Hans Friedrich Blunck

(3. September 1888 – 25. April 1961)

Heinrich Stehr war wieder im Lande. Als großspuriger Bauernsohn, der viel, viel klüger war als seine Heimat, war er fortgegangen. Mit den Erdarbeitern, mit den Polen aus dem Osten, kam er wieder. Es war wohl gegen seinen Willen gewesen, daß er gerade in die Nähe seines Heimatortes kam, aber die Marsch*, die neblige stürmische Marsch, hatte Heinrich Stehr wiedersehen müssen.

Nach dem Westwind hatte er draußen im Lande gedürstet, nach dem weichen Westwind und den endlosen zerrissenen Regenwolken, die der Sturm über das Land jagen konnte, als hätte er fern die Dünung aus dem Meer gebrochen und jagte und peitschte sie noch schäumend und wogend über den Himmel. Nach dem „Lenneken deep“ (tiefes Land) hatte er gehungert, mehr noch als nach dem Brot, das die Trupps von Galizien, die in den Buhnen arbeiteten, wenig genug begehrten.

Als Heinrich Stehr vor zehn Jahren das Land verließ, hatte sein Vater einen kleinen Hof hinter dem Seedeich. Den hatte er sich in einem Leben von fünfzig Jahren harter Arbeit langsam, zusammengekauft und zusammengerackert. Aber sein Junge war mit den Söhnen der großen Bauern aufgewachsen, und sie wollten mühelos Geld verdienen. Die legten Schulden auf den Hof und spielten in der Stadt mit den steigenden und fallenden Werten von Unternehmen, die sie nicht kannten.

Einige wurden reich dabei, viele bettelarm. Aber das Beispiel der wenigen lockte, und Kai Stehrs Sohn wollte ohne Arbeit reich werden.

Da jagte ihn der Alte aus dem Hause.

Und Heinrich Stehr ging, hoch erhobenen Hauptes, und ließ Vater und Braut zurück. Er wußte ja, wie man reich wurde und wie man da draußen das Geld in die vollen Beutel tat. Und als er dann vergeblich klopfte und hungrig wurde, da wühlte und nagte der Trotz. Der beugte ihm nicht das Haupt, aber er grub harte, häßliche Falten in des straffe Gesicht, Falten, um die seine Braut geweint und sein Vater ihm den Rücken gekehrt hätte.

Heinrich Stehr trieb sich zehn Jahre in der Welt umher und kämpfte mit dem Schicksal; und wollte er auch mitunter müde werden, immer wieder hob er trotzig den Kopf und stand gegen das Leben.

Aber der Marschbauer ist nicht für die Welt da draußen. In Schlesien, wo die Güter so groß sind wie die Wilster Marsch, hatte er gelegen; da hörte er die Werbetrommel um Arbeiter nach dem Nordseeufer. Drei Tage lang hörte er sie, und drei Nächte kämpfte er mit seinem Trotz. Dann nahm er das Handgeld.

Heinrich Stehr arbeitete ein halbes Jahr an den Brunsbütteier Deichbauten. Und wenn er an den Buhnen mit der Flut stritt, wurde sein Gesicht weicher und froher, und wenn die Arbeiter vom Osten fluchend und frierend abends in die Hütten krochen, dann ging er im Westwind an der Elbe entlang wie ein Deichgraf, suchte nach Schäden und trank den Geruch von Seetang und Moos, als wollte er seine Lungen und sein Blut wieder an seine Heimat gewöhnen.

Eines Tages ließ ihn der Aufseher rufen. „Sie sind geborener Ditmarscher?“ Heinrich Stehr drehte die Mütze in der Hand.
„Sie wissen ja Bescheid mit den Deichen, das haben wir gemerkt. Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß sie Vorarbeiter geworden sind und mit einer Abteilung der Leute an die Meldorfer Bucht gehen sollen. Ich wünsche ihnen Glück dazu.“

Heinrich Stehr wurde totenbleich und preßte die Mütze in der Hand, als wollte er sie zerdrücken, dann sagt er langsam: „An de Meldorfer Bucht, Herr – dat geit nich, – dat geit nich – ick bin dor to Hus.“ Der Aufseher war ein warmer und ruhiger Mann. „Stehr“, sagte er, „Stehr, mak keen dumm Zug; wir brückt di dor, und Arbeit schändet ni.“

Der Dithmarscher wollte etwas erwidern, aber der Aufseher kam ihm zuvor: „Mensch, Stehr, wie kummst du unter de Polacken?“ fragte er herzlich.

