Alain de Benoist

Dies ist der zweite Teil von Auszügen aus Alain de Benoists zeitlosem Essay ›Die Religion der Menschenrechte‹ aus dem Jahr 1988, in dem er die Anwendbarkeit „universeller“ westlicher Ideologien in verschiedenen Kulturen in Frage stellt.

 

Der mit dem Monotheismus verbundene Monohumanismus führt logischerweise zu jener besonderen Form des „Rassismus“, die auf Ethnozentrismus beruht. Die Behauptung, daß es im Grunde nur „einen“ Menschen gibt, bedeutet letztlich, alle Menschen nach denselben Kriterien zu beurteilen, sie durch dasselbe Sieb zu streichen.

Völlig objektive Kriterien kann es jedoch nicht geben – umso weniger, als es kein Modell für die gesamte Menschheit auf kultureller und historischer Ebene gibt. Die Menschen als gleich, die Kulturen als zusammengehörig zu betrachten und ihnen die gleichen Bestrebungen und Rechte zuzuschreiben, bedeutet, sie immer von einem einzigen Standpunkt aus zu betrachten, von dem aus sie nicht gleich sein können.

Edmund Leach argumentierte, daß der Begriff ›Mensch‹ für den Durchschnittsmenschen „unsere Art, Menschen unserer Art“ bedeutet, und oft ist die Reichweite einer solchen Kategorie äußerst begrenzt. Daraus leiten wir ab, daß es niemals eine effektive menschliche Gesellschaft gab und geben wird, in der alle Individuen auch nur annähernd und in gewissem Sinne gleich sind – es sei denn, sie wäre winzig klein. Mit anderen Worten, der Egalitarismus besteht darin, alle Menschen als gleich zu betrachten, allerdings unter der Voraussetzung, daß sie meine moralischen Werte akzeptieren.

Leach kommt zu dem Schluß, daß vielleicht eine künftige Generation den verheerenden Irrtum unserer Zeit aufdecken wird: Nachdem wir mit wissenschaftlichen Methoden entdeckt hatten, daß der Mensch als zoologische Spezies tatsächlich einzigartig ist, waren wir – durch Zwang und politische Propaganda – entschlossen, dem Menschen als kulturellem Wesen und moralischer Person eine ähnliche Bedeutungseinheit aufzuzwingen, die dem wahren Charakter unserer menschlichen Natur widerspricht.

Die Ideologie der Menschenrechte liefert das beste Beispiel für diesen „westlich-biblischen“ Ethnozentrismus. Das Auffälligste an der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ ist, daß sich das „Universelle“ auf die Anmaßung beschränkt, es zu werden. Sie basiert auf den Werten einer bestimmten Religion, dem jüdisch-christlichen Monotheismus, und ist, so Marcel Boisard, „ein Synthesekompromiß zwischen dem westlichen Liberalismus, der abstrakte persönliche Rechte gegen die Gesellschaft definiert, und dem Marxismus, der das Individuum durch die Bindung an die soziale Gruppe schützen will“. Es ist auch bemerkenswert, daß in der achtköpfigen Kommission, die mit der Ausarbeitung dieser „Allgemeinen Erklärung“ beauftragt war, kein einziger Vertreter der ›Dritten Welt‹ zu finden war.

Gibt es auf der ganzen Welt nur eine einzige einheitliche Kultur, deren Modell überall in einem „zivilisierten“ Schulsystem nach westlichen Kriterien gelehrt werden muß? Gibt es in manchen Kulturen nicht auch eine traditionelle Ausbildung, die außerhalb der Schule stattfindet? Der Westen versucht, der gesamten Menschheit eine einheitliche Form der Bildung und Wissensvermittlung und damit auch eine einheitliche Kultur und Weltanschauung aufzudrängen.

Was hingegen ist unter „Sklaverei“ zu verstehen? Nach der Ideologie der Menschenrechte hört die Sklaverei auf, sobald die Arbeit mit Geld bezahlt wird. Aber würde der Import billiger ausländischer Arbeitskräfte nach Europa – etwa aus der Sicht eines Irokesen – nicht als eine neue Form der Sklaverei erscheinen? Und überhaupt: Hat die westliche Welt nicht neue Formen der „Sklaverei“ und der kollektiven Unterdrückung geschaffen, nämlich durch Wirtschaftsimperialismus, kulturelle Vorherrschaft und die „Diktatur der Medien“?

