Dmitry Moiseev

Der Autor erkundet Yukio Mishimas Ausführungen darüber, wie der Tod dem Leben eine besondere Bedeutung verleiht und daß Eigenschaften wie Tatkraft, Fürsorge, Toleranz, Aufrichtigkeit und Spiritualität für ein Leben nach den Prinzipien der Samurai unerläßlich sind.

Wahrlich, das Leben eines Menschen währt nur einen Augenblick, also lebe und tue, was du wirklich willst. Es ist töricht, in einer Scheinwelt zu leben, jeden Tag mit Schwierigkeiten konfrontiert zu sein und zu tun, was einem nicht zusagt.

Wenn wir akzeptieren, daß jeder von uns ständig an der Schwelle des Todes steht und daß es keine andere Wahrheit gibt als die von Augenblick zu Augenblick sich vollziehende, dann wird uns die Dauer des gegebenen Zeitintervalls nicht sehr wichtig erscheinen. Da sich die Zeit als unbedeutend erweist, lebt ein Mensch fünfzehn Jahre lang wie einen einzigen Augenblick und betrachtet jeden Tag als seinen letzten.

So stellt Mishima treffend fest, daß Leben und Tod in der Philosophie ›Hagakure‹ eng miteinander verbunden sind. Der Tod und der Gedanke an ihn sind kein Hindernis für den Fluß des Lebens, sondern im Gegenteil eine Bedingung und Garantie für seine Produktivität.

 

 

Die Erkenntnis, daß man jederzeit sterben kann, sollte einen nicht davon abhalten, Pläne für die Selbstverbesserung und die eigenen Leistungen für fünfzehn Jahre und länger zu schmieden. Dies mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber diese Regel fördert ein Höchstmaß an Klarheit des Bewußtseins.

Die Weisheit des Hagakure ist äußerst relevant für die moderne Welt, die von Informationsviren und Werteverzerrungen überflutet ist und eine enorme Menge an „Störungen” hervorruft, die den Menschen daran hindern, „im gegenwärtigen Augenblick” zu sein.

Das Leben sollte energisch sein.

 

Mishima weist auf Folgendes hin:

Hagakure preist eine Tugend wie Bescheidenheit, erinnert uns aber gleichzeitig daran, daß die Energie der Eigenliebe eines Menschen es ihm ermöglicht, in Übereinstimmung mit den physikalischen Gesetzen des Universums zu handeln.

So etwas wie „zu viel Energie” gibt es nicht. Wenn der Löwe mit voller Geschwindigkeit losstürmt, verschwindet der Boden unter ihm. Auf der Jagd nach Beute kann er durch das gesamte Feld rennen, ohne es zu bemerken. Und warum? Weil er ein Löwe ist. Der Mensch besitzt eine ähnliche Quelle der motivierenden Kraft.

Wenn man sein Leben auf Bescheidenheit fixiert, werden die täglichen Aktivitäten nicht zu einem hohen Ideal führen. Dies bestätigt einmal mehr den Grundsatz, daß ein Mensch einen großen Selbstanspruch haben sollte. Er muß sich seiner Verantwortung für das Wohlergehen der Sippe voll bewußt sein und wie die alten Griechen eine majestetische Ausstrahlung kultivieren, die sie „Stolz” nannten. Es ist die Moral der stolzen Menschen, die ihre Position und ihre Haltung durch einen endlosen Strom von energischen Taten stärken.

Das Leben sollte der Fürsorge und dem Dienen gewidmet sein.

 

Mishima stellt diese These wie folgt dar:

Die menschliche Welt ist eine Welt der Fürsorge für andere Menschen. Unsere soziale Rolle wird durch diese Sorge bestimmt. Auch wenn die Ära der Samurai hart erscheinen mag, beruhte das Verhalten der Samurai damals auf viel subtileren Instinkten als in unserer Zeit. Auch wenn wir andere kritisieren, sollten wir die Tugend der „Fürsorge” oder „Anteilnahme” nicht vergessen.

Die Fürsorge, von der Mishima hier spricht, bezieht sich natürlich in erster Linie auf bestimmte Menschen – Familien- oder Sippenmitglieder, enge Mitarbeiter, aber sie kann auch auf einen größeren Kreis gerichtet sein. Tiefe Empathie ist ein weiterer Aspekt des Hagakure, der selten bemerkt wird. Darüber hinaus kann dieser Aspekt völlig unsichtbar hinter den zahlreichen harten Thesen zum Thema Krieg, Kampf und Tod sein.

Gleichzeitig sollte man bedenken, daß die Moral der Samurai äußerst spezifisch ist; die Empathie des Hagakure hat nichts mit der modernen „Liebe für die ganze Menschheit“, „Streben nach einer Welt ohne Kriege“ und ähnlichen utopischen semantischen Konstruktionen zu tun.

Toleranz ist im Leben notwendig.

