Alain de Benoist

Nachwort zu Tomislav Sunics Werk:

 

 

Europa hat den Vereinigten Staaten nie den Krieg erklärt. Es ist hingegen offensichtlich, daß die Vereinigten Staaten von Anfang an eine Rechnung mit Europa offen hatten. Sie wurden nämlich aus dem Wunsch heraus geboren, mit Europa zu brechen. Die ersten Gemeinschaften von Einwanderern in die Neue Welt wollten sich von den in Europa geltenden politischen Regeln und Prinzipien befreien. Die amerikanische Nation entstand im Zeitalter der Moderne in einer vertraglichen Form, die an Freuds „Urszene” erinnert: Die Kinder schließen sich zusammen, um den Vater zu töten, und schließen dann untereinander einen Vertrag, der ihre gegenseitige Gleichheit sanktioniert. Der Vater ist in diesem Schema natürlich Europa. Es war also notwendig, mit der Vergangenheit zu brechen, um eine neue Menschheit zu schaffen. Im Federalist (Nr. 14) heißt es:

Es ist der Ruhm des Volkes der Vereinigten Staaten, daß es, nach angemessener Berücksichtigung der Ansichten früherer Jahrhunderte und anderer Nationen […] einen neuen und edleren Weg eingeschlagen hat. Es hat eine Revolution vollzogen, die in den Annalen der menschlichen Gesellschaft kein Äquivalent hat. Es hat Regierungen aufgebaut, die kein Vorbild auf dem Antlitz der Erde habe.

Ebenfalls gegen Europa richtete sich James Monroe, als er im Dezember 1823 das zentrale Prinzip seiner berühmten ›Doktrin‹ verkündete, daß keine europäische Intervention an irgendeinem Punkt des amerikanischen Kontinents mehr geduldet werden sollte. „Wir haben zu lange auf die raffinierten Musen Europas gehört”, rief Ralph Waldo Emerson im 19. Jahrhundert aus. Dominique Moïsi und Jacques Rupnik stellen heute fest:

In vielerlei Hinsicht ist Amerika ein Anti-Europa. Es entstand aus dem Willen, ein „neues Jerusalem” auf Erden zu schaffen, um die Grenzen und Fehler der europäischen Geschichte zu überwinden.

Da die amerikanische Staatsbürgerschaft auf einem Vertrag zwischen Einwanderern unterschiedlicher Herkunft beruhte, bedeutete dies, daß alle kulturellen Eigenheiten in die Privatsphäre verbannt, d. h. vorübergehend aus der Staatsbürgerschaft herausgehalten werden mußten. Diese Forderung paßte perfekt zur individualistischen Philosophie der Gründerväter: In Amerika wurde zum ersten Mal eine Gesellschaft anerkannt, die ausschließlich aus Individuen und nicht aus sozialen Gruppen besteht, da der Kapitalismus sich selbst als Individualismus definiert, der auf den Besitz von Gütern ausgerichtet ist.

Manchmal wird die Gleichgültigkeit der Amerikaner gegenüber der Geschichte mit der relativ kurzen Dauer der Existenz ihres Landes erklärt. Diese Erklärung ist wenig überzeugend: Schließlich sind zwei Jahrhunderte schon eine lange Zeit. Tatsächlich ist das Problem nicht so sehr, daß die Amerikaner „keine Geschichte haben”, sondern vielmehr, daß sie keine haben wollen. Und sie wollen keine haben, weil die Vergangenheit für sie immer zu den europäischen Wurzeln zurückführt, die sie loswerden wollten. „Sie sind das einzige Volk ohne Wurzeln und Genealogie”, sagt der liberale Essayist Guy Sorman, der sich darüber wundert. Jefferson drückte denselben Gedanken aus, als er behauptete, daß jede Generation eine „eigene Nation” bilde: „Die Toten”, erklärte er, „haben keine Rechte”. Daniel Boorstin, ehemaliger Direktor der ›Library of Congress‹, erklärt:

Wir neigen dazu, unser Erbgut auf Distanz zu halten, damit es uns nicht fesselt … Die Amerikaner ziehen es vor, sich mit Vornamen anzusprechen, und lassen das Erbe des Familiennamens gerne hinter sich. Dasselbe gilt für Gegenstände: Der Trend geht zu nicht dauerhaften, wegwerfbaren Gegenständen. Eigentum wird durch Mieten ersetzt. Die Gegenstände hören auf, uns an die Ordnung der Vergangenheit zu erinnern.

