Ralf Van den Haute
Der gottlose Krieger ignoriert die Vorzeichen, die zu seinem Untergang führen, nachdem er die drei „Sünden des Kriegers” begangen hat.
Es war Georges Dumézil, der mit seinem monumentalen Werk zur vergleichenden Mythologie dieser Disziplin zu wissenschaftlicher Anerkennung verhalf und die jungen Forscher Claude Sterckx und Frédéric Blaive [1]ermutigte, ihrer Intuition zu folgen und den indoeuropäischen Mythos vom „gottlosen Krieger” zu entwirren.
Die Relevanz dieses Themas, das ausführlich in der Zeitschrift ›Ollodagos‹ – Actes de la Société belge d’études celtiques, in ›Studia Indo-Europaea‹ und in ›Latomus‹ – revue d’études latines behandelt wurde, spiegelt sich in der Zahl der Philologen wider, die sich vor allem im französischsprachigen Raum mit diesem Thema wissenschaftlich befaßt haben: Alexandre Tourraix, Dominique Briquel, Marcel Meulder und Bernard Sergent.
Der Mythos vom gottlosen Krieger wird von mehreren indoeuropäischen Völkern geteilt und scheint außerhalb dieses Sprachraums völlig zu fehlen. Blaive und Sterckx fanden zunächst zahlreiche indische, iranische, skandinavische und lateinische Beispiele für diesen Mythos. Später wurden Beispiele in den meisten indoeuropäischen Sprachen entdeckt, selbst in denen, für die die ältesten Dokumente fehlen, wie in der slawischen Antike, den ossetischen Balladen und bestimmten Texten der mittelalterlichen Literatur.
Dieser Mythos scheint jedenfalls außerhalb des indoeuropäischen Raums nicht zu existieren: Es sind keine chinesischen, arabischen, berberischen, uralischen oder turk-mongolischen Beispiele bekannt.
Eine weitere Besonderheit dieses Mythos: Blaive und Sterckx, die mit der trifunktionalen Struktur der indoeuropäischen Mythologie vertraut sind, stellen fest, daß die drei Warnungen oder Fehler, die dem Ende des gottlosen Kriegers vorausgehen, nicht mit dieser trifunktionalen Struktur gleichgesetzt werden können. Die Triade als solche findet sich unabhängig von der für indoeuropäische Mythen typischen dreifachen Funktion auch anderswo häufig wieder.
Neben dem Mythos vom gottlosen Krieger gibt es auch einen Mythos um die drei Sünden des Kriegers, die mit den drei Funktionen von Dumézil [2] in Verbindung stehen: Mord, Vergewaltigung (oder Entführung?) und Sakrileg, die jeweils die zweite, dritte und erste Funktion widerspiegeln.
Die drei „Sünden” des Kriegers gehen dem Mythos vom gottlosen Krieger voraus, der zunächst diese drei Sünden begeht, sich damit einen Fluch zuzieht, dann mit den Vorzeichen dieses Fluchs konfrontiert wird, diese ignoriert und schließlich stirbt.

Ramayana – Endkampf zwischen Ram und Ravana
Eines der ältesten bekannten Beispiele für einen solchen negativen Helden ist Ravana im hinduistischen Epos Ramayana. Ravana tötet einen Boten, entführt eine Frau und widersetzt sich den Göttern. Es folgen Vorzeichen seines Todes: ein Blutregen, stolpernde und weinende Pferde. Das Pferd taucht übrigens häufig in den verschiedenen Ausprägungen dieses Mythos auf.
In der griechischen Mythologie scheint der Held Achilles aus der Ilias bei näherer Betrachtung mehrere Kriterien des gottlosen Kriegers zu erfüllen. Sagt sein Pferd nicht seinen Tod vor den Toren Trojas voraus, wenn er Hektor tötet? Aber es gibt noch mehr: Achilles ist bekannt für seine unkontrollierbaren Wutausbrüche, zuerst gegen Agamemnon, dann gegen Hektor, und er bedroht mehrmals den Gott Apollon.

Achilles vor den Toren Trojas. Sein Pferd sagt seinen voraus, wenn er Hektor tötet.
Eine der archaischsten indoeuropäischen Traditionen, die keltische, kennt eine besondere Variante dieses Mythos: Die gottlosen Kelten begehen natürlich auch die Fehler, die zu ihrem Untergang führen, aber sie begehen sie widerwillig und unter dem absoluten Zwang einer höheren Verpflichtung. In der irischen Legende Togail Bruidhne Dhadhearga unterliegt der Hochkönig Conaire Mor einer Reihe von Tabus, die er bis zu seinem endgültigen Untergang nach und nach übertreten muß.

