Pierre Le Vigan

 

Wir leben in einer Zeit, in der sich das Mantra des Mitleids mit seinen psychologischen Beratungsstellen und das Mantra der „persönlichen Entwicklung“, die Gelassenheit für alle zum kleinen Preis anbietet, vermischen. Mit anderen Worten: Leiden ist in Mode; nicht zu leiden auch (mithilfe von Selbstreflexion). Damit sind wir mitten in der Problematik des Leidens. Wie so oft hat der Sohn eines deutschen Pfarrers diese Fragen vor uns erforscht. Und zwar nicht als Intellektueller, sondern als Mensch, für den das, was man erlebt, und das, was man denkt, eins sind.

 

Es wurde viel darüber gesprochen, daß Nietzsche ein Anti-Hegel sei. Das ist in dem Sinne völlig richtig, daß Nietzsche nicht an einen Sinn der Geschichte glaubt. Auffällig ist hingegen, daß Nietzsches Denken vollkommen dialektisch ist, was ihn zumindest in einer Hinsicht mit Hegel verbindet. Doch die Dialektik liegt bei Nietzsche weniger in den Dingen selbst als vielmehr in der Perspektive auf die Dinge. Dies zeigt sich in Bezug auf Nietzsches Einstellung zum Leiden einerseits und zum Glück andererseits. Nietzsche überwindet den Widerspruch zwischen diesen beiden Begriffen, indem er eine neue Werteskala einführt. Diese ergibt sich aus der Perspektive, die er der Frage gibt. Wir werden sehen, daß man in Nietzsches Methode eine aufsteigende bzw. eine spiralförmige Dialektik erkennen kann.

Über das Leiden zu sprechen, bedeutet, über den Buddhismus zu sprechen. Nietzsche hat einen sehr kritischen Zugang zu ihm. Dies darf jedoch eine Tatsache nicht außer acht lassen: Nietzsche ortet im Buddhismus eine Qualität: Er entzieht sich dem Denken des Ressentiments. Über den Buddhismus zu sprechen, heißt also, über ein Denken zu sprechen, das versucht, das Leiden zu beseitigen.

Nietzsche warf dem Buddhismus vor, daß er sowohl auf der „Übererregbarkeit der Sensibilität“ als auch auf einem „zerebralen Charakter“ beruhe (Der Antichrist). Daraus ergibt sich die Entstehung einer „Depression“. Die Lösung für diese ist die Gleichgültigkeit gegenüber den weltlichen Dingen. „In der Lehre Buddhas wird der Egoismus zur Pflicht: das ›einzig Notwendige‹. Die Art und Weise, wie man sich vom Leiden befreit, regelt und begrenzt die gesamte spirituelle Diät“ (ebd.). Man muß sich vor seinem Appetit hüten. „Der Buddhismus ist eine Religion für späte Menschen, für gütige, sanfte, übergeistig gewordne Rassen, die zu leicht Schmerz empfinden“ (Der Antichrist). Im Buddhismus ist jedes Leiden ein Unwohlsein und jede Anhaftung ein Unwohlsein. Altern und Tod sind Unwohlsein, aber auch die Geburt ist Unwohlsein. Das Leben sollte „sein“, ohne jemals „zu erscheinen“ oder „geboren“ zu werden.

Zu sein, ohne geboren zu werden, ist ein Programm. Es ist das des Buddhismus.

 

Friedrich Nietzsche, Lithographie von Karl Bauer

Der Anti-Buddha

Mehr noch, jedes Verlangen, jede Begierde sind negative Dinge. Um nicht mehr zu leiden, müssen wir uns vom Verlangen lösen. Wenn wir den Durst abschaffen, werden wir nicht mehr unter Wassermangel leiden. Leben heißt also leiden. Denn leben heißt Durst haben, heißt ein anderes begehren, heißt etwas wollen, das man nicht hat. Nietzsche bestreitet die buddhistische Analyse des Grundes für das Leiden nicht. Er teilt die seiner Meinung nach richtige Feststellung und faßt Buddhas Antwort wie folgt zusammen: „Das Leben ist nur Leiden“ – so sagen andre und lügen nicht: so sorgt doch, daß ihr aufhört!“ (Also sprach Zarathustra): Macht, daß das Leben aufhört zu sein, das nur Leiden ist. Weniger Leben bedeutet also weniger Schmerz. Nietzsche kann diese Position jedoch nicht bestätigen. Er sagt nicht, daß die Antwort falsch ist. Er sagt, daß die Frage falsch gestellt ist. Er will das Leben. Egal, was es kostet. Aber dennoch ist er nicht der Meinung, daß es umso mehr Leben gibt, je mehr Schmerz es gibt. Schmerz und sein Gegenteil, die Lust, bilden keine zwei getrennten Dinge. Keines ist für sich allein gültig. Weder Hedonismus noch Dolorismus.

