Rede: ›Zur europäischen Identität‹ von Robert Steuckers auf der ›Fête de l’Identité‹ in Santes/Lille am 28. Juni 2003

 

 

Meine Damen und Herren, liebe Freunde und Kameraden,

Europa ist vor allem eine Geschichte. Diese Geschichte macht seine Identität aus. Sie ist die Summe der Handlungen, die vollbracht wurden. Nichts anderes. Und schon gar nicht ein Code oder eine Abstraktion, die sich hinter dieser Geschichte abzeichnet und „erhabener“ wäre als die Realität. 

Die Geschichte, die unsere Identität begründet, ist eine sehr lange Geschichte, deren Ursprünge der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sind, da ihr das ursprüngliche Epos unserer Völker vorenthalten wird. Aber die Dinge ändern sich zum Besseren. In den letzten zehn Jahren berichteten populärwissenschaftliche Zeitschriften immer häufiger über den großen Siegeszug der proto-iranischen Völker und später der Skythen nach Zentralasien. 

Die Archäologen Mallory und Mair haben gerade das bewegende Abenteuer des Volkes nachgezeichnet, das uns die ›Tarim-Mumien‹ im chinesischen Sin-Kang [Xinjiang] hinterlassen hat, fast vollständig erhaltene Leichen, die uns wie Brüder ähneln. Von Mitteleuropa aus drangen Wellen europäischer Reiter mindestens bis in die Ebenen von Sin-Chiang [Xinjiang], wenn nicht sogar bis zum Pazifik vor. Jahrhundertelang bestanden in diesen damals sehr gastfreundlichen und fruchtbaren Regionen europäische Königreiche. Eine zugleich europäische, indische und buddhistische Zivilisation hinterließ im Herzen des asiatischen Kontinents großartige Spuren.

Die Verbindung des Göttlichen mit dem Sonnen- und Sternenlicht

Die Wurzeln Europas finden sich in ihren ältesten Spuren vor allem in der iranischen oder avestischen Tradition, deren geistige Welt Paul Du Breuil und Henry Corbin erforscht haben. Paul Du Breuil zeichnet akribisch die sehr alte, kriegerische Religion dieses abenteuerlustigen Zweigs des europäischen Volkes nach, der das Pferd domestiziert und den Wagen und den Kampfwagen erfunden hat.

Aruna (Bildmitte) als Wagenlenker des Sonnengottes Surya, Bildquelle: Wikipedia

Diese Religion ist eine Religion des Lichts und der Sonne, mit dem Gott Aruna (der Morgenröte) als Lenker des Sonnenwagens. Garuda, der Bruder von Aruna, ist in dieser Mythologie der Herr des Himmels und der König der Vögel. Er verkörpert die männliche Kraft und wird oft in Form eines Vogels mit Adlerkopf dargestellt, weiß oder golden, manchmal mit roten Flügeln.

Paul Du Breuil stellt fest, daß „die eurasische Religionssymbolik schon sehr früh die Idee des Göttlichen mit dem Licht, sei es Sonnenlicht oder Sternenlicht, und mit einem fabelhaften, starken und hochfliegenden Vogel verband“. Diese dreifache Symbolik von Sonne, Himmel und Adler findet sich auch beim Oberhaupt und Vater der Götter im römischen Pantheon, Jupiter, wieder. Und die Idee des Reiches bewahrt in den europäischen Traditionen das Symbol des Adlers. Vom avestischen Iran bis heute ist uns diese unsterbliche Symbolik erhalten geblieben. Ihre Beständigkeit beweist, daß ihre unerschütterliche Präsenz sie zu einem Fundament unserer Identität macht.

Jupiter, Marmorstatue (1. Jrh. n.d.Z.), Bildquelle: Metapedia

Die avestische Welt, Ergebnis einer großen europäischen Völkerwanderung in der Frühgeschichte, hat uns die Grundbegriffe unserer tiefsten Identität hinterlassen, die trotz aller Veränderungen, trotz der Bekehrungen zum Christentum oder zum Islam, trotz der verheerenden Invasionen der Hunnen, Mongolen oder Türken, trotz aller Arten von Despotismus, die die Europäer im Laufe einer unruhigen Geschichte in die Irre geführt haben, immer wieder zum Vorschein kommen. 

Arthur de Gobineau hat die Vorrangstellung der iranischen Welt, ihre praktische Überlegenheit gegenüber einem allzu diskursiven und dialektischen Hellenismus aufgezeigt. In seiner Nachfolge hat Henry Corbin durch die Erforschung der Texte, die uns der mittelalterliche persische Dichter Sohrawardi hinterlassen hat, einen Großteil unserer tiefen spirituellen Identität, unserer ursprünglichen Art, die Welt zu sehen und zu fühlen, wiederhergestellt: Für Sohrawardi, mittelalterlicher Erbe der unvordenklichen avestischen Vergangenheit, ist der  Geist der Schöpfer aller Formen, das immaterielle Licht ist die erste Manifestation des Urwesens, das ebenfalls Licht ist, strahlendes Licht, Synthese des uranischen Pantheons der Tagesgötter (vgl. Dumézil, Haudry).

Aserbaidschanische Darstellung Suhrawardis, Bildquelle: Wikipedia

In dieser euro-avestischen Spiritualität der Frühgeschichte, in dieser Zeit, in der sich wirklich alles offenbarte, hat die Sonne Vorrang; edle Seelen und charismatische Anführer haben eine Aura, die die Perser Xvarnah (Licht der Herrlichkeit) nannten und die in Form eines Heiligenscheins aus Sonnenstrahlen dargestellt wird.