Die gleiche Feststellung trifft auf Christopher Lasch zu, der schreibt, daß „in den Vereinigten Staaten die Beseitigung der Wurzeln immer als Grundvoraussetzung für die Zunahme der Freiheit angesehen wurde”. Amerika wird also eine Zivilisation des Raums sein, nicht eine Zivilisation der Zeit. Sein Gründungsmythos wird nicht der Ursprung sein, sondern die „Grenze” (fronteer), die Frederick Jackson Turner 1893 zum repräsentativsten Begriff des amerikanischen Ideals machte, d. h. das Streben nach„Eroberung des Raums”. „Was andere Völker als Geschichte erleben”, so Jean-Paul Dollé, „empfinden die Amerikaner als Unterentwicklung”.

Doch die Amerikaner wollten nicht nur mit Europa brechen. Sie wollten auch eine neue Gesellschaft schaffen, die später das Potenzial haben würde, die gesamte Menschheit zu regenerieren. Sie wollten ein neues „Gelobtes Land” aufbauen, das zum Modell für eine universelle Republik werden könnte. Dieses biblische Thema, das auf der Vorstellung eines von Anfang an durch göttliche Wahl „auserwählten” Amerikas beruht, bildet die Grundlage der „Zivilreligion” und des „Exzeptionalismus” der USA. Sie zieht sich wie ein Leitmotiv durch die gesamte amerikanische Geschichte seit der Zeit der Gründerväter, als Gouverneur John Cotton sogar vorschlug, Hebräisch als Amtssprache für die ehemaligen englischen Kolonien einzuführen. John Winthrop, der erste Gouverneur der 1629 gegründeten Massachusetts Bay Colony, erklärte:

Wir werden wie eine Stadt auf einem Hügel sein, die Augen der Welt werden auf uns gerichtet sein; wenn wir bei der Aufgabe, die wir übernommen haben, unserem Gott gegenüber untreu sind und Gott dadurch veranlaßt wird, uns die Hilfe zu entziehen, die er uns gegenwärtig gewährt, dann werden wir zum Gespött der ganzen Welt.

Ähnliche Äußerungen finden sich bei William Penn, dem Leiter der Quäkerkolonie im späteren Pennsylvania, und bei den Siedlern in Virginia. Bereits 1668 rief William Stoughton aus: „Gott hat eine ganze Nation herausgesiebt, um einen auserlesenen Samen in die Wüste zu bringen!” Für George Washington sind die Vereinigten Staaten ein neues Jerusalem, das „von der Vorsehung als Bühne für die Erreichung der wahren Statur des Menschen gedacht” ist. Thomas Jefferson definiert sie als „eine universelle Nation, die universell gültige Ideen verfolgt”; John Adams als „eine reine und tugendhafte Republik, deren Bestimmung es ist, den Globus zu regieren und die Perfektion des Menschen einzuführen”. „Die Vereinigten Staaten müssen die Welt führen, indem sie die moralische Fackel tragen […] und allen Völkern als Vorbild dienen”, sagte Jesse Helms im Jahr 1996.

Das Ziel besteht also nicht nur darin, die Elenden und Geächteten aufzunehmen, wie es die Inschrift auf dem Sockel der Freiheitsstatue verkündet („Schickt mir die Obdachlosen, die von Stürmen Gepeitschten – Mein Leuchtfeuer wird sie an die Schwelle der goldenen Tore führen”). Es geht auch darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich an ihren Herkunftsländern zu rächen. Und vor allem soll die ganze Welt letztendlich von der Idee durchdrungen werden, daß die amerikanische Gesellschaft die perfekte Gesellschaft darstellt und daß die Nachkommen der ersten Puritaner die „Auserwählten Gottes” sind.

Tatsächlich inspiriert diese puritanische Theologie des „Bundes” die Doktrin des „Manifesten Schicksals” (Manifest Destiny), wie sie John L. O’Sullivan im Jahr 1839 formulierte:

Die Geburt unserer Nation war der Beginn einer neuen Geschichte, die Bildung und Entwicklung eines neuen politischen Systems, das uns von der Vergangenheit abschneidet und uns nur mit der Zukunft verbindet […] Die Nation unter den Nationen ist dazu bestimmt, der Menschheit die Exzellenz göttlicher Prinzipien zu zeigen […] Für diese göttliche Mission unter den Nationen der Welt ist Amerika auserwählt worden.

Mit anderen Worten: Wenn Gott die Amerikaner auserwählt hat, haben diese das Recht, andere Völker zu ihrer Existenzweise zu bekehren, die beste, wenn nicht die einzig mögliche Lebensweise.