Für Nietzsche ist die Bedeutung des Leidens je nach Art des betroffenen Menschen unterschiedlich. „Tapfere und schöpferische Menschen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleitzustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will“, schreibt er.  So heißt es in Zarathustras ›Das trunkene Lied‹:

Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne, — geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr. Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: „vergeh, aber komm zurück. Denn alle Lust will Ewigkeit“.

Schmerz und Lust beweisen für sich allein nichts. Sie beweisen weder Gesundheit, noch deren Fehlen, noch Krankheit. „Die Abwesenheit von Schmerz oder gar Lust beweist nicht die Gesundheit – noch beweist der Schmerz etwas gegen die Gesundheit“ (Die fröhliche Wissenschaft). Was für den einen Gesundheit ist, kann für den anderen Krankheit sein, und die Krankheit selbst kann für manche Menschen Vorzüge haben und ein Zeichen des Lebens sein („Die Unlogik ist für den Menschen notwendig, und es entsteht viel Gutes aus ihr“, aus ›Menschliches, Allzumenschliches›). Das stellt den üblichen Status des Leidens als etwas, das um jeden Preis zu vermeiden ist, in Frage.

 

Der Motor des Leidens

Gegen den Buddhismus, der das Leiden vermeiden will, und gegen alle Ideologien des „Glücks für alle“ wendet Nietzsche ein, daß die Verallgemeinerung des Wohlstandes das Ende der Individualitäten und damit der Genies, das Ende der „mächtigen Energie“ mit sich bringen würde. „Die Menschheit wäre zu träge, sobald dieser Staat [ein „sozialistischer“ Staat des Wohlstands für alle (Anm. d. Verf.)] verwirklicht ist, um noch Genies hervorbringen zu können. Sollte man daher nicht wünschen, daß das Leben seine Gewalttätigkeit beibehält und daß wilde Kräfte und Energien immer wieder neu zur Geburt angeregt werden“ (Menschliches, Allzumenschliches, ›Genie und Idealstaat im Widerspruch‹).  In diesem Sinne können Schmerz und Leid ein Motor für das Genie sein. „Das schnellste Tier, das dich zur Vollkommenheit bringt, ist das Leiden“, sagt Nietzsche in ›Schopenhauer als Erzieher‹ und zitiert Meister Eckhart. Der Mensch darf sich also nicht schonen. „Er muß sich im Kriegszustand befinden, er darf weder Menschen noch Dinge schonen, obwohl auch er unter den Wunden leidet, die ihnen zugefügt werden.“ (ebd.).

Daher lehnt Nietzsche das buddhistische Projekt, das Leiden zu beseitigen, ab. Er hält dieses Projekt für wirksam. Aber er hält es für irrelevant. „Hedonismus, Pessimismus, Utilitarismus, Eudämonismus, alle diese Systeme, die den Wert der Dinge nach der sie begleitenden Lust oder dem Schmerz, also nach nebensächlichen Zuständen oder Tatsachen bemessen, sind Ansichten ohne Tiefe und [sind] Naivitäten, die jeder mit schöpferischer Kraft und dem Bewusstsein eines Künstlers begabte Mensch nur mit Ironie und Mitleid betrachten kann.“ (Jenseits von Gut und Böse). Hedonismus ist keine Lösung. Die Suche nach Vergnügen ist kein edler Weg. Die Ablehnung des Leidens führt zu nichts Großartigem. Auf der einen Seite haben wir mit Buddha „die Erlösung durch Nirvana“ (das Erlöschen der Wünsche und damit der Schmerzen), auf der anderen Seite haben wir mit Nietzsche die Fähigkeit, „die ewige Wiederkehr zu wollen“. Auf der einen Seite haben wir die sogenannte euphorische Weisheit Buddhas, die vor dem Leiden flieht, auf der anderen Seite die tragische Weisheit Nietzsches, der das Leiden akzeptiert, das „ohne Zweifel ein wesentlicher Teil jeder Existenz“ ist (Posthume Fragmente, XI). Auf der einen Seite steht der Wille zum Nichts, auf der anderen das „Ja“ zur Welt.

