João Martins

erinnert an den berühmten italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramscis vergessenen Bruder, Mario Gramsci, einen treuen Soldaten, dessen abenteuerliches Leben Loyalität, Mut und das tragische Schicksal der europäischen Bürgerkriege verkörperte.

 

Über ideologische Neigungen hinaus bewundern wir Männer und Frauen, die ihr Leben einem Ideal gewidmet haben. Ohne solche Leben, Erfahrungen und entschlossenen Akte des Willens oder des Mutes würde jede Weltanschauung jeglicher Menschlichkeit beraubt sein – jener Gesichter, Gefühle und Emotionen, die oft ein so erstaunliches Maß an Intensität erreichen, daß sie in die tragischsten menschlichen Dramen münden. Bürgerkriege stellen den Höhepunkt solcher Dramen dar, denn keine Familie bleibt davon verschont, ihre Angehörigen auf gegnerischen Seiten der Barrikaden zu sehen.

Kürzlich stieß ich auf meinen Streifzügen durch die moderne europäische Geschichte auf eine höchst merkwürdige Begebenheit, die mich tief bewegte – ein Ereignis, das sich in Italien in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zutrug, genauer gesagt, während dessen, was der deutsche Historiker Ernst Nolte den Zweiten Europäischen Bürgerkrieg nannte.

Ich möchte mit Ihnen das Schicksal eines Mannes teilen, der einen wohlbekannten Nachnamen trug, dessen Andenken die politischen Umstände jedoch dem schattenhaften Vergessen der Geschichte überließen. Ich nutze daher diese Gelegenheit, um die Erinnerung an ein Leben – eine damnatio memoriae – aus dem Dunkel der Zeit zu retten und, wenn auch nur kurz und damit ungerecht, seine außergewöhnliche Biografie zu skizzieren.

Antonio Gramsci, der bekannte marxistische Denker und Theoretiker der kulturellen Hegemonie, war ein Gefangener des faschistischen Regimes, das ihm dennoch erlaubte, seine ideologische Arbeit im Gefängnis fortzusetzen. Er starb vor siebzig Jahren.

Man mag Mitleid mit ihm empfinden oder sein kompliziertes Denken studieren; doch kein Biograf könnte ihm das zuschreiben, was ein menschliches Leben reicher und schöner macht – den Abenteuergeist, die Selbstverleugnung, jenen rebellischen Drang, gegen den Strom zu schwimmen, oder schlicht die Rolle des „schwarzen Schafs“ der Familie.

Letzterer Ausdruck paßt hier besonders gut, da er an die schwarzen Hemden der faschistischen Truppen erinnert – genau die Hemden, die Antonios Bruder Mario Gramsci stolz trug und in denen er zu leben und zu sterben wußte.

Geboren 1893 in eine bescheidene Familie, als Jüngster von sieben Kindern, führte Mario Gramsci kein langes Leben, doch seine Tage waren erfüllt von tiefem Empfinden und leidenschaftlichem Patriotismus – ein Leben so intensiv, daß es dem italienischen ›Futuristischen Manifest‹ entnommen sein könnte, jener berühmten Kampfschrift Marinettis gegen Zaghaftigkeit und Konformismus, die „Liebe zur Gefahr, die Praxis der Energie und Kühnheit (…) Mut, Wagemut, Rebellion“ verherrlichte.

Tommaso Marinetti, Bildquelle: Wikipedia

Im verhängnisvollen Jahr 1914 begann der Erste Weltkrieg – ein Konflikt, der die imperialistischen Illusionen des 19. Jahrhunderts blutig beendete. Mit 22 Jahren unterstützte Mario Gramsci begeistert Italiens Kriegseintritt 1915 und meldete sich freiwillig an die Front, wo er als Leutnant kämpfte.

Mario Gramsci, Bildquelle: Wikipedia

Nach Kriegsende stürzte Italien in eine tiefe politische und soziale Krise[1]. Die sogenannte „verstümmelte Siegesbeute“ und die wachsende Welle kommunistischer Agitation führten ihn dazu, sich den neu gegründeten ›Fasci di Combattimento‹ des ehemaligen sozialistischen Agitators und Kriegsveteranen Benito Mussolini anzuschließen.

Bald stieg er zum föderalen Sekretär des ›Fascio von Varese‹ auf, und weder die wiederholten Bitten Antonios und der restlichen Familie (Mario war der einzige Faschist unter ihnen) noch die brutalen Prügel, die er von den kommunistischen Genossen seines Bruders erhielt und die ihn ins Krankenhaus brachten, konnten ihn umstimmen.

Antonio brach 1921 den Kontakt zu ihm ab. Dennoch versuchte Mario im August 1927 auf Wunsch ihrer Mutter, sich mit Antonio – der zu diesem Zeitpunkt in San Vittore inhaftiert war – zu versöhnen, um ihm bei seinen rechtlichen Problemen zu helfen.

