Aus: Jan de Vries ›Die geistige Welt der Germanen‹, Darmstadt 1964
Mut und Treue sind die Wahrzeichen der germanischen Ehre. Das sittliche Empfinden der Germanen gipfelt in der Ehre, die das unerschütterliche Fundament der menschlichen Würde ist. Dadurch wird auch schon dargetan, daß hier nur von diesseitigen Werten die Rede ist; eine Begründung in einem transzendenten Sittengesetz fehlt vollständig.
Man kann deshalb auch feststellen, daß die germanische Ethik ›jenseits von Gut und Böse‹ liegt. (…) Die Ehre ist sogar so stark diesseitig betont, daß sie nicht nur von dem persönlichen Verhalten des Menschen, sondern auch von seiner gesellschaftlichen Stellung abhängig ist. Geld- und Grundbesitz bestimmen des Mannes Ehre nicht weniger ausschlaggebend als ein heldenhaftes Betragen.
Die Ehre ist nicht die Reinheit und Hoheit der Gesinnung, die Weise, wie der Mensch in den verschiedenen Lebenslagen sich verhält; sie ist vielmehr die Anerkennung der persönlichen und gesellschaftlichen Würde des Mannes. Das eine ist mit dem anderen engstens verknüpft; man erwartet von dem Mann, daß er sich seiner sozialen Stellung gemäß auch betragen wird.
Die Ehre fordert von dem König eine andere Gesinnung als vom Kätner; jeder hat seine eigene Ehre, die sich nicht nach abstrakten ethischen Normen abmessen läßt. Hier zeigt sich ganz besonders die Verpflichtung jedes einzelnen Menschen seiner Sippe gegenüber, die wir im folgenden Kapitel ausführlich darlegen werden: Der Mann soll sich so betragen, wie das die Art seiner Sippe von ihm fordert.
Die Ehre bildet das Herzstück des menschlichen Daseins. Ohne Ehre kann ein Mann nicht leben; immer und immer wieder klingt aus der altgermanischen Literatur die felsenfeste Überzeugung, daß der Tod einem Leben in Schande vorzuziehen ist. Als der greise Njáll in seinem Hause von seinen Feinden angegriffen wird und Flosi ihm erlauben will, mit den Weibern und Kindern die Wohnung zu verlassen, sagt er: „Ich will nicht hinausgehen, denn ich bin ein alter Mann und nicht mehr in der Lage, meine Söhne zu rächen; und mit Schande will ich nicht weiterleben.“ (Njlá c. 129) Das bedeutet, daß ihm ein Leben ohne Ehre unmöglich ist, weil damit der Hauptnerv seines Daseins durchschnitten wäre.
Das macht die Pflicht zur Blutrache so bedingungslos. Man ist einfach außerstande, dem ermordeten Verwandten die ihm gebührende Rache zu verweigern, weil man damit die eigene Ehre verletzen würde. Man soll dabei gar nicht an unseren modernen Begriff des Rachegefühls denken, das ja mit einer persönlich erlittenen Unehre verbunden ist und sich gegen eine bestimmte Person wendet. Der germanische Mensch steht dem Mörder eines Sippengenossen ziemlich gleichgültig gegenüber, und die Rache sucht ihr Opfer, wo sie es erreichen kann, nur um die erlittene Schmach der Sippe zu tilgen.
Der Mann muß sich also der Ehre seiner Familie gewachsen zeigen; sie fordert von ihm eine würdige Haltung, namentlich ein Sichbewähren im Kampf. Die ›Vatnsdœla Saga‹ beschreibt uns den alten Ketill Raumr, der die Tatenlosigkeit seines Sohnes mißbilligend ansieht und endlich nicht länger schweigen kann; da sagte er:
Jetzt betragen sich die jungen Leute ganz anders als wir das in unserer Jugend gewohnt waren. Denn damals waren sie darauf bedacht, etwas ihrer Ehre zuliebe zu tun, entweder auf Wikingzug zu gehen, oder sich irgendwo Gut oder Ehre zu erwerben; jetzt aber wünschen sie nur mit dem Rücken vor dem Feuer zu sitzen und die Hitze mit Bier zu kühlen. Kein Wunder, daß es da nur schlecht bestellt ist mit Tapferkeit und Mannhaftigkeit.
Mit einem tatenlosen Leben konnte man die Ehre der Sippe nicht aufrechterhalten; aber der Mann wäre auch seiner Sippe unwürdig, falls er nicht ihrem Anspruch auf Ehre genügte. (…)
Die Ehre des Mannes ist nicht von seiner eigenen inneren Überzeugung abhängig, sondern von dem Urteil seiner Mitmenschen. Oder vielleicht würde man besser sagen: seine Ehre spiegelt sich in der Haltung, die andere ihm gegenüber zeigen. Wenn dieser Spiegel trübe wird, muß der Mann auch in seiner eigenen Wertschätzung unsicher werden. Es ist deshalb auch zu beachten, daß sein Ansehen in der Gesellschaft nicht an erster Stelle auf seinem persönlichen Einsatz zu beruhen braucht; von weit größerer Bedeutung ist die Stellung, die seine Sippe einnimmt. Ihre Macht, die sich selbstverständlich ebenso sehr in der Zahl der waffenfähigen Männer wie in der Größe des Familienbesitzes an Geld oder Vieh kundgibt, ist für das Ansehen des einzelnen Sippengenossen weithin bestimmend. Aber trotzdem gilt auch die Forderung, daß jeder sich seinen Ruf selber verdienen soll, und zwar durch seine persönlichen Leistungen.
Deshalb ist der germanische Mensch so hellhörig Schmähungen gegenüber. Die fürchtet er vielleicht weit mehr als die Schwertschläge im offenen Kampf. Denn solche ›Neidworte‹ schleichen kaum merkbar umher und dringen wie giftige Pfeile in das Herz der männlichen Ehre. (…)
Wir müssen uns dabei die fast abergläubische Scheu vergegenwärtigen, die man in früherer Zeit dem gesprochenen Wort zollte. Segen oder Fluch waren schon kraft ihrer Aussage wirksam. Erst eine spätere in dieser Hinsicht aufgeklärte Zeit konnte den Namen als „Schall und Rauch” betrachten, für unsere heidnischen Vorfahren war der Name, man möchte fast sagen, ein realer Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit. Deshalb ruft eine Beleidigung das Gefühl einer schmerzlichen Wunde hervor, die den Mann körperlich hinsiechen lassen kann. (…)
Aus solchen Beispielen ersehen wir, wie empfindlich die Ehre des germanischen Mannes war. Er konnte nicht den kleinsten Fleck auf ihr dulden. Ein gegen ihn gerichtetes níð machte ihn zu einem níðingr, einem ›Neidung‹, und er mußte sich davon durch irgendeine Tat befreien, um in den Augen seiner Volksgenossen als ehrenhafter Mann weiterleben zu können. ›Neidung‹ ist der Mann, der sich durch eine ehrlose Tat außerhalb der menschlichen Gesellschaft gestellt hat und deshalb dem Verderben anheimgefallen ist. Denn ohne Ehre kann der Mann nicht leben. ◊
Beitragsbild: Hermann als Sieger, Wilhelm Lindenschmit, um 1839, Öl auf Pappe
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