Dieser Lichtkult fand in der mittelalterlichen europäischen Tradition seinen Niederschlag in der allgegenwärtigen Figur des Erzengels Michael, dessen Kult iranischen und zoroastrischen Ursprungs ist. Und Überraschung: Der Kult des Heiligen Michael wird in wenigen Tagen in Brüssel wieder aufleben, beim Fest des Ommegang zu Ehren der kaiserlichen Standarte Karls V. Der Heilige Michael  wird nach einer sehr langen Finsternis wieder auf die Straßen zurückkehren und diesem in Europa einzigartigen kaiserlichen Fest die unverzichtbare Spiritualität der Erzengel verleihen. Ein Zeichen der Zeit? Wir wollen es hoffen!

Michael am Eingang des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig

Die Kraft der Erzengel und Michaels

Für Hans Werner Schroeder verleihen die Erzengel, ein Erbe der iranischen Tradition im mittelalterlichen Europa, den gerechten und rechtschaffenen Menschen ursprüngliche kosmische Kräfte und schützen die Völker vor dem Verfall ihrer Lebenskräfte. Der Erzengel mit seinen weit ausgebreiteten, schützenden Flügeln, der in der avestischen und mittelalterlich-christlichen Mythologie vorkommt, weist den Weg, gibt Zeichen, lädt ein, ihm auf seinem immer aufwärts gerichteten Weg oder Flug zum Licht der Lichter zu folgen. 

Erzengel Michael, Gemälde von Angelo Bronzino, Replikat

Die Kraft der Erzengel und Michaels, schreibt Emil Bock, erzeugt eine permanente Dynamik, eine ständige Spannung zum Licht, zum Erhabenen, zum Über-sich-Hinauswachsen. Sie gibt sich nie mit dem zufrieden, was bereits da ist, was erreicht, geworden, vollendet und abgeschlossen ist, sondern spornt dazu an, sich in das Werden zu stürzen, innovativ zu sein, in allen Bereichen voranzukommen, neue Formen zu schaffen und unermüdlich für noch nicht gewonnene Ziele zu kämpfen. 

Im Kult des Heiligen Michael bietet der Erzengel den Menschen, die ihm folgen, nichts, weder materielle Vorteile noch moralische Belohnungen. Der Erzengel ist kein Tröster. Er ist nicht da, um uns Ärger und Schwierigkeiten zu ersparen. Er mag den Komfort der Menschen nicht, denn er weiß, daß man mit Menschen, die in Überfluß leben, nichts Großes und Leuchtendes erreichen kann.

Die älteste Religion der europäischen Völker ist daher diese Religion des Lichts, des Ruhmes, der Dynamik und der selbstüberwindenden Anstrengung. Sie entstand unter den europäischen Stämmen, die am tiefsten in das Herz des asiatischen Kontinents vorgedrungen waren, die die Küsten des Indischen Ozeans erreicht und sich in Indien niedergelassen hatten. 

Die tiefste Identität Europas ist daher dieser Weg, der von der Mündung der Donau ins Schwarze Meer zum Kaukasus und über den Kaukasus hinaus zu den iranischen Hochebenen und zum Indus-Tal oder im Norden durch Zentralasien, Baktrien, zum Pamir und zu den Senken des Takla Makan im heutigen chinesischen Xinjiang führt.

Eine ununterbrochene Kette von drei soliden Imperien

Das europäische Imperiumsideal hat sich in unserer Antike auf dieser Projektionslinie verankert: Zwischen 2000 und 1500 v.d.Z. entspricht die europäische Expansion derjenigen der halb-seßhaften Zivilisationen von Andronovo und Qarasouk. Zu dieser Zeit verbreiteten sich die europäischen Sprachen im Iran bis an die Küsten des Indischen Ozeans.

Tocharische „Gläubige“ mit Langschwertern. Auffallend helle Haare- Haut-und-Augen-Merkmale sowie hoher Wuchs

Cimmerier, Saken, Skythen, Tokharer, Wusuaner und Yuezhi folgten einander auf der sich ständig verändernden Bühne der großen zentralasiatischen Ebene. Zwischen 300 und 400 n.d.Z. existierten zwischen dem Atlantik und Nordindien drei Reiche nebeneinander: Römisches Reich, das Sassanidenreich und das Gupta-Reich in Indien. Das Gupta-Reich wurde von den europäischen Yuezhi gegründet, die ihr Gebiet ›Kusana‹ nannten und ursprünglich Vasallen der Sassaniden waren.

Die Gupta vereinigten die Stämme der Kusana und die Tokharer aus dem Tarim. Zu diesem historischen Zeitpunkt hätte eine ununterbrochene Kette von drei starken Reichen mit gut ausgebildeten Armeen dem Druck der Hunnen und Mongolen standhalten und sich sogar zu einem Block von Schottland bis zum Gangesdelta zusammenschließen können.

Aber das Schicksal wollte es anders, zum großen Unglück aller Völker: Rom wurde durch das Christentum und interne Streitigkeiten untergraben; das Reich spaltete sich in zwei Teile, dann in vier (die Tetrarchie) und brach schließlich zusammen. Die Sassaniden erlebten eine Zeit der Ruhe, verhandelten mit dem oströmischen Kaiser Justinian und machten sich auf zur Eroberung der arabischen Halbinsel, bevor sie unter den Angriffen des siegreichen Islam unterlagen. Das Gupta-Reich brach unter den Schlägen der Südlichen Hunnen zusammen.

Das Ende der Antike bedeutet das Ende der Reiche, die direkt und ausschließlich von Werten europäischer Prägung bestimmt waren, d. h. von uranischen, archangelischen und michaelischen, ja sogar mazdeistischen oder mithraischen Werten. Die Hunnen, Mongolen und Türken in Zentralasien ähneln sich und vertreiben die Europäer, massakrieren oder unterwerfen sie und verwandeln sie in kleine Restvölker, die ihre Wurzeln und Werte vergessen haben. Im Süden stürzen arabische Stämme, bewaffnet mit der islamischen Ideologie, Byzanz und Persien und dringen ihrerseits nach Zentralasien vor.