1935 erklärte Italien dem Königreich Abessinien den Krieg und marschierte ein. Erneut meldete sich Mario Gramsci freiwillig, um sich dem italienischen Expeditionskorps anzuschließen, das das Äthiopien Kaiser Haile Selassies erobern sollte – ein erbitterter neunmonatiger Feldzug, der Mussolini erlaubte, vom ›Palazzo Venezia‹ aus die Geburt des italienischen Reiches zu verkünden.

1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, kehrte Mario, der das Leben als permanenten Kampf betrachtete, getrieben von seinem Kampfgeist und mittlerweile 47 Jahre alt, nach Afrika zurück, um sich diesmal den britischen Streitkräften zu stellen, die Italiens Besitzungen in Libyen und dem damaligen Italienisch-Ostafrika bedrohten.

Mit dem Fortschreiten des Krieges verloren die Achsenmächte die Initiative, und das Kriegsglück wandte sich entschieden zugunsten der Alliierten. 1943 folgte Niederlage auf Niederlage; Teile des italienischen Festlands wurden von anglo-amerikanischen Truppen besetzt. Unzufriedenheit breitete sich im ›Großen Faschistischen Rat‹ aus, und Mussolini wurde von König Viktor Emanuel III. abgesetzt und verhaftet. Kurz darauf, am 8. September, erfolgte Badoglios Verrat: Italien kapitulierte vor den Alliierten und erklärte dem Dritten Reich den Krieg.

Badoglio erklärt im Namen der neuen (teil-)italienischen Regierung von alliierten Gnaden am 13. Oktober 1943 Deutschland den Krieg. Neben ihm General Maxwell Taylor, der VS-amerikanische Vertreter der alliierten Invasoren in Italien. Bildquelle: Metapedia

Mitten im Chaos blieb Mario standhaft, sein Glaube an das faschistische Credo unerschütterlich. Mussolini, von einem SS-Kommando befreit, verkündete am 23. September die Gründung der Italienischen Sozialrepublik – der kurzlebigen, doch berühmt-berüchtigten Republik von Salò.

Anstatt die Invasoren mit weißen Fahnen – oder in manchen Fällen roten oder gar amerikanischen – zu begrüßen, folgte Mario Gramsci dem faschistischen Aufruf, den Kampf fortzusetzen, und trat den Streitkräften der RSI bei.

Von den Partisanen gefangen genommen, wurde der faschistische Gramsci den Briten übergeben und in ein Konzentrationslager im fernen Australien deportiert. Die harten Bedingungen, denen er ausgesetzt war – eine Form unmenschlicher Behandlung, die besonders für unbelehrbare faschistische Soldaten reserviert war – zerstörten allmählich seine Gesundheit.

Nach seiner Entlassung Ende 1945 kehrte er nach Italien zurück, nur um zu sterben, da die im Lager erlittenen Verletzungen irreversibel waren. Er wurde in ein schlecht ausgestattetes Krankenhaus eingeliefert, wo er im Alter von 52 Jahren im Beisein seiner Frau Anna und seiner Kinder Gianfranco und Cesarina verstarb.

Ironischerweise sei angemerkt, daß Antonio Gramsci, als er im Gefängnis an einer chronischen Krankheit, die er in seiner Jugend erlitten hatte, erkrankte, freigelassen wurde und – als freier Mann – auf Kosten des faschistischen Regimes in einer Privatklinik behandelt werden konnte.

Marios Name wurde – im Gegensatz zu dem seines Bruders Antonio – niemals einer Straße verliehen, und er ist in den ungerechten Seiten der Geschichte fast vollständig vergessen worden. Doch Mario – der Gramsci im schwarzen Hemd – bleibt zweifellos das Sinnbild des Abenteurers: ein Beispiel für Mut und Loyalität, die Verherrlichung des politischen Soldaten. Vielleicht bringen die Worte von John M. Cammett die emotionale Fülle von Mario Gramscis Leben am besten auf den Punkt:

Er war Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, Freiwilliger im Äthiopienkrieg und wieder im Zweiten Weltkrieg (im Alter von 47 Jahren!). Und zwischen all diesen Katastrophen war er ein begeisterter Freiwilliger genau der Ideologie, die ihn schließlich zu Fall gebracht hat! Was für ein Leben![2]

 

Anmerkungen

[1] Obwohl Italien eine siegreiche Nation war, wurden die Verträge, die ihm zusätzliche Gebiete und wirtschaftliche Vorteile verschafft hätten, nicht vollständig umgesetzt.

[2] John M. Cammett, ›Antonio’s „other“ brother: A Note on Mario Gramsci‹, International Gramsci Society Newsletter 7 (Mai 1997) [http://www.internationalgramscisociety.org/igsn/articles/a07_16.shtml].

Quelle: https://www.arktosjournal.com/p/the-other-gramsci

Die Flucht nach vorn. Gramscis metapolitische Wandlung