Chuchulainn
Der berühmteste keltische Held, Cuchulainn, erleidet am letzten Tag seines Lebens ein ähnliches Schicksal: Er ignoriert die Beschwörungen der Frauen, die seinen nahenden Tod spüren, und andere düstere Vorzeichen, wie seine eigene Klinge, die ihm aus den Händen fällt und seinen Fuß verletzt, oder sein Pferd ›Liath Macha›, das sich nicht anspannen läßt und ihm dreimal seine linke Flanke zeigt.
Dennoch zieht er in den Kampf gegen die feindliche Armee, die Ulster verwüstet. Unterwegs begegnet er drei „Hexen”, die einen Hund über einem Feuer aus Ebereschenzweigen braten. Sie besprühen den Hund mit Gift und sprechen Flüche aus.
Cuchulainn unterliegt einem geis, einem Tabu, das ihm verbietet, an einem Feuer vorbeizugehen, ohne das dort zubereitete Mahl zu teilen. Ein weiteres Tabu verbietet ihm, das Fleisch seines Namensvetters zu essen: Der Spitzname des irischen Helden lautet nämlich „Hund von Culann”.
Cuchulainn tut so, als würde er die Hexen nicht bemerken, doch sie rufen ihn zu sich und bieten ihm mit der linken Hand – ein weiteres schlechtes Omen – ein Stück des Hundes an. Cuchulainn kann nicht anders, als es anzunehmen, was er mit der linken Hand tut, und ißt es.
Sofort verliert er die Hälfte seiner Kraft. Er zieht dennoch in den Kampf, aber seine Feinde bringen ihn erneut in ein tödliches Dilemma, und schließlich unterliegt er, entwaffnet.
In den meisten mythischen Epen der indoeuropäischen Kultur gibt es einen negativen Helden in Form eines übertriebenen und arroganten Kriegers, für den nichts und niemand heilig ist und der keine Ordnung respektiert, nicht einmal die göttliche. Das Leben eines solchen Kriegers kann nur ein kriminelles sein, bis der Held der gegnerischen Seite ihn besiegt und die Ordnung der Welt wiederherstellt.
Die fatale und prophetische Natur des Pferdes in verschiedenen indoeuropäischen Kulturen wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben, vor allem von deutschen Philologen. Das Omen des weinenden oder stolpernden („stürzenden”) Pferdes ist häufig und kündigt den Tod des gottlosen Kriegers an.
Marcel Meulder stellte fest, daß das völlige Fehlen dieses Motivs in anderen Kulturen, wie beispielsweise in der ungarischen Volkstradition oder bei den Kirgisen, wo es im Gegenteil ein gutes Omen ist, bestätigt, daß es sich um einen rein indoeuropäischen Mythos handelt.
Der Mythos des gottlosen Kriegers findet sich auch in der europäischen Literatur wieder. Bei Jacob Grimm beispielsweise kündigt der Fehltritt des Pferdes ein Unglück an. In der norwegischen Njallsaga, der Saga vom Brand von Njall, widerfährt dies Gunnar, einem gottlosen Krieger.

König Harald Saga
Aber auch in der Saga von König Harald aus der Heimskringla bäumt sich das Pferd von König Harald auf, als dieser England angreifen will. Der König von England äußert lauthals die Hoffnung, daß dies das Ende von Haralds Glück bedeuten möge. Und tatsächlich wird dieser tödlich von einem Pfeil getroffen.
Es gibt noch viele weitere Beispiele, in denen das Motiv des gottlosen Kriegers relevant erscheint: der heidnische Kaiser Julian in seinem Kampf gegen die Parther, Karl der Große, Julius Cäsar.
Nicht jeder Krieger, der gottlos erscheint, ist es auch: Es ist anzumerken, daß römische Historiker besonders geschickt darin waren, die letzten Lebensjahre ihrer politischen Gegner zu „schwärzen“, was den Eindruck erwecken kann, daß der Mythos des gottlosen Kriegers in der lateinischen Kultur sehr präsent ist – obwohl archaische Formen der indoeuropäischen Mythologie im Römischen Reich kaum noch vorhanden waren.
Dieser Beitrag ist nichts weiter als eine kurze Einführung in diesen faszinierenden indoeuropäischen Mythos. Wer mehr über dieses Thema erfahren möchte, sollte sich vor allem der französischsprachigen Literatur der oben genannten Autoren zuwenden.
Eine gewisse Vertrautheit mit dem Mythos des gottlosen Kriegers und dem der drei Sünden des Kriegers sollte es ermöglichen, diese Motive in den archaischen Texten selbst zu entdecken.
Anmerkungen:
[1] Frédéric Blaive und Claude Sterckx: Le mythe Indo-européen du guerrier impie, L’Harmattan, Paris 2014
[2] Georges Dumézil (1898-1986) gelang es dank der vergleichenden Mythologie, einen neuen Weg zu beschreiten und die ideologischen Strukturen aufzudecken, denen die Mythen ihre innere Kohärenz verdanken. Das Ergebnis ist die Entdeckung des trifunktionalen Systems als Hauptideologie im archaischen indoeuropäischen Denken. Dumézil untersuchte hauptsächlich Quellentexte aus dem archaischen Indien, Rom und Skandinavien: Diese Texte sind zugänglich und enthalten sehr alte und gut erhaltene mythologische Schichten.
Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2025/11/21/le-guerrier-impie.html
Beitragsbild: ›Cuchulainn’s Tod‹, Illustration von Stephen Reid