Die Invasion der Hunnen führt zu unbeschreiblichem Chaos

Die europäische Identität kann sich nur behaupten, wenn sie die Kontrolle über die großen Verkehrswege behält, die das Mittelmeer oder die Ostsee mit China und Indien verbinden. Die dynamische europäische Identität behauptet sich oder verschwindet in einem bestimmten Raum; sie verfällt und verkümmert, wenn dieser Raum nicht mehr kontrolliert oder zugänglich ist. Dieser Raum ist Zentralasien.

Am Ende der Antike verdrängten die mongolischen Ruanruan die Xianbei, die wiederum die türkischen Stammesfürsten an den Rändern der chinesischen Welt verdrängten, die wiederum die Hunnen aus Kasachstan verdrängten, die über die europäischen Alanen westlich des Kaspischen Meeres hinwegfegten, deren Überreste auf die Goten stießen, die die Grenze des sterbenden Römischen Reiches überschritten und den europäischen Subkontinent, die Wiege unserer Völker, in ein unbeschreibliches Chaos stürzten. Schließlich wurden die Hunnen 451 in der Champagne durch das Bündnis zwischen Römern und Germanen aufgehalten.

Das Schicksal Europas wurde also in Zentralasien entschieden. Der Verlust der Kontrolle über dieses riesige Gebiet führte zum Untergang Europas: damals wie heute. Die Feinde Europas wissen das: Es ist also kein Zufall, daß Zbigniew Brzezinski die türkische/türkischsprachige Karte gegen Rußland, Indien, den Iran und Europa in dem von ihm so genannten „eurasischen Balkan“ ausspielen will. 

Was ich Ihnen gerade über die Frühgeschichte östlich der Wolga und des Kaspischen Meeres erzählt habe, ist nicht der Versuch eines Pedanten, mit seinem Wissen zu prahlen, sondern ein Hinweis darauf, daß die Dynamik, die unsere entferntesten Vorfahren in diesen Regionen der Welt in Gang gesetzt haben, und die Dynamik, die zunächst langsam, dann brutal von den Hunnen und den turkmongolischen Völkern am Ende der Antike in Gang gesetzt wurde, ist nach wie vor aktuell und wird heute von den diplomatischen und militärischen Führungsstäben der USA mit größter Aufmerksamkeit beobachtet und untersucht.

Tatsächlich ist ein nicht unerheblicher Teil des amerikanischen Erfolgs in Afghanistan, Mesopotamien, Zentralasien und den muslimischen und turksprachigen Republiken der ehemaligen UdSSR auf eine gute Kenntnis der Dynamiken zurückzuführen, die in dieser zentralen Region des eurasischen Kontinents wirken. Enzyklopädien, historische Atlanten, Geschichtsarbeiten und populärwissenschaftliche Werke sowie Fernsehsendungen häufen sich, um sie in allen Einzelheiten zu erläutern.

Kontinentaleuropa, der französische, deutsche und andere Sprachräume hinken hinterher: Niemand, selbst in hohen Führungspositionen, kennt diese Dynamiken. Im sich abzeichnenden Informationskrieg, dessen erste Runde wir verloren haben, wird die allgemeine Kenntnis dieser Dynamiken von entscheidender Bedeutung sein: Die Dinge schreiten voran, langsam, aber sicher, denn populäre Zeitschriften wie Archeologia, Grands Reportages, Géo, National Geographic (französische Ausgabe) beginnen nun, uns systematisch über diese Themen zu informieren. 

Das Gold der Skythen, die blühenden Städte der Serinde und des antiken Baktrien, die Seidenstraße, die Reisen von Marco Polo, die Gelbe Expedition von Citroën sind Themen, mit denen sich unsere Zeitgenossen beschäftigen können. François-Bernard Huyghe, Spezialist für ›kognitive Kriegsführung‹ im digitalen Zeitalter und eine der führenden Persönlichkeiten des strategischen Denkens in Frankreich, hat uns ein grundlegendes Werk über Zentralasien hinterlassen. In der Schweiz hat uns Professor Jacques Bertin 1997 einen Atlas historique universel (Universeller Geschichtsatlas) vorgelegt, in dem alles, was ich Ihnen sage, durch übersichtliche und didaktische Karten verdeutlicht wird.

Eine optimale Organisation des Territoriums

Das strategische Ziel dieser Popularisierung, die die breite Öffentlichkeit für die wichtigsten Themen der globalen Geostrategie sensibilisieren soll, ist es, der von Zbigniew Brzezinski empfohlenen Strategie zuvorzukommen, deren Endziel es ist, den Kernraum Zentralasiens der Kontrolle aller peripheren Mächte zu entziehen, vor allem Rußland und Europa, aber auch Indien und Iran.

Brzezinski hat sich nicht gescheut zu sagen, daß die Amerikaner das Ziel hätten, die Mongolen nachzuahmen: eine wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft zu festigen, ohne das Gebiet zu verwalten oder zu regieren, also ohne es wie die Römer und Parther richtig zu erschließen.

Amerika hat die unverantwortliche Hegemonie erfunden, während die drei großen nebeneinander bestehenden Reiche der Römer, Parther und Gupta eine optimale Organisation des Territoriums und eine endgültige Konsolidierung anstrebten, deren Spuren noch heute selbst in den entlegensten Provinzen des Römischen Reiches zu sehen sind: Der Hadrianswall, die Thermen von Bath, der Grundriß der Städte Timgad und Lambèze in Nordafrika sind archäologische Zeugnisse des Willens, das Territorium dauerhaft zu prägen, Völker und Stämme auf ein hohes zivilisatorisches Niveau zu heben, sei es in städtischer oder landwirtschaftlicher Form, aber immer seßhaft.