Auf der einen Seite steht also der Isolationismus: Man muß sich von einer als verdorben betrachteten äußeren Welt abzuschotten; auf der anderen Seite steht der „Kreuzzug”: Die ganze Welt muß nach und nach vom universellen Wert des amerikanischen Systems durchdrungen werden. So wie die Freihandelspolitik in der Wirtschaft nie den Rückgriff auf Protektionismus verboten hat, wann immer es nötig war, so sind auch in der Außenpolitik Isolationismus und der Geist des „Kreuzzugs” keineswegs unvereinbar. Sie sind lediglich zwei Facetten ein und derselben messianischen Berufung und gleichzeitig ein typisches Beispiel dafür, daß der politische Universalismus immer nur die Maske eines Ethnozentrismus ist, d.h. eines auf die Dimensionen des Planeten ausgeweiteten Partikularmodells.

Diese grundlegende Gewißheit erklärt die erstaunliche Stabilität des amerikanischen Systems. In der Geschichte der USA gab es nur ein einziges großes politisches Modell, das seit der Zeit der Gründerväter praktisch unverändert geblieben ist. Die Verfassung – die stark von Locke und allgemein von der puritanischen Aufklärung inspiriert –, ist in den USA eine Art heiliges Monument, das den Amerikanismus zu einer regelrechten Religion macht. Sowohl Konservative als auch Liberale stimmen darin überein, daß es ihre wichtigste Mission ist, der Menschheit die frohe Botschaft zu verkünden. Selbst die wildesten Utopisten stellen weder die Autorität der Verfassung noch die Überlegenheit der individuellen Initiative in Frage. Das System kann eventuell verbessert oder reformiert werden; es kann nicht ernsthaft verändert werden, da es mit der Existenz des Landes verwoben ist.

Während es in Europa immer möglich ist, sich auf dieses oder jenes der unzähligen politischen Modelle zu berufen, die es in der Vergangenheit gegeben hat, läuft die politische Debatte in Amerika sehr oft auf eine Diskussion über die vergleichenden Verdienste von Hamilton, Jefferson, Washington usw. hinaus. Faschismus und Kommunismus haben in den USA nie eine wirkliche Bedeutung gehabt, ebenso wenig wie konterrevolutionäres Denken, kritischer Marxismus, revolutionärer Syndikalismus, Anarcho-Syndikalismus, Situationismus usw.

Die USA sind ein Land, in dem sich die meisten Menschen mit dem politischen Diskurs beschäftigen. An den Universitäten dreht sich ein großer Teil der Politikwissenschaft (political science) daher um eine endlose Diskussion über das Werk der Gründerväter, das als unumstößliche Errungenschaft dargestellt wird. Die ewige Debatte zwischen Föderalisten und Antiföderalisten, zwischen Hamiltonianern und Jeffersonianern bleibt in vielerlei Hinsicht ein Familienstreit, der niemals den politischen Grundkonsens in Frage stellt.

Das politische Leben reduziert sich auf einen Wettbewerb zwischen zwei großen Parteien, die in den Augen der Europäer mehr oder weniger das Gleiche sagen. Die Wahlkämpfe mit Parteitagen, die wie Zirkusvorstellungen organisiert sind, hängen dort völlig vom Geld ab. Die „Demokratie” in Amerika ist nichts anderes als eine Finanzoligarchie. Die Wahlen sind ein Wettstreit zwischen Milliardären, denn für die Amerikaner ist es normal, daß Politiker reich sind (in einer normalen Gesellschaft sollte es meiner Meinung nach unmöglich sein, gleichzeitig reich und mächtig zu sein), genauso wie es normal ist, daß sie bei öffentlichen Versammlungen ihre Frauen und Kinder zur Schau stellen und in ihren Reden immer wieder religiöse Anspielungen machen. In Kontinentaleuropa würde ein Staatsoberhaupt, das zu seinen Wählern sagt: „Gott segne euch!” und die Parlamentarier zu einem Tag des Gebets und Fastens einlädt, von vielen als reif für die Psychiatrie angesehen werden…

Dieser institutionellen Unbeweglichkeit entspricht der ungeheure Konformismus und die außergewöhnliche Monotonie einer Gesellschaft, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mit derselben fügsamen Überzeugung behauptet, daß Amerika ein „freies Land” (free country) ist, während sie gleichzeitig denselben Moden folgt, denselben Konventionen huldigt, dieselben Slogans wiederholt und natürlich daselbe Outfit trägt (Jeans und T-Shirt mit den Marken einer Universität, die man nicht besucht hat, oder einer Baseballmannschaft, der man nicht angehört). Diese Monotonie wurde bereits von Tocqueville hervorgehoben, der bemerkte, daß Abfolge vorübergehender Aufregungen und kurzlebiger Moden sie nie zu unterbrechen vermochte.

