Constantin von Hoffmeister

erörtert die Auswirkungen der Bombardierung Dresdens – wie sie in Kurt Vonneguts ›Schlachthof 5‹ geschildert wird – auf die ›conditio humana‹ und den Begriff des Seins nach Martin Heidegger.

 

In der Stille der Nacht zerriß das Dröhnen der Flugzeugmotoren die Ruhe über Dresden. Die Bewohner der Stadt kauerten in Todesangst, während Bomben auf sie niederprasselten, Gebäude zerstörten und unterschiedslos Menschenleben auslöschten.

Die Amerikaner und Briten hatten die Stadt in eine brennende Hölle verwandelt, die nur noch schwelende Ruinen und bis zu 200.000 Tote hinterließ. Dieses abscheuliche Ereignis war nur ein winziger Makel in einem Krieg, der bereits unzählige barbarische und völkermörderische Verbrechen hervorgebracht hatte. Doch für die Menschen in Dresden war es ein katastrophales Ereignis, das tiefe Wunden schlug und ein schweres Erbe an Qual und Leid hinterließ, das nie ganz verheilen sollte.

Im Jahr 1969 erschien ein besonderes literarisches Werk – ein autobiografischer ›Science-Fiction‹-Roman des wortmächtigen und rebellischen Kurt Vonnegut mit dem Titel ›Schlachthof Fünf‹. Dieser literarische LSD-Trip beschreibt die surreale Reise von Billy Pilgrim, einem amerikanischen Kriegsgefangenen, der inmitten der Bombenangriffe auf Dresden feststeckt. Pilgrim hüpfte durch die Zeit wie ein verrückter Flipper und berichtete von den Gräueltaten mit dem emotionslosen Refrain „So geht das“. Es war, als hätte Vonnegut einen Weg gefunden, die Bruchstücke der Geschichte und die Realität zu einem kohärenten, wenn auch beunruhigenden Ganzen zusammenzufügen.

Kurt Vonnegut, ein junger amerikanischer Soldat, war den Schrecken des Krieges ausgeliefert, nachdem er während der Ardennenoffensive gefangen genommen und nach Dresden verbracht worden war. Die Stadt war berüchtigt für ihre Schlachthäuser, die als Behelfsgefängnisse dienten und deren Zahl von eins bis zwölf reichte. Diese gräßlichen Bauten überragten das sie umgebende Fleischereiviertel und warfen einen Schatten von Tod und Verzweiflung.

Als die Alliierten Dresden mit fast 4.000 Tonnen Sprengstoff bombardierten, suchte Vonnegut Schutz in den Tiefen von ›Schlachthof 5‹. Dieses düstere Gebäude, einst ein Symbol für die brutale industrielle Vergangenheit der Stadt, bot nun einen Hoffnungsschimmer inmitten des Chaos und der Zerstörung, in der Vonnegut trotz überwältigender Widrigkeiten am Leben festhielt.

Als Vonnegut aus den Tiefen von ›Schlachthof 5‹ auftauchte, bot sich ihm ein Bild unsagbaren Grauens. Die Stadt Dresden lag in Trümmern, ein schwelender Haufen aus Schutt und Asche. Leichen lagen auf den Straßen, ihre verdrehten Gliedmaßen und leblosen Formen waren ein schauriges Zeugnis der zerstörerischen Gewalt des Krieges.

Vonnegut und seine Mitgefangenen wurden damit beauftragt, die Leichen für ein Massenbegräbnis zusammenzutragen. Doch es gab zu viele Tote, zu viele zerbrochene und zerschlagene Körper, um sie auch nur annähernd würdig zu bestatten. Daher setzten die Deutschen ihre Flammenwerfer ein und verbrannten die Toten, wo sie lagen.

Vonneguts literarisches Werk sorgte in der Welt der Literatur für Aufsehen und erntete sowohl das Lob der Kritiker als auch einen kommerziellen Erfolg, der sich wie ein Sturm auf die Branche auswirkte. Die Verurteilung des sinnlosen Krieges traf den Nerv der Leser, die sich mit der düsteren Realität einer Welt am Rande der nuklearen Auslöschung auseinandersetzten.

Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs, der Amerika zerriß, wurde ›Slaughterhouse-Five‹ zu einem Schlachtruf für eine Generation desillusionierter Jugendlicher, die die hohle Rhetorik ihrer Anführer durchschauten und sich nach einer Welt sehnten, in der Gewalt nicht der Lösungsweg sein würde.

Auf seine einzigartige Art und Weise traf Vonneguts Arbeit ins Mark, ähnlich wie die Prophezeiung der Hexen in ›Macbeth‹. Die scharfe Kritik des Autors an der Sinnlosigkeit des Krieges fand beim Publikum Anklang, das sich schwer tat, eine Welt zu begreifen, in der Rohheit und Verderben die vorherrschende Praxis zu sein schienen. Wie ein Echo auf die berühmte Zeile des Theaterstücks „Es ist ein Märchen, erzählt von einem Idioten, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“ (5. Akt, 5. Szene / Macbeth), legte ›Slaughterhouse-Five‹ die Hohlheit des Kriegsapparats und seine entmenschlichenden Auswirkungen auf alle, die in seinen Würgegriff geraten waren, offen. Wie ›Macbeth‹ sprach das Buch eine allgemeine Wahrheit über die korrupte und gewalttätige Natur der Macht und ihre Auswirkungen auf diejenigen, die sie ausüben, wie auch auf diejenigen, die ihre Last tragen, an.