Da dreht sich Heinrich Stehr um. „Loten se mi to freden, dat geiht Se nichts an“.

Und Heinrich Stehr arbeitete an der Meldorfer Bucht, eine Meile vom Hof seines Vaters.

Gewaltige Steinverkleidungen wurden an der Marschböschung angelegt.

Vor dem Sommerdeich, der noch aus der Dänenzeit stammte, schlug die junge preußische Regierung weite Steindämme in die Sandablagerungen hinein und drängte die Flut, die zweimal täglich gegen den Deich schlug, fremde Wege zu nehmen und den Sand, den sie aus dem Meere heraufkrallte, zwischen den Werken als Neuland zu lassen.

Heinrich Stehr schaffte fast über seine Kraft. Aber er glaubte, seinen Weg gefunden zu haben, fühlte, daß mit der Arbeit in ihm etwas wuchs wie ein Recht auf die Heimat, und er grübelte und träumte, auf diesem Neuland dereinst sein Haus zu erbauen. Mochte die Zeit auch noch so ferne liegen, – er wirkte in dem Gedanken, daß dies alles sein sei, was dem Meer abgenommen wurde; er kämpfte mit dem „blanken Hans“ (Nordsee) um jeden Fußbreit Erde und fügte ihn heimlich seinem Hof bei.

Da kam im September die erste große Flut.

Was Menschenhände in einem Sommer gewonnen hatten, das riß sie brausend und lachend wieder fort. Waren die eichenen Pfähle auch noch so fest in das Watt* gerammt und mit Drähten und Pfählen verbunden und verankert, die Flut griff brüllend mit ihren harten gischtigen Händen danach und grub und grub und mühlte zwei Tage lang, bis sie das ohnmächtige Werkzeug den Menschen wieder lachend vor die Füße warf. „Da habt ihr’s, wer ist der Stärkere von uns?“

Da wurde nach der Flut ein Teil der Männer heimgeschickt. An der Meldorfer Bucht wollte das Meer nicht setzen. Als Heinrich Stehr hörte, daß er zurück sollte, regte es sich noch einmal mächtig in ihm.

Er war noch nicht bei seinem väterlichen Hof vorbeigekommen, ln zähem Trotz hatte er von frühmorgens bis spätabends mit dem Meer gekämpft und seinen Unfrieden zu betäuben versucht. Jetzt, wo er zurück sollte, wo sein junger heimlicher Hof wieder draußen im Watt unter den Fluten lag, gab er langsam nach und nahm sich vor, noch einmal am Deich entlangzugehen, weiter als sonst, dahin, wo er durch die Nebel frühmorgens, wenn er zur Arbeitsstätte ging, die Eschenkronen über dem Deich hatte ragen sehen.

Als er an diesem Tag vom Werkplatz kam, ging er durch den naßkalten September nach Norden. Es war gerade ein solcher Abend wie damals, als er fortgegangen war. Der salzige Wind drängte die feuchten Kleider an den Leib und fuhr ihm brausend um den Kopf, als wenn er fragen wollte: „Heinrich Stehr, besinne dich, du hast viel vor, man könnte dir begegnen und über dich spotten“.

Aber er lachte gegen der Wind und dachte: „Ach, die kennen mich längst nicht mehr.“

Da brach langsam aus den grauen Abendwolken im Westen ein Licht. Brandige Risse sprangen in die grauen Nebeldeiche, und in gleißendem Spalt strahlte fern die untergehende Sonne. Wie ein Tor aus rotem, glitzerndem Gold in einem unendlichen Zauberberg. Und langsam quoll eine starke brennende Flut aus der Höhle, rann über die Rimmung** und überhellte noch einmal das Abendmeer, daß es wie in roter Schuppenbrünne erglühte.

Heinrich Stehr stand auf dem Deich, sah in den Abendhimmel hinein und krampfte seine Hände zusammen.