Derselbe messianische Glaube inspiriert eine Außenpolitik, deren einziges Prinzip darin besteht, daß das, was für Amerika gut ist, automatisch auch für den Rest der Welt gut ist – was bedeutet, daß von Verbündeten nur finanzielle Unterstützung und Applaus zu erwarten werden. Als Säkularisierung des puritanischen Ideals beruht diese Außenpolitik auf der Vorstellung, daß nur der Mangel an Informationen oder die intrinsische Schlechtigkeit ihrer Führer erklären kann, warum die verschiedenen Völker der Welt zögern, die amerikanische Lebensweise zu übernehmen. Wie Jean Baudrillard schreibt, repräsentieren die USA eine Gesellschaft, die sich „mit einer Schamlosigkeit, die man für unerträglich halten kann, in der Idee einrichtet, daß sie die Verwirklichung all dessen ist, wovon andere geträumt haben”.

Die „internationalen Beziehungen” bedeuten also nichts anderes als die weltweite Verbreitung des amerikanischen Ideals. Da die Amerikaner das Modell in Perfektion repräsentieren, benötigen sie keine Kenntnisse über andere. Es liegt an den anderen, ihre Art und Weise zu übernehmen. „Der Austausch ist ungleich”, sagt Thomas Molnar, „denn Amerika hat nichts zu lernen, aber alles zu lehren”. Und in der Tat: Alles, was in Amerika geschieht, wird auch in anderen Teilen der Welt geschehen. Mit anderen Worten: Die Außenpolitik zielt darauf ab, eine vereinte Menschheit zu schaffen, die keine Außenpolitik mehr braucht. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß alle Rückschläge, die die USA im internationalen Leben erleiden, so oft auf ihre schiere Unfähigkeit zurückzuführen sind, sich vorzustellen, daß andere Völker anders denken könnten als sie selbst. In der Tat existiert die Außenwelt („the rest of the world”) für die Amerikaner schlichtweg nicht, oder besser gesagt, sie existiert nur, solange sie amerikanisiert wird, was eine notwendige Voraussetzung dafür ist, daß sie verständlich wird.

Alle Beobachter haben festgestellt, wie wichtig die Religion in der amerikanischen Gesellschaft ist. „In God we trust”: Das steht auf allen Banknoten und ist seit 1956 sogar eine nationale Währung. In den USA geht fast jeder offiziellen Zeremonie ein Gebet voraus oder folgt darauf, und schon 1923 konnte Rev. J.B. Soames in Washington anläßlich einer feierlichen Segnung von Militärgerät erklären: Wenn Jesus Christus auf die Erde zurückkäme, wäre er weiß, amerikanisch und stolz darauf!”

Tocqueville hatte es seinerzeit bereits beobachtet: „Es ist die Religion, die die angloamerikanischen Gesellschaften hervorgebracht hat: Das darf man nie vergessen; in den Vereinigten Staaten verschmilzt die Religion mit allen nationalen Gewohnheiten und allen Gefühlen, die das Vaterland hervorbringt”. Allerdings wird diese Religion im allgemeinen in einem optimistischen Sinne neu definiert, der den Anforderungen eines gewissen praktischen Materialismus und vor allem den Bestrebungen eines Volkes entspricht, das nie aufgehört hat, an die Tugenden der Technologie zu glauben, und das spontan – weil ihm jeder tragische Sinn fremd ist – glaubt, daß sich die Dinge am Ende immer zum Besseren wenden.

Für die Gründerväter zum Beispiel, schreibt Thomas L. Pangle, muß das Christentum aufhören, den Menschen die Herausforderung eines transzendenten Ziels zu bieten, das von ihnen verlangt, sich innerlich von der profanen Existenz zu lösen. Stattdessen muß die Religion, die als allgemeines Produkt verstanden wird, zur schützenden Schicht – d. h. zum Mittel – der wirtschaftlichen Produktivität und eines republikanischen politischen Lebens werden, das sich der Sicherheit, dem Wohlstand und der Garantie widmet, daß jeder Einzelne seine irdische Befriedigung frei verfolgen kann.

Im Grunde geht es darum, die Religion mit einem von der Aufklärung übernommenen Optimismus zu verknüpfen, der in der Ausrichtung auf die Zukunft und der Mystik des Fortschritts verwurzelt ist. Von John Winthrop bis George W. Bush und Barack Obama haben die Amerikaner nie ihren Fortschrittsglauben abgelegt, der sie zu der Annahme verleitet, daß die Entwicklung der Welt der Dinge zur Verbesserung des Menschen führt und daß man nur in dieser Welt und durch materielle Güter gerettet werden kann – daher die Idee einer „Erlösung” durch Bekehrung zum „American Way of Life”.