Auf diese Weise erkennen wir die Gefahr, die von „universellen“ Prinzipien ausgeht. Sie beinhalten Konzepte in rechtlichen Bezeichnungen und in typisch westlichen Begriffen, die von jeder Kultur anders wahrgenommen werden. Mit der gesamten christlichen, dann rationalistischen Philosophie… gipfeln sie in derselben Illusion: Sie geben vor, eine juristische und philosophische Sprache für den gesamten Planeten zu entwerfen. Sie wollen einen einzigen Signifikanten (Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens) für alle Signifikate (Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens) finden.

Dieses Vorgehen stößt auf allerlei Hindernisse. So weigern sich die islamischen Länder beispielsweise, das „Übereinkommen über die Zustimmung zur Eheschließung, das Mindestalter für die Eheschließung und die Registrierung von Eheschließungen“ von 1962 zu unterzeichnen. In dem bereits erwähnten Artikel untersucht Marcel Boisard, ob es eine typisch islamische Auffassung von den Menschenrechten gibt. Er stellt insbesondere fest, daß in Ländern mit islamischer Kultur „die Pflicht des Einzelnen Vorrang vor seinem Recht hat“. Die soziale Qualität ist in höchstem Maße eher kollektiv als interindividuell.

Der traditionelle Gegensatz, den die westliche Philosophie zwischen dem persönlichen Vorteil und dem Gemeinwohl gesetzt hat, ist daher im islamischen Sozialdenken theoretisch nicht zu finden. Da die Welt, die Gesellschaft und das Individuum alle moralische Gebote auf verschiedenen Ebenen darstellen, besteht das höchste Gut folglich in der harmonischen Anpassung an diese Gebote. DieGottesrechte“ durch Menschenrechte ersetzen zu wollen, kann dem Islam nur absurd erscheinen.

Artikel 29 der „Allgemeinen Erklärung“ von 1948, übrigens der einzige, der sich mit den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft befaßt, erscheint in rechtlicher Hinsicht besonders widersprüchlich und verworren. Der Rechtsphilosoph John Finnis beurteilt sie als „unklar“ und „zweideutig“. Von welcher Gemeinschaft ist eigentlich die Rede? Die Familie, die Nation, die Gesellschaft, der Stamm? Die Erklärung hält es offenbar für eine Tatsache (oder für wünschenswert), daß alle Menschen in einer ähnlichen sozialen Gruppe leben, die nach dem westlichen Modell rational und rechtlich organisiert ist.

Zu den in dem genannten Artikel genannten „Pflichten“ gehört die Berücksichtigung der „Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohls in einer demokratischen Gesellschaft“. Die Rechte und Pflichten, die mit der wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Unabhängigkeit nationaler Gruppen verbunden sind, werden dagegen überhaupt nicht erwähnt.

Es geht lediglich darum, das „demokratisch-liberal-kapitalistische“ Modell zu respektieren, das auf dem westlichen Universalismus und dem bürgerlichen Individualismus beruht. Aber was können die Begriffe „Moral“ und „öffentliche Ordnung“ außerhalb jeder kulturellen Norm bedeuten? Der letztgenannte Begriff hat im Englischen nicht einmal die gleiche Bedeutung wie im Französischen! Der Versuch, die psychologischen Normen des „allgemeinen Wohls“ für die gesamte Menschheit im Sinne des Bentham’schen Hedonismus zu bestimmen, kann auf juristischer Ebene nicht ernst genommen werden.

Indem die Ideologie der Menschenrechte die Abschaffung ethisch-kultureller Besonderheiten legitimiert, bekräftigt sie die Anhebung des Lebensstandards – der allen „gehört“ – als allgemeingültiges Ideal und wesentliches „Erfolgskriterium“ für die verschiedenen Regierungsformen. In diesem Sinne ist z.B. der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 zu verstehen.