Denn auch das ist ein wesentlicher Bestandteil der Identität Europas. Der Wille, eine fruchtbare und dauerhafte Pax zu organisieren und zu sichern, bleibt das imperiale Modell Europas, ein Modell, das das genaue Gegenteil dessen ist, was die Amerikaner heute durch Brzezinski vertreten.

Pont du Gard, Bildquelle: Wikipedia

Nichts dergleichen findet sich bei den Mongolen, den Vorbildern der heutigen Amerikaner. In den von ihnen unterworfenen Gebieten gibt es keine Spuren architektonischer Meisterwerke wie der Pont du Gard. Keine Spuren einer paradigmatischen Stadtplanung. Keine Spuren von Straßen. Die nomadische Dynamik der Hunnen, Mongolen und Türken führte zu keiner kohärenten territorialen Ordnung, auch wenn sie auf eine universelle Herrschaft abzielte. Sie bot keinen nomos der Erde.

Angesichts dieser Abwesenheit römischer oder parthischer Organisation zeigt sich Brzezinski bewundernd und schreibt: „Nur das außergewöhnliche mongolische Reich kommt unserer Definition von Weltmacht nahe“. Eine Macht ohne Ergebnisse auf organisatorischer Ebene. Brzezinski und die amerikanischen Strategen wollen eine antiimperiale Dynamik wiederbeleben, die den Grundsätzen der europäischen Identität zuwiderläuft, und auf diese Weise einen permanenten Brennpunkt für die mehr oder weniger imperialen oder staatlichen Formen schaffen, die in ihrer Nachbarschaft überleben.

Brzezinski schreibt bewundernd: „Das Reich Dschingis Khans konnte das Königreich Polen, Ungarn, das Heilige Römische Reich (?), mehrere russische Fürstentümer, das Kalifat von Bagdad und das chinesische Song-Reich unterwerfen.“ Eine scheinbar naive historische Betrachtung. Aber wer zwischen den Zeilen lesen kann, erkennt, daß die Reaktivierung eines türkischen Pols mit hunnischen oder gengischaniden Bezügen folgenden Zwecken dienen muß:

  • die imperialen Pole in Europa zu vernichten,
  • Deutschland, Erbe des Heiligen Römischen Reiches und des Werks von Prinz Eugen von Savoyen-Carignan, auszuschalten,
  • das russische Reich endgültig schachmatt zu setzen,
  • jede Machtkonzentration in Mesopotamien zu zerstören und
  • China zu überwachen.

Die Kenntnis der Geschichte der Völkerwanderungen in Zentralasien ermöglicht es, der von Brzezinski entwickelten amerikanischen Strategie eine russische, indische und europäische Antwort entgegenzusetzen. Für die Amerikaner geht es darum, Kräfte des Chaos zu aktivieren, Kräfte, deren Geist diametral entgegengesetzt ist demjenigen Roms und des sassanidischen Persiens. Wenn diese Kräfte in einem so entscheidenden Gebiet des eurasischen Kontinents aktiv sind, d. h. auf dem Gebiet, das die britische und amerikanische Geopolitik, theoretisiert von Mackinder und Spykman, als ›Herzland‹, das Herz des großen Kontinents, bezeichnet, erschüttern sie die peripheren Konzentrationen politischer Macht und zwingen ihnen „zerstückelte Grenzen“ auf, um es mit einer von Henry Kissinger – von Richelieu und Vauban übernommenen – Terminologie zu sagen.

Genau das ist das Ziel von Kissinger und Brzezinski: die äußeren territorialen Randgebiete Rußlands, des Iran und Europas zu zerstückeln und Europa den Zugang zum östlichen Mittelmeer zu versperren. Aus diesem Grund wollten die Vereinigten Staaten Chaos auf dem Balkan stiften, indem sie Serbien verteufelten, dessen Territorium auf der Achse Belgrad-Thessaloniki liegt, also auf dem kürzesten Weg zwischen der schiffbaren Donau westlich der ehemaligen Katarakten und der Ägäis im östlichen Mittelmeerraum. Die Dämonisierung Serbiens dient dazu, die Donau in ihrem strategisch wichtigsten Abschnitt zu blockieren und künstlich ein Vakuum inmitten einer Halbinsel zu schaffen, die als Sprungbrett für alle europäischen Operationen in Kleinasien und im Nahen Osten diente. Diese soll eine Vorherrschaftsregion der Vereinigten Staaten bleiben.

Wie hat Europa in der Geschichte auf diese permanente und wiederkehrende Gefahr der Auflösung durch die Hunnen, Türken und Mongolen reagiert, die aus dem Gebiet zwischen dem Baikalsee in Sibirien und der Pazifikküste stammten?

Luttwak: Von einer Studie über den römischen Limes bis zur Besetzung Ungarns durch amerikanische Truppen

Das Römische Reich, das wahrscheinlich besser über die Bevölkerungsbewegungen in Asien informiert war, als die uns erhaltenen Quellen vermuten lassen, hatte verstanden, daß es sich verteidigen, seine Grenzen sichern und an zwei bestimmten Stellen dicht machen mußte: in Pannonien, dem heutigen Ungarn, und in der Dobrudscha südlich des Donaudeltas.