Der Calvinismus hatte sich bereits bemüht, das Problem der Prädestination zu lösen, indem er materiellen Erfolg als Zeichen der göttlichen Erwählung interpretierte. Auch die Verherrlichung der individuellen Leistung, des kapitalistischen Geistes, der friedensstiftenden Tugenden des „sanften Handels” nährt die Hoffnung, daß die Anhäufung von Reichtum eines Tages das Ende des Bösen herbeiführen wird. Das Böse wird zu einem „Fehler”, einem Zustand der Unvollkommenheit, der durch mehr Handel und „Entwicklung” schließlich überwunden wird. Von da an ist es nicht mehr die Moral, die den Zins rechtfertigt, sondern der Zins, der es ermöglicht, die Moral zu bewerten. In einem Brief von 1814 an Thomas Law sagte Jefferson bereits: Die Natur hat den Nutzen für den Menschen zum Maßstab und Kriterium der Tugend gemacht”. Richter Holmes fügte hinzu: „Es gibt kein besseres Kriterium für die Wahrheit eines Gedankens als seine Fähigkeit, auf einem Markt akzeptiert zu werden”. Die Wahrheit wird in gewisser Weise kommerziell. „Geld ist die Quelle aller Güter”, versicherten die Televangelisten, bevor sie einen Aufruf an großzügige Spender richteten.

Die Puritaner hatten von Locke die Idee übernommen, daß alle anderen Menschenrechte aus dem „natürlichen Recht auf Eigentum” abgeleitet werden sollten. Für Madison bestand der „erste Zweck der Regierung” darin, die Mittel zum Erwerb von Eigentum zu gewährleisten. Im Jahr 1792 präzisierte er: „So wie von einem Menschen gesagt wird, er habe ein Recht auf Eigentum, so kann er auch als Eigentümer seiner Rechte bezeichnet werden”. Rechte werden daher als inhärente Merkmale der menschlichen Natur definiert, als etwas, das Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies besitzen, und es sind diese Rechte, die Regierungen die Pflicht haben zu „garantieren”.Wir lehnen diese Vorstellung eines subjektiven Rechts vollständig ab, die dem traditionellen Verständnis des objektiven Rechts (Recht als Gerechtigkeitsverhältnis, das jedem ermöglicht, was ihm zusteht) vollkommen entgegengesetzt ist, genauso wie sie die Idee ablehnt, daß privates Eigentum ein absolutes Recht ist.

Dieses Menschenbild war unerläßlich für die Gründung einer Gesellschaft, die Ezra Pound treffend als „ausschließlich kommerzielle Zivilisation” bezeichnete. Diese Aussage deckt sich mit der von Tocqueville: „Die Leidenschaften, die die Amerikaner bewegen, sind kommerzielle Leidenschaften, keine politischen Leidenschaften. Sie tragen die Gewohnheiten des Handels in die Politik hinein”. Amerika war zwar nicht die erste Handelsrepublik der Geschichte, aber es war die erste, die den Grundsatz aufstellte, daß wirtschaftliche Aktivitäten in keiner Weise eingeschränkt werden dürfen, da sie das bevorzugte Mittel zur allgemeinen Verbesserung der Menschheit sind. Wenn der Einzelne auf sich selbst gestellt ist, ist er nur noch so viel wert wie seine äußere Aktivität, und es ist ganz natürlich, daß seine wirtschaftliche Leistung als Maßstab für seinen Wert herangezogen wird.

„In Amerika”, schreibt Hermann von Keyserling, „glauben die Leute wirklich, daß der Reiche ein besserer Mensch ist, nur weil er Geld hat; in Amerika schafft der Besitz von Geld tatsächlich moralische Rechte“. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno stellten ihrerseits fest: „In den USA gibt es keinen Unterschied zwischen dem Menschen und dem wirtschaftlichen Schicksal. Jeder Mensch ist nur das, was sein Vermögen, sein Einkommen, seine Situation, seine Perspektiven repräsentieren […] Jeder ist so viel wert, wie er verdient, jeder verdient so viel, wie er wert ist”. Der kapitalistische Wettbewerb stellt dann das moralischste Tribunal dar, das es gibt: Die Reichen sind die „Gewinner”, und die „Gewinner” sind die Besten. Wir befinden uns mitten im Wirtschaftsdarwinismus. Das ist der Vorrang der Zivilisation des Habens vor der Zivilisation des Seins.