 

Mishima stelt fest:

Im Vergleich zu der strengen, restriktiven Moral des japanischen Konfuzianismus predigt Hagakure Toleranz. Die Philosophie des Hagakure betont die Tugend des spontanen Handelns und der unerschütterlichen Entschlossenheit und hat nichts mit der „Sparsamkeit” der Hausherrin zu tun, die sorgfältig in alle Ecken der Truhe schaut, in der der Reis gelagert ist.

Als extreme Ausprägung der Toleranz wird empfohlen, die Unzulänglichkeiten und Fehltritte der Dienerschaft bewußt zu ignorieren. Diese Philosophie der bewußten Nichteinmischung ist in den Herzen der Japaner seit jeher lebendig. Sie steht im Widerspruch zu ihrer pedantischen Genügsamkeit und unterstreicht sie zugleich.

Die Toleranz des Hagakure, von der Mishima schreibt, hat natürlich nichts mit der modernen Vorstellung von Toleranz zu tun, die vor allem Toleranz gegenüber dem Schlechten und dem Abartigen (und manchmal deren Verherrlichung) bedeutet.

Hier geht es um die schöpferische Seite der Toleranz. Im Streben nach Vollkommenheit, wie es der Weg der Samurai verlangt, sollte man sich bemühen, die Unzulänglichkeiten der anderen wahrzunehmen. Eine solche ethische Haltung erlaubt es einem, das Gleichgewicht zu halten, wenn man auf Verwerfungen stößt, aber gleichzeitig nicht das Hohe mit dem Niedrigen, das Schöne mit dem Häßlichen und das Würdige mit dem Unwürdigen zu verwechseln.

Im Leben muß man in seinen Beziehungen zu den Menschen aufrichtig sein.

 

Diesbezüglich weist Mishima darauf hin:

Die Toleranz, von der Hagakure spricht, lehrt uns auch, daß Aufrichtigkeit ein wichtiger Bestandteil menschlicher Beziehungen ist. Diese Auffassung wird auch heute noch unwidersprochen akzeptiert.

Der von Mishima hervorgehobene Wert der Aufrichtigkeit wird natürlich auch in der modernen Welt als solcher wahrgenommen – zumindest in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Im Leben ist es notwendig, nicht zu verzagen.

 

„Diejenigen, die angesichts von Mißerfolgen verzweifeln oder den Mut verlieren, sind zu nichts tauglich”, heißt es im Hagakure. „Verliere also nicht den Mut, wenn das Glück nicht auf deiner Seite ist”, fügt Yukio Mishima hinzu, und das ist ein äußerst wichtiger Rat für das Leben. Oft kann uns die Verzweiflung, die wir angesichts der vielen Erscheinungsformen der Krise der modernen Welt empfinden, dazu verleiten, aufzugeben. Das sollte man niemals tun. Der Kampfkunstmeister Kanō Jigorō sagte:

Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen.

Das Leben sollte spirituell sein.

 

Mishima führt zu Bestätigung dieser These folgendes Zitat an:

Obwohl man sagt, daß sich die Götter von Unreinheit abwenden, habe ich meine eigene Überzeugung dazu. Ich vernachlässige niemals meine täglichen Gebete. Selbst wenn ich mich im Kampf mit Blut befleckt habe oder über Leichen auf dem Schlachtfeld treten muß, glaube ich an die Wirksamkeit, die Götter mit Bitten um Sieg und ein langes Leben anzurufen. Wenn die Götter meine Gebete nicht erhören, nur weil ich mit Blut befleckt bin, bin ich überzeugt, daß ich nichts dagegen tun kann und deshalb bete ich weiter, unabhängig von der Unreinheit.

Die spirituelle Sichtweise ist interessant, weil die Lehre des Hagakure trotz des tiefen Antimaterialismus nicht dogmatisch ist, was das spirituelle Leben betrifft. Das ist etwas, was in den kodifizierten Religionen und spirituellen Lehren, die unsere Zeit erreicht haben, weitgehend fehlt. Im Grunde bedeutet das:

Ich bin ein Krieger, und ich muß töten; das ist die Ordnung der Dinge, und ich kann nichts dagegen tun. Dies ist jedoch kein Grund, die innere spirituelle Arbeit aufzugeben, die unsere Taten und Gedanken stets begleiten sollte.

Alle oben aufgeführten Grundsätze der Hagakure-Lebensphilosophie, die von uns sorgfältig von Yukio Mishima konzeptualisiert wurden, werden in dem berühmten Traktat von den Grundsätzen des richtigen Sterbens überlagert, die dem gewöhnlichen Leser viel besser bekannt sind. Wir haben bereits oben auf das Wesentliche dieser Beziehung hingewiesen – das Nachdenken über den Tod hilft, ein besseres Leben zu führen. Um diese These zu veranschaulichen, wollen wir uns ansehen, was Mishima dazu sagt.