Die Donau ist die zentrale Lebensader Europas. Sie ist der Fluß, der Europa symbolisiert, der es vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer durchquert und eine zentrale Wasserstraße und unverzichtbare Verkehrsverbindung darstellt. Die Kontrolle über diesen Verkehrsweg sichert den Zusammenhalt Europas, schützt ipso facto seine Identität, ist Garant für seine Macht und damit für sein Überleben, ist letztlich seine georäumliche Identität, die tellurische Grundlage für die Entwicklung seines Eroberungs- und Organisationsgeistes, eine Grundlage, ohne die dieser Geist nicht Gestalt annehmen kann, ohne die dieser Geist keinen Raum hat. Es ist daher kein Zufall, daß die USA ihre Truppen nun in Ungarn entlang der Donau stationieren, die dort von Norden nach Süden in Richtung Belgrad fließt.

Der aus Rumänien stammende amerikanische Militärtheoretiker Edward Luttwak hat ein meisterhaftes Werk über die römischen Limes in Mitteleuropa verfaßt [Die große Strategie des Römischen Reiches]. Die Militärs im Pentagon setzen heute die theoretischen Schlußfolgerungen des Historikers in die Praxis um. 

Ebenso veröffentlicht ein pensionierter britischer General nach einer langen Karriere bei der NATO und beim SHAPE in Mons-Casteaux im Hennegau eine Geschichte der Kriege Roms gegen Karthago, in der seltsamerweise die Operationen auf dem Balkan die Bündnisspiele zwischen den damaligen Stammesmächten auf die Beständigkeit der räumlichen Herausforderungen und die Schwierigkeit der Vereinigung dieser Halbinsel aus Flußbecken, Tälern und voneinander isolierten Hochebenen. Rom hetzte die illyrischen Stämme des Balkans gegeneinander auf, um schließlich die gesamte Halbinsel zu beherrschen. 

In der Darstellung von General Nigel Bagnall fällt auf, wie wichtig es war, die zentrale Stammesmacht, deren Territorium in etwa dem heutigen Serbien entsprach, von der Adria und der Ägäis fernzuhalten! Der Militärhistoriker hatte gesprochen, und die Panzer und F-16 der NATO handelten wenige Jahre später! 

Fazit: Das Studium der alten, mittelalterlichen oder zeitgenössischen Geschichte ist eine höchst strategische Tätigkeit und keine bloße Gelehrsamkeit. Die angelsächsischen Großmächte beweisen uns dies jeden Tag, während die Unkenntnis der historischen Dynamiken die Schwäche Europas bestraft.

Kehren wir zur antiken Geschichte zurück. Sobald die Hunnen die Donau in der Dobrudscha auf der Verfolgung der Goten oder in Pannonien überquerten, brach das Römische Reich zusammen. Als sich die Awaren, die aus dem Reich der Ruan Ruan stammten, im 7. Jahrhundert in Europa niederließen, gelang es den germanischen Königreichen, darunter auch denen der „faulen” Merowinger, nicht, unserem Subkontinent eine dauerhafte Ordnung aufzuzwingen. 

Karl der Große konnte die Gefahr vorübergehend abwenden, aber das Heilige Römische Reich setzte sich erst nach dem Sieg von Lechfeld im Jahr 955 durch, als Otto I. die Ungarn besiegte und ihre Anführer dazu zwang, die Pannonische Tiefebene gegen jede zukünftige Invasion aus den Steppen zu verteidigen. 

1945 verteidigten die Ungarn in Budapest heldenhaft die Donau: Die Mädchen und Jungen der Stadt im Alter von 12 bis 18 Jahren verließen ihre Schulen, um Haus für Haus, Mauer für Mauer gegen die ›Rote Armee‹ zu kämpfen. Ich werde mich immer an die Worte einer Ungarin erinnern, die mir vom Tod ihres ältesten Bruders erzählte, der mit 13 Jahren mit einem Gewehr in der Hand in den Trümmern von Budapest getötet wurde. Diese jungen Magyaren wollten das Versprechen einlösen, das ihr König vor tausend Jahren gegeben hatte. Ein bewundernswerter Heroismus, der unseren größten Respekt verdient. Aber ein Heroismus, der vor allem eines beweist: Für starke Völker vergeht die Zeit nicht, die Vergangenheit ist immer gegenwärtig, die Kontinuität wird nie unterbrochen, die Pflichten, die die Geschichte einst auferlegt hat, müssen auch ein Jahrtausend nach dem Versprechen noch erfüllt werden.

Nach dem Aufruf von Urban II. in Clermont-Ferrand im Jahr 1096 konnten die Kreuzritter das Ungarn von König Koloman durchqueren und sich in Richtung byzantinische Anatolien und Palästina begeben, um der türkischen Invasion der Seldschuken entgegenzuwirken; die Seldschuken versperrten den Europäern den Zugang zu den Landwegen nach Indien und China, was die Araber zuvor nie getan hatten. 

Urban II. war sich dieser geopolitischen Herausforderung sehr bewußt. Doch die Bemühungen der Kreuzritter reichten nicht aus, um den Osmanen, den Erben der Seldschuken und Ilchanen, den türkisch-mongolischen Herrschern des besiegten Persiens, den Weg zu versperren. Das Ziel der Osmanen, die sich der Geschichte der hunno-türkischen Völker bewußt waren und von dem Willen beseelt waren, die jahrtausendealte Tradition ihrer Völker im Kampf gegen die Europäer fortzusetzen, war es, die Donau, ihre Mündung und ihr Delta sowie ihren östlichen Lauf östlich der Stromschnellen zwischen der heutigen serbisch-rumänischen Grenze zu erobern. Anschließend wollten sie Budapest einnehmen, Schlüssel zur Pannonischen Tiefebene, und schließlich Wien, die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches, die sie den „Goldenen Apfel“ nannten. Sie marschierten über die Leichen der Serben, Bosnier, Kroaten, Ungarn, Friauler und Kärntner, aber der germanische Block, der sich hinter den ersten Ausläufern der Alpen verschanzt hatte, leistete ihnen Widerstand. 