Solche Merkmale sind natürlich nicht gerade förderlich für meditatives Denken und innere Einkehr. Wenn die Beziehung zu anderen Menschen nur durch den gemeinsamen Respekt vor materiellen Dingen und dem Dollar-Gott genährt wird, führt dies zu einer grenzenlosen Entfremdung. „Für die Amerikaner”, so notierte Anaïs Nin in ihrem Tagebuch, „ist es eine Sünde, ein Innenleben zu haben”. Diese Formulierung ist vielleicht übertrieben, aber sie stimmt mit einigen Schlußfolgerungen von Christopher Lasch überein. Sagen wir einfach, daß es in den USA eine ständige Tendenz gibt, Intelligenz auf technisches Wissen zu reduzieren und daß die Fixierung auf wirtschaftliche Grundsätze den Verzicht auf reine Ideen ermöglicht. Wer sich in Amerika bemüht, eine originelle und tiefgründige Idee zum Ausdruck zu bringen, riskiert immer die Antwort:„Sei nicht so negativ”. Praktische Ideen sind so viel positiver!

Für die Gründerväter bestand der Zweck der Regierung darin, die „unveräußerlichen Rechte” zu sichern, die Individuen besitzen, die „gleich erschaffen” wurden. Die Politik wird somit von Anfang an auf Moral und Recht zurückgeführt. „Wir sind die moralischste Rasse der Welt”, sagte H.L. Mencken.

Es gibt keine andere, die wir in dieser Hinsicht nicht verachten; unsere erklärte nationale Berufung und Bestimmung ist es, ihnen allen unsere unvergleichliche Rechtschaffenheit einzuimpfen. Letztendlich beurteilen wir alle Ideen nach moralischen Kriterien; moralische Werte sind unser einziger ständiger Wertmaßstab, egal ob es sich um die schönen Künste, die Politik, die Philosophie oder das Leben selbst handelt.

In den USA beginnt politisches Handeln immer mit einer moralischen Erkenntnis („Es muß etwas dagegen unternommen werden”), die unweigerlich eine „technische” Prüfung der Angelegenheit nach sich zieht.

Das Gesetz selbst ist nur eine Ausdrucksform, eine rechtliche Ausgestaltung der für die Menschenrechtsideologie charakteristischen Moral. Daher die außerordentliche Bedeutung der Juristen (lawyers) im politischen Leben der USA und das, was Michel Crozier als „Verfahrenswahn” und „Rechtswahn” bezeichnet hat. Gleichzeitig wird die intrinsische Überlegenheit des Privaten über das Öffentliche, der „Zivilgesellschaft” über die Welt der Politik, des wirtschaftlichen und kommerziellen Wettbewerbs über das Gemeinwohl proklamiert. Thomas Molnar schreibt: „Der Amerikaner, ob Regierungsmitglied oder Mann von der Straße, ist davon überzeugt, daß Politik als solche eine schlechte Sache ist und daß etwas anderes gefunden werden muß, damit die Völker miteinander kommunizieren und friedliche Beziehungen aufbauen können.” Nun neigen die Amerikaner, wie ich bereits sagte, zu dem Glauben, daß das Böse verschwinden kann und daß es möglich ist, der menschlichen Existenz ihre Tragik zu nehmen. Deshalb wollen sie die Politik abschaffen und damit der Geschichte ein Ende setzen. Octavio Paz meinte: „Amerika wurde gegründet, um aus der Geschichte auszusteigen”. Das ist wohl der Grund, warum Francis Fukuyama glaubte, das Ende der Geschichte verkünden zu können…

Da den Amerikanern die Natur des Politischen unbekannt ist, ist Krieg für sie immer noch in erster Linie ein moralischer „Kreuzzug”. Deshalb reicht es ihnen nicht, den Sieg zu erringen. Sie müssen auch die Vernichtung eines Feindes erreichen, der immer nicht nur als momentaner Gegner, sondern als die Verkörperung des Bösen dargestellt wird. Getarnt als „humanitäre Missionen” oder internationale Polizeioperationen sind amerikanische Kriege immer „gerechte Kriege”, d.h. Kriege justa causa – und nicht justus hostis –, in denen der Feind ausnahmslos nicht als momentaner Gegner (der später genauso gut ein Verbündeter sein könnte), sondern als Verbrecher dargestellt wird, der bestraft und umerzogen werden muß.

Es gibt also große Unterschiede zwischen dem kontinentaleuropäischen Denken und der amerikanischen Mentalität, die von einer wirtschaftlichen, prozeduralen und kommerziellen Weltanschauung, der Allgegenwart biblischer Werte, Technikoptimismus, Kontraktualismus, der Sprache der Rechte und dem Glauben an den Fortschritt geprägt ist.

