Julius Evola

untersucht die gesellschaftliche Dekadenz und vergleicht traditionelle Zivilisationen, die in einer spirituellen Hierarchie verwurzelt sind, mit modernen, individualistischen Gesellschaften und argumentiert, daß Verfall entsteht, wenn spirituelle Führung und Ordnung zusammenbrechen.

 

›Untergang‹, Gemälde von Thomas Cole (1836)

 

Bildquelle: Arquitectura y Empresa

 

Wer den bereits weitgehend gescheiterten Fortschritts- und Evolutionsmythos ablehnt, um die Geschichte nach höheren Werten zu interpretieren, stellt ein Übergewicht des Negativen fest und versteht das Problem der Dekadenz. Wenn der Fortschrittsglaube auf einer logischen Unmöglichkeit beruht – da „mehr“ nicht aus „weniger“ und das Höhere nicht aus dem Entarteten entstehen kann –, dann scheint sich eine ähnliche Schwierigkeit bei der Erklärung der negativen Evolution zu ergeben. Wie kann das Höhere überhaupt degenerieren? Wie kann ein bestimmtes geistiges Niveau verloren gehen?

Die Lösung wäre nicht schwierig, wenn man sich mit einfachen Analogieschlüssen begnügen würde: Der Gesunde kann krank werden; der Tugendhafte kann dem Laster verfallen. Ein Naturgesetz sorgt natürlich dafür, daß jeder Organismus nach der Geburt, der Fortentwicklung und dem Erreichen eines Höhepunkts altert, welkt und stirbt. Aber das ist nur eine Beobachtung, keine Erklärung, auch wenn man eine völlige Ähnlichkeit zwischen beiden Phänomenen annimmt. Wie könnte es anders sein? Schließlich haben wir es mit Zivilisationen, mit politischen und sozialen Organisationen zu tun, in denen der menschliche Wille und die Freiheit eine größere Rolle spielen als in diesen natürlichen Prozessen.

Der gleiche Einwand gilt aber auch für die Theorie Oswald Spenglers, der die Analogie einer schicksalhaften Entwicklung aufgreift, nach der – wie jeder Organismus – jede Zivilisation eine Morgendämmerung, ein Aufblühen, eine herbstliche Alterung, eine Sklerose und schließlich Tod und Auflösung erlebt. Der Zyklus beginnt mit organischen, geistigen und heroischen Formen – was Spengler Kultur nennt – und endet mit anorganischen, materialistischen, massenhaften und seelenlosen Formen – was er Zivilisation nennt.

In Bezug auf die „zyklischen Gesetze“ wiederholt diese Theorie diejenige der Tradition, die jedoch viel breitere, sogar metaphysische Bereiche betrifft und uns helfen kann, tiefer in unser Problem einzudringen. Sie bietet nämlich einen Erklärungsansatz, indem sie von einer Kraft spricht, die sich allmählich erschöpft: so wie, um einen banalen, aber nützlichen Vergleich zu verwenden, die Bewegung eines Kolbens sich verlangsamt und allmählich zum Stillstand kommt, wenn nicht eine neue Kraft zugeführt wird (die dann einen neuen Zyklus auslösen würde). Was den Menschen betrifft, so ist diese Kraft in erster Linie als übergeordnete Ordnungskraft zu verstehen, die die niederen Kräfte bindet und formt.

Im Zusammenhang mit unserem Problem dürfte sich diese Sichtweise als nützlich erweisen. Ausgangspunkt ist, ähnlich wie bei Spengler, die Gegenüberstellung von zwei Zivilisationstypen und folglich zwei Staatstypen.

Auf der einen Seite finden wir die traditionellen Zivilisationen, die sich in ihrer Form und ihren kontingenten Aspekten unterscheiden, aber in ihren Prinzipien übereinstimmen: Hier sind geistige, überindividuelle Kräfte und Werte der Maßstab der allgemeinen Organisation und die Rechtfertigung für jede untergeordnete Realität. Auf der anderen Seite steht die sogenannte moderne, antitraditionelle Zivilisation, die allein auf menschlich-irdischen, individualistischen und kollektivistischen Momenten beruht: die vollständige Entfaltung aller Möglichkeiten eines Lebens, das nicht mehr „mehr als Leben“ kennt. Die Dekadenz spielt sich als „Sinn der Geschichte“ auf, da in ihr die überlieferten Zivilisationen untergehen, um zunehmend eine neue „moderne“ Zivilisation auf dem ganzen Planeten entstehen zu lassen.