Es bedurfte eines langen Gegenangriffs, eines dreihundertjährigen Zermürbungskrieges, um die osmanische Gefahr endgültig zu beseitigen. Dieser Kampf der Reconquista, vergleichbar mit der Reconquista in Spanien, begründete auch die politische und militärische Identität Europas. Es ist kein Zufall, daß das Verschwinden der osmanischen Gefahr eine Ära der Bürgerkriege zwischen Europäern einläutete, angefangen bei den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen bis hin zu den beiden Weltkriegen, deren demografische Tragödie für Europa noch nicht vollständig abzusehen ist.

Die gefürchtete Waffe der Janitscharen

Zu Beginn dieses langen Kampfes der Donauregion gegen die ständigen Angriffe der Osmanen schien das demografische Gleichgewicht zugunsten Europas zu sprechen. Das Verhältnis betrug 67 Millionen Europäer gegenüber etwa zwölf Millionen türkischen Muslimen. Aber die Türkei hatte eine persisch-europäische Tradition von großer Bedeutung übernommen und zu ihrer eigenen gemacht: den Begriff des bewaffneten Jugenddienstes, die fotowwat, deren türkischer Ausdruck der Orden der Janitscharen ist. Für Paul Du Breuil geht der Ursprung des Rittertums und der Militärorden auf die Eroberung Zentralasiens und des iranischen Hochlands durch die europäischen Völker der Frühgeschichte zurück. Er wurde an die Perser (und Parther), Alanen, Sarmaten, Goten und Armenier des Mittelalters weitergegeben.

Von dieser iranischen und pontischen Matrix gelangte sie in der Zeit der Kreuzzüge in den Westen. Der Name des von den Herzögen von Burgund gegründeten Ordens vom ›Goldenen Vlies‹ weist auf eine geografische „Ausrichtung“ auf den pontischen Raum (das Schwarze Meer), Kaukasus-Armenien und den Iran hin, der Wiege der ersten strengen militärischen Organisation der europäischen Völker zu Beginn der Geschichte.

Da sie die Gebiete der Iraner und Armenier durchquerten, verstanden die Seldschuken die Bedeutung eines militärischen Ordens, der dem persischen fotowwat ähnelte. So entstand der sehr disziplinierte Janitscharorden, der in der Lage war, zahlenmäßig überlegene, aber weniger disziplinierte europäische Armeen zu besiegen, wie Ogier Ghiselin de Bousbeque in einem Text beklagt, der noch heute in der Anthologie des strategischen Denkens von Gérard Chaliand, einem Grundlehrbuch für französische Offiziere, zu finden ist.

Die Disziplin der osmanischen Janitscharen besiegte somit die serbischen, kroatischen und ungarischen Armeen. Die europäische Antwort war zweigleisig: Einerseits eroberten die Kosaken Iwans des Schrecklichen 1552 Kasan, die Hauptstadt der Tataren, und zogen dann die Wolga hinunter, um den traditionellen Einfallsweg der Hunnen und Türken nördlich des Kaspischen Meeres entlang der Wolga und in ihrem Delta bei Astrachan, das 1556 fiel, abzuschneiden.

Auf See umrundeten die Portugiesen Afrika und fielen den muslimischen Mächten im Indischen Ozean in den Rücken. Die Kosaken zu Lande und die Seeleute auf See verkörperten die aktive und dynamische, abenteuerliche und risikofreudige Identität Europas zu einer Zeit, als es von Tanger bis Alexandria, auf dem Balkan, an der Donau, an der Wolga und in der Ukraine eingekesselt war.

Die doppelte Operation der Russen und Portugiesen zu Lande und zu Wasser lockerte den Würgegriff, der Europa umklammerte, und leitete eine langsame Reconquista ein, die jedoch nie vollständig vollendet werden sollte, da Konstantinopel nicht wieder griechisch wurde. Die schlampige Auflösung der ehemaligen UdSSR macht diese hypothetische Reconquista ungewisser denn je und schafft einen unkontrollierbaren Raum des Chaos auf dem eurasischen Balkan.

Eugène de Savoie: ausgezeichnete Kenntnisse der klassischen Militärliteratur

Der europäische Geist verkörperte sich im 17. Jahrhundert in einer außergewöhnlichen Persönlichkeit: Prinz Eugène de Savoie-Carignan. Als schmächtiger und häßlicher Junge, dem man im Alter von acht Jahren die Tonsur auferlegt, um ihn zum Mönch zu machen, widmet er seine Kindheit und Jugend dem Studium der Klassiker, träumt jedoch von einer militärischen Laufbahn, die ihm Ludwig XIV. verweigert, die der Kaiser von Österreich jedoch mit Begeisterung akzeptiert. Seine ausgezeichneten Kenntnisse der militärischen Klassiker machten ihn zu einem methodischen Hauptmann, der die Rückeroberung des Balkans vorbereitete, indem er eine Flotte auf der Donau organisierte, die derjenigen nachempfunden war, die die Römer in Passau (Batavia) in Bayern gebaut hatten. 

Prinz Eugen (1718) trug den Bei- und Ehrennamen „der Türkenbezwinger“, Bildquelle: Metapedia

Die Pläne von Eugen von Savoyen, dem „edlen Ritter“, ermöglichten es der Heiligen Allianz, die Polen, Bayern, Österreicher, Ungarn, Preußen und Russen vereinte, 400.000 km² von den Osmanen zurückzuerobern. Mit den aufeinanderfolgenden Siegen von Eugen von Savoyen begann der Niedergang der Osmanen: Sie rückten keinen Zentimeter mehr vor. Einige Jahrzehnte später erobern Katharina II. und Potemkin die Krim zurück und machen die Nordküste des Schwarzen Meeres zum ersten Mal seit dem Einfall der Hunnen in die Kulturwelt unserer Völker zu einem vollwertigen europäischen Küstenstreifen.

