeren. So schön der Platz war, solange der Bettelmann vor der Tür stand und um ein Stück Brot bat, so lebensgefährlich war es für die kleine Ahlbeere, als der Schuh wieder in Bewegung kam. Das drückte und zwackte, das ruckte und krachte, das zwickte und schwappte, oh, der armen schwarzen Ahlbeere wurde siedeheiß vor Angst um ihr Leben. Und als der Bettelmann mit der bloßen Zehe gegen einen Stein stieß und den Fuß mit einer Verwünschung bin und her schlenkerte – witsch –, quetschte sie sich gerade noch rechtzeitig nach draußen und fiel, plumps, in Gras hinein.

Das schien ja nun endlich ein gefahrloses Vergnügen, so ganz wohlig und sorgenlos mitten im schönsten Sonnenschein zwischen den Halmen zu liegen und sich von allen Seiten bescheinen zu lassen. Immer müßte es so bleiben, dachte die Ahlbeere und reckte und dehnte sich und schnubberte auch einmal über die Erde, ob hier wohl der Boden sei, um einen neuen großen Beerenbusch wachsen zu lassen.

Aber was meint ihr? Ehe unsere kleine Johannisbeere sich noch recht besonnen hatte, auf einmal, hopp, hatte eine Drossel sie auf und im Schnabel, um sie ihren Jungen zu bringen. Das arme kleine Ding war außer sich vor Schreck; keinen Laut konnte es von sich geben, gleich neben einem zappelnden Wurm und einem Weizenkorn hing es im Vogelschnabel und flog, eng gedrückt und gezwickt, auf das Bahnwärterhäuschen zu. Nicht die Augen aufmachen konnte sie vor Angst.

Die Drossel hatte sich aber wohl etwas viel zugemutet. Gerade über der Dachrinne krümmte sich der arme Wurm noch einmal erbärmlich. Der Vogel wollte ihn fester packen, da rutschten im das Weizenkorn und die schwarze Ahlbeere au dem Schnabel und hüpften, so schnell sie nur konnten, davon. Ja, weg waren sie. –

Nun wollen die Wunder mitunter ja nicht aufhören. Da hatte der gute Pullemann Puk, der bei Bahnwärters unterm Dach wohnt – ihr wißt, ein grauer kindesgroßer Alter mit einer roten Mütze –, da hatte Pullemann Puk in der Dachrinne gerade Besuch von zwei Neffen, von Kullerpuckern drüben vom Bahnhof. Die Kullerpucker sind ja noch kleiner als Pullemann Puk. Ihr habt vielleicht davon gehört, sie wohnen unter den Eisenbahnwagen; kein Zug kann abfahren, ohne daß sie ihr Kullerdipuck, Kullerdipuck dazu abgeben.

Was sagte ich eben? Zwei von diesen Flegeln von Kullerpuckern waren gerade zu der Zeit, wo meine Geschichte von der Ahlbeere spielt, zum Besuch in der Dachrinne gekommen; Ohm Pullemann hatte früher einmal rote Grütze für sie gehabt, das wußten sie noch. Nun, die beiden Kullertjes langweilten sich sehr, weil Ohm Pullemann heute keine rote Grütze hatte. Ohm Pullemann wollte sie auch nicht in seiner guten Stube haben. So schickte er sie in die Dachrinne, um Kriegen zu spielen, – es ging etwas gefährlich zu, Dachrinnen sind gewiß kein Platz, um Kriegen zu spielen. Aber der alte Herr Pullemann Puk war froh, daß sie sich beschäftigten.

Da fiel nun, gerade als die kleinen Kullerpucker sich wegen des Kriegenspielens in den Haaren hatten – jeder behauptete, er hätte den andern zuerst angetickt –, da fiel mitten zwischen die beiden eine schwarze Ahlbeere vom Himmel.