Die Frage ist also, wie dies möglich war. Nun stellt sich das Problem praktischer, und wir können untersuchen, was wirklich mit einer hierarchischen Struktur und dem Prinzip der Führung zusammenhängt, denn dies ist der Schlüssel zu vielen anderen Prozessen. Bei den traditionellen Hierarchien, deren Entstehung wir bereits im Zusammenhang mit den zyklischen Gesetzen erwähnt haben, muß zunächst die Behauptung zurückgewiesen werden, daß sie grundsätzlich durch direkte Kontrolle und gewaltsame Herrschaft durchgesetzt wurden. Dies würde eine Gleichsetzung des Höheren mit dem Niederen bedeuten. Außerdem müssen wir die entscheidende Bedeutung des geistigen Moments anerkennen.

In der Welt der Tradition konnte man von einem „Moment ohne Handlung“ sprechen; es galt das Geheimnis des „unbewegten Bewegers“ (im aristotelischen Sinne), des Pols, der unveränderlichen Achse jeder geordneten Bewegung subjektiver Kräfte; für wahre Führung war das Attribut „olympisch“; wahre Herrscher brauchten keine Gewalt, ihre Anwesenheit genügte; manchmal sprach man vom Magneten, der, wie wir weiter zeigen werden, auch unser ganzes Problem löst. Die Idee des gewaltsamen Ursprungs jeder hierarchischen Staatsorganisation, wie sie von linken Historikern und Schriftstellern immer wieder vorgebracht wird, muß als primitiv, falsch oder zumindest unvollständig zurückgewiesen werden.

Es wäre auch absurd zu glauben, daß die Vertreter der wahren geistigen Führung den Menschen hinterherliefen, um jeden an einen Ort zu binden und so hierarchische Verhältnisse zu schaffen und aufrechtzuerhalten und damit ihre Herrschaft zu sichern. Nicht bloße Unterwerfung, sondern die Zustimmung und Anerkennung des Untergebenen ist die Grundlage jeder normalen und traditionellen Hierarchie.

Nicht der Höhere braucht den Unteren, sondern der Untere den Höheren; nicht der Führer braucht die Gefolgschaft, sondern die Gefolgschaft braucht den Führer. Das Wesen der Hierarchie liegt darin, daß das, was bei den einen klar entwickelt ist, bei den anderen nur als eine vage Sehnsucht, als eine Ahnung, als ein dunkles Verlangen erscheint. So folgen letztere zwangsläufig den ersteren und ordnen sich auf natürliche Weise unter. Die Unterordnung ist dabei kein äußerer Zwang, sondern bezieht sich auf ein wahres „Ich“. Daher der Opfergeist, das bewußte Heldentum und die männliche Hingabe in der Welt der früheren Hierarchien; daher auch das hohe Ansehen, die Autorität, die stille Macht und der Einfluß, den selbst ein Tyrann mit dem mächtigsten Heer niemals hätte genießen können.

Diese Erkenntnis wirft ein neues Licht nicht nur auf das Problem der Dekadenz, sondern auch auf die allgemeine Möglichkeit jedes revolutionären Umsturzes. Heißt es nicht oft genug: Wenn eine Revolution gelingt, dann nur, weil die vorherige Führung schwach war und die Oberschicht degeneriert war? Das mag wahr sein, aber es reicht nicht aus. Man kann sich das so vorstellen, daß Hunde an der Leine plötzlich ihren Herrn überwältigen; die führenden Hände sind einfach nicht mehr stark genug.