Die geopolitische Identität Europas ist also dieser jahrtausendealte Kampf um stabile und festgelegte Grenzen, um den freien Zugang zum Herzen Eurasiens, den Urban II. in Clermont-Ferrand bei der Verkündung des ersten Kreuzzugs gefordert hatte. Die kulturelle Identität Europas ist diese Militärkultur, diese Kunst der Ritterlichkeit, die wir von den Helden der avestischen Zeit geerbt haben. Die europäische kulturelle Identität ist dieser Wille, den Raum zu organisieren, den ager der Römer, und ihm ein endgültiges Gepräge zu geben. Aber wo stehen wir heute? Wie ist unsere objektive Lage?

In den letzten 15 bis 20 Jahren haben wir eine Niederlage nach der anderen erlitten. Unsere mageren geostrategischen Trümpfe sind einer nach dem anderen gefallen, als wären sie nur eine Reihe von Dominosteinen. Die mongolomorphe Strategie von Brzezinski scheint Früchte zu tragen. Europa und Rußland sind nur noch zerfetzte, keuchende Gebiete, ohne Elan und ohne eigene Energie. In der Tat:

Europa hat an der Donau verloren: Serbien, das Gebiet, das Mitteleuropa an der Donau mit der Ägäis verbindet, die alte Route der Dorier und der mazedonischen Vorfahren Alexanders des Großen, ist aufgrund des von Washington verhängten Embargos jeglicher positiven Dynamik beraubt. Österreich wäre beinahe auf die gleiche Weise verteufelt worden, als Jacques Chirac und Louis Michel vor nicht allzu langer Zeit den Amerikanern in die Hände spielten. Die amerikanischen Streitkräfte lassen sich in Ungarn nieder, an denselben Orten, an denen einst die Legionen Roms lagerten, um die fragilste Grenze Europas, die ungarische Tiefebene, die Puszta, zu sichern, die unseren Kontinent über die ukrainischen Ebenen und die Weiten Sibiriens direkt mit dem Ursprungsgebiet der Hunnen verbindet.

Europa und Rußland verlieren alle ihre Trümpfe im Kaukasus, wo das Georgien von Schewardnadse voll und ganz auf die amerikanisch-türkische Karte setzt, wo Aserbaidschan vollständig der NATO und der Türkei unterworfen ist, wo die Tschetschenen, bewaffnet von den Türken, Saudis und Amerikanern, die russische Armee in Schach halten und blutige Anschläge in Moskau verüben, wie im Oktober 2002 im Dubrovna-Theater. In diesem kaukasischen Kontext ist das unglückliche Armenien umzingelt, von allen Seiten bedroht und hat nur Feinde an seinen Grenzen, mit Ausnahme des Iran, auf einer Länge von knapp 42 km, einem Gebiet, das die NATO einfach kaufen will, um den Iran zu überwachen und zu bedrohen.

Europa, Rußland und Indien verlieren in Kaschmir, wo die fest verankerte pakistanische Präsenz die Schaffung eines Kommunikationskorridors zwischen Indien und Tadschikistan sowie zwischen Tadschikistan und Rußland verhindert. Die pakistanische Präsenz verhindert die Herstellung der Verbindung, die zwischen unseren Gebieten zur Zeit der drei nebeneinander bestehenden Reiche kurz vor der Katastrophe der Hunneninvasionen hätte bestehen können.

Europa verliert in den Binnenmeeren: Albanien, das dem amerikanisch-türkischen Duo unterworfen ist, überwacht die Straße von Otranto. Von Albanien aus könnten amerikanische Kriegsschiffe die Adria vollständig abriegeln und die Wirtschaft Norditaliens ersticken, dessen Flußachse, der Po, südlich von Venedig in die Adria mündet. Das Ziel ist genau, das Entstehen eines neuen Venedigs, einer neuen Serenissima, deren Hinterland ganz Mitteleuropa wäre, zu verhindern. Das Ziel ist auch, Europa daran zu hindern, die Heldentat von Don Juan von Österreich zu wiederholen, der 1571 bei Lepanto die osmanische Flotte besiegte.

Ritter Johann von Österreich, Bildquelle: Wikipedia

Darüber hinaus verliert Europa alle seine Trümpfe und seinen potenziellen Verbündeten am Golf, einer strategisch wichtigen Zone für die Kontrolle unseres Subkontinents. Denn ab 1941, als die Briten nacheinander den Irak, Syrien und den Libanon und dann mit Hilfe der Sowjets auch den Iran eroberten, verschafften sie sich einen Stützpunkt, von dem aus sie die in Ägypten konzentrierten Armeen, die Libyen, Tunesien und Italien erobern sollten, mit Rohstoffen, Material aller Art und Öl versorgen konnten; über die iranischen Eisenbahnen, die Seeverbindung über das Kaspische Meer und von dort über die Flußverbindung der Wolga konnten sie auch die sowjetischen Armeen versorgen. Nur die Schlacht von Stalingrad hätte diese Lebensader beinahe gekappt. Wie Jean Parvulesco oft betont hat, ist Europa jeder Großmacht ausgeliefert, die Mesopotamien und die angrenzenden Regionen fest in ihrer Hand hat. Kurz gesagt, Parvulesco sagte: „Europa wird im Südosten gehalten“. Der Sieg der Anglo-Sachsen und Sowjets im Jahr 1945 ist der beste Beweis dafür. Und weil diese Region geostrategisch so wichtig ist, wollen die Amerikaner sie heute endgültig unter ihre Kontrolle bringen und nicht mehr loslassen. Das Grundszenario ist und bleibt dasselbe. Wir könnten unzählige historische Beispiele anführen.