Was haben die beiden für Augen gemacht! Das hatten sie ja noch nicht gewußt, daß bei Ohm Pullemann Puk die Ahlbeeren vom Himmel regnen. Lange sahen sie sich das Wunderding an, einer hinter den andern gedrückt. Endlich wagte der Ältere sacht mit der Hand daran zu stoßen. Die kleine Ahlbeere lief höflich einen Schritt weiter. Gleich wurde der Knirps mutig und schlug mit dem Holzschuh hinterdrein, so wie er es bei den Menschen gesehen hatte. Schwapp, flog auch das kleine schwarze Ding in die Luft und trullerte, so weit es ging, die Dachrinne entlang. Jetzt hatten die beiden es gefaßt. Der Jüngere holte den Fußball ein und gab ihn gleich zurück, es gab ein fürchterliches Hin und Her über Pullemanns Wohnung, immerzu in Purzeln und Torschießen ging es auf und ab. Die Bengels wußten sich kaum zu halten vor Vergnügen, obschon es für die kleine Ahlbeere wirklich keine Freude war, immer mit den groben Holzschuhen hin und her getreten zu werden.

Als es nun dämmrig wurde, die grauen Moornebel aufstanden und der Lärm in der Dachrinne sich nur immer verschlimmerte, wurde es sogar dem guten Ohm Pullemann zuviel. Er schob sich aus seiner Kammertür, stand auf einmal hinter dem einen Torwächter, gab ihm einen Stoß, als er die Ahlbeere fangen wollte, und nahm den sonderbaren Fußball selbst in die Hand, um ihn sich näher zu besehen.

„Gaat na Huus, Jungens!“ mahnte er.
„Och nee und och nee“, jammerten die, und Ohm Pullermann sollte wenigstens noch einen einzigen Spaß mit ihnen machen.

Der Alte hatte gar keine Lust, aber er sah ein, daß er das Gelichter nicht anders los wurde. Und weil von unten gerade ein paar Nebelriesen träg und strähnig die Straße hochkamen, langte er nach seinem Rücken, wo er sein Pusterohr hängen hat, paßte die schwarze Ahlbeere ein – es ging auf ein Haar – und blies die Backen voll, daß es kaum zum Ansehen war.

Und dann, gerade als so ein alter Nebelkerl vorbeikam – ihr wißt, Pullemann hat eine alte Feindschaft gegen die vom Moor –, zielte er haarfein und preschte ab. Was meint ihr? Die kleine schwarze Ahlbeere flog dem Riesenkerl genau in linke Ohr hinein und dann zum rechten wieder hinaus und noch weit, weit ins Land hinein. – Der alte Graue ist stehengeblieben, hat sich verwundert mit dem Finger im Ohr getippt, hat den Kopf geschüttelt und sich umgeguckt. Er hat jedoch nur die beiden Kullertjes gesehen, die vor Vergnügen kreischten und von einem Bein aufs andere sprangen. Da hat er etwas von dummen Jungen gebrummt und hat sich weitergeschleppt.

Aber ich wollte von der kleine Ahlbeere erzählen. Ja, die ist nach jener Fahrt aus Pullemanns Rohr weit, sehr weit in Land hineingeflogen und, was noch besser war, sie ist endlich geradewegs in ein wundervolles Versteck hineingerollt, grad so eins, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Da hat sie im Frühling einen Busch mit Blättern getrieben, und der Busch hat nach drei Sommern zu blühen angefangen, und die Bienen summen dann, und es duftet und gibt eine herrlichen Schatten.

Ich lag nämlich noch jüngst unter dem Busch und bin gar nicht mehr erstaunt, wie er in das wilde Moor kam. Er hat mir die ganze Geschichte erzählt.

 

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Dieses Märchen ist dem Gedenken an unseren Freund Hans-Wilhelm Schäfer gewidmet, der am 4. August 2022 im 87. Lebensjahr diese Welt verlassen hat. 
Er war dem großen Dichter Hans-Friedrich Blunck sehr verbunden und hat selbst Beiträge veröffentlicht, wie zum Beispiel:
Zum Wilden Einhorn. Märchen im Spätwerk Hans Friedrich Bluncks
Die Bedeutung der Blunckschen Märchen für unsere Zeit

Von den zahlreichen Gedichten, die Hans-Wilhelm Schäfer neben seinen anderen Schriften verfaßt hat
und die in verschiedenen Gedichtbänden erschienen sind,
ist das folgende dem Band ›Neue Literatur 2015‹ entnommen.

DAS VÖGLEIN

Sieh doch nur dem Vöglein zu
es hat Augen so wie du
es hat Schultern, Rücken, Bein
sei’s auch klein

Sieh doch nur dem Vöglein zu
es fühlt Schmerzen so wie du
freut sich übers Morgenlicht
im Angesicht

Sie doch nur dem Vöglein zu
abends sucht es seine Ruh
und am Ende muß es sterben
so wie du.