Martin Heidegger folgend, liegt das Wesen des Seins in seiner Potenzialität für das Sein und in seiner Fähigkeit, sich durch die Welt zu offenbaren, begründet. Diese Offenheit ist wesentlich für die menschliche Existenz und ermöglicht es uns, in unserem Leben Bedeutung zu finden und zu schaffen. Die Verwüstung der Städte und die Grausamkeit des Krieges stellen jedoch eine Verengung dieser Offenheit dar. Sie zerstören den Rahmen, der die Offenbarung des Seins ermöglicht, und hinterlassen eine Leere. Diese Leere stellt einen wesentlichen Verlust von Sinn und Richtung dar und kann ein Gefühl von Angst und Nihilismus hervorrufen.

Im Fall der Feuersbrunst von Dresden bedeutet die Vernichtung der Stadt einen tiefgreifenden Verlust des Seins. Ihre Bauten und Traditionen wurden vernichtet, zurück blieben nur Schutt und Chaos. Diese Auslöschung stellt einen fundamentalen Affront gegen die Offenheit des Seins und die menschliche Fähigkeit dar, im Chaos noch eine Ordnung zu erkennen.

Aus einer Heideggerschen Perspektive liegt die Ungeheuerlichkeit des Brandes von Dresden nicht nur im Verlust von Menschenleben und in der Zerstörung von Gütern, sondern in der Zertrümmerung des Rahmens, der die Offenbarung des Seins ermöglicht. Es handelt sich um eine Art Abschottung von der Welt, eine Absage an die Offenheit, die für die menschliche Existenz unerläßlich ist. So ist das Verschwinden von Dresden nicht nur eine Frage der physischen Auslöschung, sondern der Auslöschung des eigentlichen Wesens der menschlichen Existenz.

Vonneguts Worte durchdringen den „Nebel des Krieges“ wie ein Messer und schneiden die Wunde auf, die seine Erfahrung des flammenden Infernos hinterlassen hat. Er begann seinen Roman mit dem unvergeßlichen Satz „All dies geschah mehr oder weniger“, womit er die Formbarkeit der Erinnerung und die Unmöglichkeit, das ganze Ausmaß des Gemetzels zu erfassen, anerkannte.

Für den Rest seines Lebens sprach Vonnegut über die Tragödie und zeichnete ein schonungsloses Porträt des totalen Angriffs auf das, was er als „die vielleicht schönste Stadt in Europa“ bezeichnete. Seine Worte waren ein Zeugnis für das Leid derer, die die Bombardierung und ihre Folgen erlebten, und er beschrieb die mühevolle Aufgabe, verschüttete Leichen zu bergen, in seiner typisch freimütigen und schonungslosen Sprache: „eine furchtbar aufwendige Ostereiersuche“. Durch sein Schreiben sorgte Vonnegut dafür, daß die Erinnerung an diese Gräueltat weiterleben würde, als Warnung vor dem grotesken Terror des Krieges und der Zerbrechlichkeit des Lebens selbst.

In seiner ihm eigenen Art machte Vonnegut die drollige Bemerkung, daß nur er von den Verwüstungen in Dresden profitiert habe. Er witzelte, daß er für jede verlorene Seele einen Hungerlohn von zwei oder drei Dollar verdiene, und scherzte, als sei er in einem Geschäft tätig. Vonneguts sardonischer Humor, der an den Witz des antiken griechischen Epos-Dichters Homer erinnert, diente als bissiger Kommentar zu den sinnlosen Verwüstungen, die der Krieg anrichtet. Wie der listige Odysseus war Vonnegut ein Überlebender großer Widrigkeiten und Leiden, und seine Schriften waren ein Zeugnis für den unbeugsamen Geist des Menschen im Angesicht einer kalkulierten Katastrophe. Während Odysseus jedoch den Gefahren eines tückischen Meeres trotzen und sich mit dem Zorn der Götter auseinandersetzen mußte, hatte Vonnegut die ebenso tückische Landschaft der Nachkriegsgesellschaft zu durchqueren, in der die Narben der Vergangenheit noch immer eiterten und die Schatten der Verstorbenen die Lebenden verfolgten.

Nach der Bombardierung Dresdens lag die Stadt in Trümmern, und viele ihrer historischen Gebäude wurden in Schutt und Asche gelegt. Im Laufe der Jahre hat die Stadt einen mühsamen Wiederaufbauprozess vollzogen, bei dem Architekten und Bauarbeiter unermüdlich daran arbeiteten, viele der ikonischen Bauwerke der Stadt in ihrem früheren Glanz wiederherzustellen.

Ein solches Gebäude ist der ›Schlachthof 5‹, der in die ›Halle 1‹ des Dresdner Messegeländes umgewandelt wurde. Das Gebäude, das einst ein düsteres Symbol für das Abschlachten von Tieren war, wurde komplett umgestaltet, um einen modernen, eleganten Veranstaltungsort für Konferenzen und Tagungen zu schaffen. Das Gebäude hat trotz seines neuen Erscheinungsbildes noch einige seiner ursprünglichen architektonischen Merkmale bewahrt, die von außen zu sehen sind. Besucher der Stadt können auch einen Blick auf die grausige Vergangenheit des Gebäudes werfen, denn ein einfaches blaugraues Schild mit dem ehemaligen Namen erinnert an die tragischen Ereignisse, die sich dort abgespielt haben. Obwohl das Gebäude für Besucher geschlossen ist, gelingt es manchen, die Sicherheitsleute zu überreden, ihnen den Zutritt zum Gelände zu gestatten, um ein Foto zu machen, das einen kurzen Blick in die Vergangenheit erlaubt und an die Unverwüstlichkeit des menschlichen Geistes erinnert.

Quelle: https://arktos.com/2023/03/19/vonnegut-heidegger-and-the-blood-of-dresden/
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