Wir werden um Jahrhunderte zurückgeworfen

Diese katastrophale Situation wirft uns um mehrere Jahrhunderte zurück, in eine Zeit, als die Osmanen Wien belagerten, als die Tataren sich fest an den beiden großen russischen Flüssen Kama und Wolga niedergelassen hatten und als die Sultane Marokkos planten, auf der Iberischen Halbinsel wieder Fuß zu fassen. Ja, wir sind um mehrere Jahrhunderte zurückgeworfen seit den Ereignissen am Golf 1991, seit den Ereignissen in Jugoslawien in den 90er Jahren, seit dem Zerfall des kaukasischen Mosaiks und dem Tschetschenien-Aufstand, seit der Besetzung Afghanistans und der Besetzung des Irak. Diese Situation bedeutet:

  • Daß die Europäer eine unnachgiebige Einigkeit in Bezug auf den Balkan zeigen und dort jede türkische, saudische oder amerikanische Präsenz ablehnen müssen.
  • Daß die Europäer der Türkei jeglichen Handlungsspielraum auf dem Balkan und im Kaukasus nehmen müssen.
  • Daß die Europäer den freien Verkehr auf der Donau wiederherstellen müssen, wobei Serbien in dieses Projekt einbezogen werden muß.
  • Daß die Europäer eine dreifache Verbindung durch Kanäle, Straßen und Eisenbahnlinien zwischen Belgrad und Thessaloniki, also zwischen Mitteleuropa an der Donau und der Ägäis, herstellen müssen.
  • Daß die Europäer sich die strategische Kontrolle über Zypern sichern und Druck auf die Türkei ausüben müssen, damit sie die Insel bedingungslos räumt.
  • Daß die Europäer das eingekesselte Armenien gegen das Bündnis zwischen Türken, Amerikanern, Aserbaidschanern, Georgiern, Saudis und Tschetschenen unterstützen.
  • Daß die Europäer die Kurdenkarte gegen die Türkei ausspielen.
  • Daß die Europäer Indien in seinem Konflikt mit dem Verbündeten der Vereinigten Staaten, Pakistan, in der ungelösten Kaschmir-Frage unterstützen.
  • Daß die Europäer eine intelligente Araberpolitik betreiben, die sich auf nationalstaatliche Ideologien vom Typ Baath oder Nasser stützt und islamistischen Fundamentalismus ausschließt, der in der Regel von den amerikanischen Geheimdiensten manipuliert wird, wie dies bei den Taliban, den Muslimbrüdern gegen Nasser oder den Schiiten gegen Saddam Hussein der Fall war.

Die beiden Anakondas

Die Umsetzung dieser vielschichtigen Geopolitik führt uns dazu,

die Anaconda-Theorie zu überdenken. Für Karl Haushofer, den berühmten deutschen Geopolitologen, den man nach einer langen Zeit der Vergessenheit wiederentdeckt hat, sind die Anacondas die Flotten der angelsächsischen Seemächte, die den großen asiatischen Kontinent umschließen und ihn zum Ersticken verurteilen. Diese Anakonda ist immer noch da. Aber sie wird durch eine neue Anaconda ergänzt, das dichte Netz von Satelliten, die die Erde umgeben, uns ausspionieren, überwachen und zur Stagnation verdammen. Diese Anakonda ist beispielsweise das ECHELON-Netzwerk. Die kämpferische Identität Europas besteht heute darin, eine Antwort auf diese Herausforderung zu finden. Die Herausforderung im Weltraum kann jedoch nur durch eine Partnerschaft mit Rußland in diesem Bereich gelöst werden, wie Henri de Grossouvre in seinem ausgezeichneten Werk über dieAchse Paris-Berlin-Moskau empfiehlt.

Es muß eine mutige Seepolitik betrieben werden, wie sie Ludwig XVI. in Frankreich hatte. Europa muß auf See präsent sein, natürlich militärisch, aber es muß auch seine Rechte auf die Fischereiressourcen geltend machen. Außerdem ist ein Küstenverteidigungssystem unerläßlich.

Es muß seine militärische Unabhängigkeit bekräftigen, ausgehend vom Eurokorps, das zu einer europäischen Schnellen Eingreiftruppe werden könnte, gegen die die Türkei vor einiger Zeit ihr Veto eingelegt hat.

Es muß die institutionellen Archaismen abbauen, die in der EU noch bestehen.

Die politische Identität Europas, die einzige wirklich konkrete Identität, da wir seit Aristoteles wissen, daß der Mensch ein politisches Tier, ein zôon politikon, ist, besteht daher heute, in dieser Zeit der Katastrophen, darin, sich unserer geopolitischen Probleme, die ich gerade dargelegt habe, bewußt zu werden und Maßnahmen zur Förderung einer klaren Raum-, See- und Militärpolitik zu ergreifen.

Es liegt auf der Hand, daß dieses Bewußtsein und dieser Aktionsplan nur dann zum Erfolg führen werden, wenn sie von Menschen vorangetrieben und getragen werden, die das entschlossene, aktive und strahlende, archangelische und michaeli-artige Profil haben, das uns vor mehreren Jahrtausenden von den Europäern hinterlassen wurde, die in die iranischen Hochebenen kamen, um dort die avestische Tradition zu begründen, Keimzelle aller operativen Ritterorden.

Quelle: https://www.terreetpeuple.com/guerre-culturelle-reflexion-20/81-decryptage/9683-sur-lidentite-europeenne-par-robert-steuckers.html

Robert Steuckers über Nietzsche