Ein solches dezidiert antihistorisches Ideal ist, wie Jürgen Habermas naiv formulierte, nichts anderes als eine Perspektive auf Frieden und Lebenszufriedenheit. Aber es ist keineswegs sicher, ob diese Perspektive dem Wunsch aller Menschengruppen entspricht oder entsprechen muß. Glück hat nicht nur mit materiellen Dingen zu tun. Es besteht auch aus der notwendigerweise besonderen Bestimmung, die sich die Menschen geben wollen.

Die Ideologie der Menschenrechte kann nur verheerende Auswirkungen auf die Rechts- und Verfassungssysteme der Länder der ›Dritten Welt‹ haben. In manchen Gesellschaften bedeutet der Abbau von Hierarchien nichts anderes als die Zerstörung hart erarbeiteter Gleichgewichte. Der Zerfall von Gewohnheitsrechten und die Abschaffung von Einrichtungen, die dem Schutz von Gemeinschaften dienen sollen, erweisen sich als ebenso verheerend.

Die Verfasser der „Allgemeinen Erklärung“ von 1948 konnten sich offenbar nicht vorstellen, daß ein persönliches Recht für einen afrikanischen Bauern nicht unbedingt die gleiche Bedeutung hat wie für einen wohlhabenden Bürger aus New York.

Der „Schutz des Individuums“ bedeutet nicht, daß ihm überall die im christlich-kanonischen Recht oder im angelsächsischen Naturrecht verankerten Privilegien zugestanden werden. In den ländlichen Demokratien Südamerikas begünstigt das Wahlrecht, das zu einem parlamentarischen Repräsentativsystem führt, eher das Wahlgangstertum und unterwirft das Volk der Tyrannei feudaler Politiker. In einigen afrikanischen Gesellschaften kann die „Freizügigkeit“ zum Zusammenbruch traditioneller Strukturen und zur „wilden“ Proletarisierung eines nicht unbedeutenden Teils der Bevölkerung führen usw.

„Im Namen der Menschenrechte“, stellt Gilles Anquetil fest, „kann man die islamische Rechtspraxis, das Kastensystem in Indien oder zahllose afrikanische soziale Riten leicht und unkontrolliert in den Bereich der Barbarei verweisen, ohne die Werte zu berücksichtigen, die durch solche sozialen Regelungen vermittelt werden und eine authentische Weltordnung organisieren“.

Auf der Grundlage der obigen Ausführungen sind wir nun berechtigt, die Verbreitung der Menschenrechtsphilosophie in den Ländern der ›Dritten Welt‹ als ein (zumindest teilweise) politisch-rechtliches Akkulturationsphänomen und als eine Abkehr von Normen des authentischen Rechts zugunsten abstrakter „universeller“ Normen zu interpretieren, die keinen Bezug zur kulturellen Erfahrung der betroffenen Länder haben. Diese Akkulturation stellt zweifellos eine Form des ›Neokolonialismus‹ dar, die in direktem Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker steht, in dessen Namen die Dekolonisierung zu Recht erfolgte.

Gilles Anquetil schreibt weiter: „Die Ideologie der Menschenrechte postuliert in ihrem Universalismus und ihrem Kant’schen Rigorismus, daß alle Menschen das gleiche Verhältnis zum Leben und zum Tod haben und daß man sich bedenkenlos über die kulturellen und religiösen Traditionen hinwegsetzen kann, die dieses Verhältnis bestimmen.“

Und dennoch: „So schockierend es uns auch erscheinen mag, wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß ein afghanischer Guerillakämpfer nicht ausschließlich für den Triumph dessen kämpft, was wir Menschenrechte nennen. Er kämpft für die Verteidigung einer kulturellen Ordnung, in der das Verhältnis zum gegebenen oder empfangenen Tod, zu den moralischen Werten, zur Zeit und zum gesellschaftlichen Projekt in keiner Weise dem entspricht, wofür wir Westler kämpfen.“

Quelle: https://www.arktosjournal.com/p/the-religion-of-human-rights-part-7a9

Die Religion der Menschenrechte, Teil 1