Ich glaube, ich kenne die Vereinigten Staaten ziemlich gut. Ich bin sehr oft dorthin gereist und habe mich mehrmals dort aufgehalten. Ich habe das Land kreuz und quer bereist, von Washington bis Los Angeles, von New Orleans bis Key Largo, von San Francisco bis Atlanta, von New York bis Chicago. Natürlich habe ich dort wie auch anderswo eine Reihe von Dingen gefunden, die meinem Geschmack entsprechen. Die Amerikaner sind sympathisch, gastfreundlich (auch wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen bei ihnen oft oberflächlich bleiben). Sie haben einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn. Ihre großen Universitäten bieten Arbeitsbedingungen, von denen Europäer nur träumen können. Ich vergesse auch nicht, welchen Einfluß das amerikanische Kino auf mich hatte, in einer Zeit, als es sich nicht auf Spezialeffekte oder stereotype Albernheiten beschränkte, und vor allem die große amerikanische Literatur, die übrigens oft eine kritische Literatur war (Mark Twain, Edgar Poe, Herman Melville, John Steinbeck, John Dos Passos, William Faulkner usw.).

Ich sehe aber auch die Kehrseite des American Way of Life: Kultur, die als Ware oder „Unterhaltung” begriffen wird, die technomorphe Auffassung des Daseins, die die Menschen in die Verlängerung ihrer Fernbedienung oder das Terminal ihres Computers verwandelt, die verabscheuungswürdigen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, der Autokult und die kommerzielle Architektur (auf dem kleinsten afrikanischen Markt gibt es mehr echte Sozialität als in irgendeinem Supermarkt, ein beispielhaftes Symbol des westlichen Nihilismus), übergewichtige Kinder, die vom Fernsehen erzogen werden, die Verherrlichung der „Gewinner” und die Besessenheit vom Konsum, Fastfood, die Mischung aus puritanischen Verboten und hysterischen Überschreitungen, Heuchelei und Korruption, etc. Ich schreibe das alles natürlich sehr schnell, mit dem offensichtlichen Risiko, ungerecht zu sein. Aber es stimmt schon, daß ich für dieses Amerika, das der „Golden Boys” und der „Red Necks”, der „Bodybuilder” und der „Bimbos”, des „American Dream” und der „Cheerleader”, der „Money Makers” und der „Broker” der Wall Street, wenig Sympathie empfinde.

Ist die Globalisierung heute gleichbedeutend mit der Amerikanisierung? Man ist oft versucht, mit Ja zu antworten. Tatsache ist, daß die USA ihre Probleme fortwährend in den Rest der Welt exportiert haben, angefangen mit Europa. In Meinungsumfragen vermischt sich die Feindseligkeit gegenüber der Globalisierung übrigens häufig mit der Ablehnung der Hegemonie der USA. Politisch und kulturell ist die Globalisierung zum großen Teil eine Amerikanisierung, da die dominierende Macht sowohl ihre Waren, ihr Kapital, ihre Dienstleistungen und ihre Technologien exportiert, als auch –über die „imaginären Industrien” – ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Lebensstandards und ihre Weltanschauung.

Doch statt von „Amerikanisierung sollte man vielleicht besser von „Verwestlichung” sprechen. Viele Amerikaner betrachten sich selbst als „Westler” – manche machen aus dem Westen sogar ein Synonym für die „weiße Welt” (eine politisch sinnose Aussage).

Etymologisch gesehen ist der „Westen” der Ort des Sonnenuntergangs, der Ort, an dem die Dinge zu Ende gehen und die Geschichte endet. In der Vergangenheit bezeichnete der Begriff eines der beiden Reiche (die pars occidentalis), die aus der Zerschlagung des Römischen Reiches hervorgegangen waren. Später wurde er zum Synonym für die „westliche Zivilisation”. Heute neigt er, wie viele andere Dinge auch, dazu, eine wirtschaftliche Färbung anzunehmen: Die westlichen Länder sind in erster Linie die „entwickelten” Länder. Ich verwende diesen Begriff nicht in einem positiven Sinne. In meinen Augen ist der Westen heute – im Gegensatz zu Europa – Träger eines Gesellschaftsmodells, das dem Nihilismus entspricht. Auf meinen Reisen durch die Welt habe ich gesehen, was mit tief verwurzelten Kulturen geschieht, wenn sie vom „Westen” berührt werden: Traditionen werden zu Folklore für Touristen, der soziale Zusammenhalt löst sich auf, Verhaltensweisen werden utilitaristisch und eigennützig, die Sprache, Bilder und Musik der Amerikaner prägen die Köpfe, die Leidenschaft für das Geld überschwemmt alles.