Wenn man jedoch nicht an die Schaffung eines wahren Staates durch Gewalt glaubt und die bereits erwähnte Hierarchie in Betracht zieht, dann liegen die Dinge anders. Eine solche Hierarchie wird nur in einem Fall gestützt: wenn der Abstieg alle betrifft, wenn jeder Mensch seine essentielle Freiheit dazu mißbraucht, sein Leben von allem Höheren abzutrennen und es dadurch verstümmelt. Dann müssen alle Verbindungen zerbrechen; die Spannung, die den traditionellen Organismus zusammenhielt, dessen politische Form einen Aufstiegs- und Integrationsprozeß für jeden Menschen darstellte, wird schwächer; jede einzelne Kraft schwankt auf ihrem Weg, versucht in einigen Fällen, die verlorene Tradition durch nationalistische und utilitaristische Systeme zu ersetzen, und driftet schließlich ab.

Die „Gipfel“ mögen noch rein und unangetastet bleiben. Doch der Rest, der sich zuvor an sie klammerte, setzt sich lawinenartig in Bewegung – erst langsam, fast unmerklich, dann immer schneller –, verliert das Gleichgewicht und stürzt ins Tal hinab in Liberalismus, Sozialismus, Massengesellschaft und Kommunismus.

Darin liegt das „Geheimnis” der Dekadenz in dem von uns betrachteten Bereich. Und hier liegt das eigentliche Geheimnis eines jeden revolutionären Umsturzes. Der Revolutionär zerstört zuerst die Hierarchie in sich selbst und verliert damit die Möglichkeiten, die aus der inneren Ordnung entstanden sind, eine Ordnung, die er dann nach außen hin zerstört. Ohne vorherige innere Zerstörung gibt es keine Revolution im Sinne einer antihierarchischen und antitraditionellen Umwälzung.

Und da dieser vorbereitende Prozeß dem oberflächlichen oder kurzsichtigen Beobachter, der nur „Fakten“ sieht und bewertet, entgeht, werden Revolutionen letztlich als irrationale Phänomene betrachtet oder sie werden lediglich mit materialistischen und sozialen Faktoren erklärt, die in jeder Zivilisation sekundär sind.

Wenn die katholische Lehre den Fall des ersten Menschen und sogar die Rebellion der Engel auf die metaphysische Freiheit zurückführt, greift sie im wesentlichen auf dieselbe Erklärung zurück. Sie spricht von der gefährlichen angeborenen Fähigkeit des Menschen, seine Freiheit zur geistigen Verwüstung zu nutzen und alles abzulehnen, was ihn zu einer höheren Würde erheben könnte. Es handelt sich um eine metaphysische Entscheidung, die uns im Laufe der Geschichte in verschiedenen Formen begegnet, z. B. im Antitraditionalismus, im Revolutionismus, im Humanismus, im Säkularismus und im „Modernismus“. Diese Entscheidung ist in der Tat die Ursache für die Dekadenz und die Antitradition, die sonst geheimnisvoll bleiben würden.

Jetzt versteht man auch die Bedeutung der alten Traditionen, die uns etwas „verschlüsselt„ erscheinen und sich auf Führer beziehen, die irgendwie schon da sind – weil sie immer da waren. Diese Führer können wieder gefunden werden (entweder sie selbst oder ihre „Stammsitze“) durch Handlungen mit symbolischem Charakter, die auf verschiedene Weise beschrieben werden. Diese Suche bedeutet eigentlich eine Neuordnung, ein Verhalten, das – wie das Gespür des Eisens für den Magneten – den Führer entdeckt, sich auf ihn ausrichtet und ihm zustrebt. Wir haben genug darüber gesagt; wer will, kann tiefer eindringen.

In der heutigen Welt müssen wir jedoch einen tiefen Pessimismus ertragen. Würden heute wahre Führer auftreten, so würden sie unerkannt bleiben, es sei denn, sie trügen die Maske von Demagogen und Verfechtern sozialer Mythen. Aus diesem Grund ist die Ära des Königtums vorbei. Bis dahin, und solange es eine Ordnung gab, genügte das bloße Symbol; es war nicht immer notwendig, daß der Träger des Symbols seiner Aufgabe als Person voll gerecht wurde.

Quelle: https://www.arktosjournal.com/p/the-problem-of-decadence

 

Evola und die Ur-Tradition: Eine andere Sicht der Geschichte

Überwindung des Aktivismus