Ich habe festgestellt, daß der Weg des Samurai der Tod ist. In einer Entweder-Oder-Situation wähle den Tod, ohne zu zögern, lautet der berühmteste Spruch des Hagakure.

Mishima kommentiert dies wie folgt:

Die Japaner sind Menschen, die sich im Kern ihres täglichen Lebens immer des Todes bewußt sind. Das japanische Ideal des Todes ist klar und einfach, und in diesem Sinne unterscheidet es sich von dem ekelhaften, schrecklichen Tod, wie ihn die Westler sehen.

Die mittelalterliche europäische Darstellung ist der „Gevatter Tod”, der eine Sense in seinen Händen hält. Solche Bilder haben die Japaner nie angezogen.

Das japanische Ideal des Todes unterscheidet sich auch vom Ideal eines Landes wie Mexiko, in dessen Städten man auf verlassenen Straßen noch immer die toten Ruinen aztekischer und toltekischer Tempel sehen kann, die von üppigem Grün überwuchert sind.

Die japanische Kunst wird nicht durch einen grausamen und wilden Tod geprägt, sondern durch den Tod, unter dessen schrecklicher Maske eine Quelle reinen Wassers fließt. Aus diesem Quellgrund entspringen viele Ströme, die ihr reines Wasser in unsere Welt tragen.

Wovon Mishima schreibt, ist dem antiken römischen Imperativ ›memento mori‹ sehr ähnlich – selbst die Triumphatoren wurden regelmäßig daran erinnert, daß sie nur Menschen und daß alle Menschen sterblich sind.

Der Tod hat im Hagakure die Seltsamkeit, Klarheit und Frische des azurblauen Himmels in der Lücke zwischen den Wolken. In der modernen Interpretation paßt dieser Tod erstaunlich gut zum Bild eines Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg. Heutzutage ist man jedoch der Ansicht, daß der Tod dieser Menschen vielleicht die größte Tragödie des letzten Krieges war, so Mishima weiter.

Zugleich ist die Hagakure-Philosophie des Todes eng mit der Philosophie des Handelns verbunden. Der japanische Schriftsteller erinnert daran, daß

nach Hagakure die Hauptsache im Leben die Reinheit des Handelns ist. Es betont die Bedeutung der hohen Leidenschaft und billigt den Tod als Ergebnis eines leidenschaftlichen Impulses. Das ist es, was er meint, wenn er sagt, daß nur die Schwachen von einem vergeblichen Sterben sprechen können.

Hagakure behauptet auch,

daß wir alle leben wollen, und daher ist es nicht verwunderlich, daß jeder versucht, eine Rechtfertigung zu finden, um nicht zu sterben.

Mishima kommentiert diese These wie folgt:

Der Mensch kann immer irgendeine Ausrede für sich finden. Er muß irgendeine Theorie erfinden, nur weil er lebt und denkt. In diesem Fall drückt Hagakure einfach eine relative Sichtweise aus, nach der es sich nicht lohnt, weiterzuleben, wenn man das Ziel nicht erreicht hat – es ist besser zu sterben. Hagakure sagt nicht, daß ein Mensch, wenn er stirbt, damit das Ziel erreicht hat. Darin zeigt sich der Nihilismus, aber dieser Nihilismus bringt den erhabensten Idealismus hervor. Wir unterliegen der Illusion, daß wir in der Lage sind, im Namen des Glaubens oder der Ideologie zu sterben. Hagakure hingegen argumentiert, daß selbst ein sinnloser Tod – ein Tod, der weder Blumen noch Früchte bringt – die Würde des menschlichen Todes hat.

Der Schlußsatz des Hagakure beleuchtet die tiefe Verbindung zwischen der Philosophie des Lebens und der Philosophie des Todes in dem berühmten Traktat:

Wenn wir die Würde des Lebens so hoch schätzen, wie können wir dann nicht auch die Würde des Todes schätzen? Niemand stirbt umsonst.

Mishimas letzter Satz„Niemand stirbt umsonst” – verkörpert das Ergebnis seiner ausführlichen Reflexion über das alte Samurai-Traktat. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine konstruktive und schöpferische Haltung, die es ermöglicht, den Hauptfeind der menschlichen Seele – die Angst – loszuwerden.

Es ist kein Geheimnis, daß die Angst vor dem Tod die größte Angst des Menschen ist. Wenn wir uns mit dem Gedanken anfreunden, daß wir auf keinen Fall „vergeblich sterben”, aber gleichzeitig die Gebote eines guten Lebens im Herzen bewahren, jeden Tag als unseren letzten leben und gleichzeitig in jeder Sekunde nach maximaler Vollkommenheit in allem, was wir tun, streben, dann offenbart sich uns unsere menschliche Erfahrung und unser Wesen von einer anderen Seite.

Quelle: https://arktos.com/2024/07/02/yukio-mishima-on-hagakure-philosophy-of-life-and-death/

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