Mit „Westen” wird manchmal auch die Gesamtheit der USA und Europas bezeichnet. Wie Immanuel Wallerstein (›Does the Western World Still Exist?‹) kürzlich feststellte, ist diese Einheit, sofern sie jemals existiert hat, bereits dabei, sich aufzulösen. Die transatlantische Kluft wird jeden Tag größer. Die Globalisierung, die den Wettbewerb verschärft, zeigt die tiefe Kluft zwischen den europäischen und den amerikanischen Interessen auf. Auf geopolitischer Ebene sind die Dinge noch klarer: Die USA sind eine Seemacht, während Europa eine Kontinentalmacht ist. Nun sind aber, wie Carl Schmitt deutlich gemacht hat, die Logiken der Erde und des Meeres entgegengesetzte Logiken. Die Erde steht dem Meer gegenüber wie die Politik dem Handel, die Grenze der Welle, das tellurische Element dem ozeanischen Element. Ich bin daher kein „Westler”, sondern ein Europäer.

Wirtschaftlich gesehen wurde der Kapitalismus nicht auf der anderen Seite des Atlantiks geboren, aber dort wurde er wirklich in die nationale Ideologie eingebaut: Vorrang des Vertrags, Verringerung der Rolle des Staates, Kritik am „big government”, Verherrlichung von Wettbewerb und Freihandel etc. Auch der Begriff „Governance”, der zunächst auf Unternehmen und später auf das politische und soziale Leben angewandt wurde, entstand in den USA. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die US-Wirtschaft seit 1945 zum zentralen Pfeiler des internationalen Finanzsystems geworden ist. Es waren auch die USA, die 1947 den IWF und das GATT (das 1995 von der WTO abgelöst wurde) ins Leben gerufen haben. Sie waren es auch, die ab 1974 den Kapitalverkehr freigaben, um ihre Defizite zu finanzieren. Im Bereich des Finanzkapitals behalten sie auch heute noch eine weitaus bessere Position als im industriellen Bereich, da sie die Regeln des internationalen Handels aufstellen und ihre Geldpolitik der wichtigste Mechanismus zur Regulierung der globalen Finanzakkumulationsweise bleibt.

Wie viele Europäer bin ich in dieser Hinsicht verblüfft, daß die amerikanischen Konservativen fast einstimmig ein kapitalistisches System verteidigen, dessen Expansion methodisch alles zerstört, was sie erhalten wollen. Trotz der strukturellen Krise, in der sich das kapitalistische System seit einigen Jahren befindet, feiern die amerikanischen Konservativen den Kapitalismus weiterhin als ein System, das die Freiheit des Einzelnen, das Privateigentum und den freien Handel respektiert und garantiert. Sie glauben an die inhärenten Tugenden des Marktes, dessen Mechanismus das Paradigma aller sozialen Beziehungen darstelle. Sie glauben, dass der Kapitalismus etwas mit Demokratie und Freiheit zu tun hat. Sie glauben an die Notwendigkeit (und die Möglichkeit) eines ewigen Wirtschaftswachstums. Sie glauben, daß Konsum glücklich macht und daß „mehr” immer gleichbedeutend mit „besser” ist.

Der Kapitalismus ist jedoch keineswegs konservativ. Er ist sogar das genaue Gegenteil. Schon Karl Marx stellte fest, daß er die Zerschlagung des Feudalismus und die Ausrottung organischer Kulturen und traditioneller Werte zu verantworten hat, die er in den „eisigen Gewässern der egoistischen Berechnung” ertränkte. Heute ist das kapitalistische System mehr denn je auf die Überakkumulation von Kapital ausgerichtet. Es braucht immer mehr Handel, immer mehr Märkte, immer mehr Profite. Ein solches Ziel kann nur erreicht werden, wenn alles, was ihm im Wege steht, abgebaut wird, angefangen bei den kollektiven Identitäten. Eine vollständige Marktwirtschaft kann nur dann dauerhaft funktionieren, wenn die meisten Menschen eine Kultur der Mode, des Konsums und des unbegrenzten Wachstums verinnerlicht haben. Der Kapitalismus kann den Planeten nur dann in einen riesigen Markt verwandeln – was sein Ziel ist –, wenn dieser Planet zuvor atomisiert wurde, wenn er auf jede Form der symbolischen Vorstellungswelt verzichtet hat, die mit dem Fieber des Neuen, der Logik des Profits und der grenzenlosen Akkumulation unvereinbar ist.

Aus diesem Grund ist der Kapitalismus auch das System, das sich als am wirksamsten erwiesen hat – viel wirksamer als der Kommunismus! – um Grenzen zu verwischen. Der Grund dafür ist, daß die wirtschaftliche Logik den Profit über alles stellt. Das hatte schon Adam Smith gesagt, als er erklärte, daß der Kaufmann kein anderes Vaterland hat als das Gebiet, in dem er seinen größten Gewinn erzielt. Gegen diese Warenlogik, von der sich die USA allzu oft inspirieren lassen, wenden wir uns mit größter Entschiedenheit.