So war seine Heimat, sein Meer. Jeden Abend, den er hier gearbeitet hatte, waren sie ihm schöner und herrlicher erschienen. Und dann stieg es bitter in ihm auf: Warum durften die Leute, die nichts darum gaben, die nie die öden Strecken des Binnenlandes gesehen hatten, diese Schönheit empfangen, jeden einzelnen Tag wieder? War es nicht ein Unrecht von Gott, denen die Heimat zu geben, die sie nicht mit allen Sinnen zu fassen wußten? Ihm schien es, als 
wenn die Sonne heute für ihn alleine leuchtete, als wenn er sich nach den zehn Jahren da draußen ein Recht auf sein Land erworben hätte.

Die Eschen standen eng am Seedeich. Heinrich Stehr stieg von der Höhe hinunter und ging im dämmernden Schatten des Abends näher und näher. Jetzt konnte er das Gehöft sehen. Alles war beim alten. Nur am Giebel glänzte das Dach verräterisch wie von frischer Strohbekleidung. Das hat doch nicht gebrannt? Ach nein, das war vor zehn Jahren schon nicht ganz in Ordnung gewesen.

Natürlich hatte Vater gewartet und gewartet mit der Ausbesserung, bis er das halbe Dach bekleiden mußte. Wer sollte ihm denn schließlich helfen! Der Knecht damals konnte kein Reetbündel ordentlich legen.

Heinrich Stehr trat noch einmal auf den Deich. Fern auf der dämmernden See ruhte der Abend. Aber es war keine goldsprühende Höhle mehr. Ein roter Streif lag wie ein unendliches Schwert zwischen Himmel und Meer. Über die Wasser, unter denen sein Hof ruhte, schien der Himmel seinen richtenden Arm zu recken, als wollte er ihm, Heinrich Stehr, seine Sünden und ihre Sühne zeigen.

Über den harten, ungläubigen Mann kam es wie eine große Gottesfurcht, und er wurde so weich und demütig vor dem Himmel und dem starken Meer, daß ihm plötzlich sein Wille und die ganze Arbeit des Sommers, die er um seinen Hof geleistet hatte, wie ein winziger Trotz 
gegen unendliche Gewalten erschien. Dann raffte er sich auf und ging zum Gehöft seines Vaters. An einem Fenster war Licht. Er schlich sich leise, fast ängstlich hin und sah hinein. Da saß Marie, seine Braut, und prünte (nähte) an irgendeiner alten Jacke.

Ob sie wohl zum Vater gezogen war und ihm den Haushalt führte? Wer sollte es sonst auch tun! – Also die hatte nicht geheiratet, wie er sich immer gesagt hatte. Die hatte wohl gedacht, daß er wiederkommen würde!

Heinrich Stehr wollte umkehren, aber ein wunderliches Gefühl zwang ihn, noch einmal zurückzugehen und ins Fenster zu sehen. Marie sah noch so aus wie vor zehn Jahren, kaum etwas älter. Die hatte es auch gut gehabt. Wenn man nach der Pfeife anderer tanzen kann!

Gemälde von Max Koch

Wo wohl sein Vater war? Der sollte ja ganz weiß geworden sein, hatte er gehört. Zehn Jahre ist auch eine lange Zeit, das wußte Heinrich Stehr.

Marie schien unruhig zu werden. Er wollte umkehren. Da kam ein Lichtschein aus dem Stall über den Hof, 
und ein alter grauhaariger Mann mit einer Radspeiche in der Faust, trat ihm in den Weg.

„He, du, wat wist hier?“

Dann hob er die Laterne und leuchtete dem anderen ins Gesicht.

„Jung!“

„Vadder!“

Die Laterne sank in der zitternde Hand herab.

Einen Augenblick standen sich beide stumm gegenüber. Heinrich Stehr kämpfte um seinen Trotz, – nur jetzt nicht nachgeben – um Gottes willen jetzt nicht – und dann merkte er doch, wie sich langsam in seinem Innern etwas löste, und es war ihm, als wären sie alle die Alten, der Vater, Marie, der Deich. der Westwind, und als könnten nimmer zehn Jahren zwischen ihnen liegen.

„Is man good, dat du wedder dor bis!‘

Der Alte sagte es langsam und ging an die Tür.

„Kumm, Marie un ich, wi hat: lang luert“.

„Jo, Vadder!“

 
Quelle: Deutsche Warte, Zeitschrift vür deutsche Kultur, Geschichte und Politik, Ausgabe Nr. 37 – 2022/2

 

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