Die buddhistische Sehnsucht nach dem Nichts ist die Negation der tragischen Weisheit, ihr Gegenteil, sagt Nietzsche (Posthume Fragmente, X).

Es ist jedoch nicht das Leiden an sich, das gut ist. Es ist die Disziplin, die es mit sich bringt. „Ist nicht alles, was dem Menschen je an Tiefe, Geheimnis, Maske, Geist, List, Größe gegeben wurde, durch das Leiden, durch die Disziplin des großen Schmerzes erworben worden“. Die Frage ist also, wie die Gefahr, wie das Leiden den Menschen dazu gebracht haben, sich zu erheben. „Wir glauben, daß Härte, Gewalt, Sklaverei, Gefahr in der Seele und auf der Straße, daß Verstellung, Stoizismus, Kunstgriffe und Teufeleien aller Art, daß alles, was schlecht, schrecklich, tyrannisch ist, alles, was im Menschen vom Raubtier und von der Schlange abstammt, ebenso gut zur Erhebung des Menschentyps dient wie das Gegenteil davon.“ (Jenseits von Gut und Böse). „Ebenso gut“. Das bedeutet, daß, wenn Gewalt und Härte und List eine Qualität sein können, es auch nicht ausgeschlossen ist, daß ihre Gegensätze ebenfalls eine Qualität sind. Großzügigkeit, Großherzigkeit sind nicht von dem wegzudenken, was den Menschen aufsteigen lassen kann. Alles ist eine Frage der Umstände und der Perspektive.

Ebenso wenig wie Grausamkeit ist das Leiden ein Wert an sich. Nietzsche stellt lediglich fest, daß es, um aufzusteigen, oft notwendig ist, das eine oder das andere zu durchlaufen. Ebensowenig ist Glück ein Wert an sich. „Was ist das Glück? Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, daß Widerstand überwunden wird.“ (Der Antichrist). Wünschenswertes Glück ist genau dies: mehr Energie zu haben. Schlechtes Glück ist satte Zufriedenheit. Glück durch Leistung ist nur einer Minderheit vorbehalten. „Da die oberste Kaste – das ist die der geringsten Zahl – die vollkommenste ist, hat sie auch die Rechte der geringsten Zahl: Sie muss daher das Glück, die Schönheit, die Güte auf der Erde repräsentieren.“ (Der Antichrist). Das Gefühl der eigenen Macht zu haben, ist eine Empfindung. Wir sind weit entfernt von Buddhas Gedanken, der sagte: „Daß, wenn es keine Empfindung gibt, das selbst ist Glückseligkeit.“ Nietzsche hingegen will die Empfindung. Er will sie, auch wenn sie mit Leiden bezahlt werden muß, was in der Regel der Fall ist.

 

 

Heute hat Buddha über Zarathustra triumphiert.

Aber was ist die Tragödie unserer Zeit? Es ist, daß sie Buddha und nicht Nietzsche gewählt hat. Der „letzte Mensch“ hat Pfeil und Bogen aufgegeben. Er hat die Kraft, die Energie und den Krieg aufgegeben, und er hat die Kunst und die Musik aufgegeben. Er hat sich aus dem Leben und der Geschichte verabschiedet.

Zarathustra begann zum Volk zu sprechen: Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, daß der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.

Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!

Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. (Also sprach Zarathustra, Prolog 5).

Die Zeit des letzten Menschen ist die Zeit des Menschen, der das Chaos in sich nicht mehr akzeptiert. Er zwingt sich nicht mehr, dieses Chaos zu ordnen. Sein Leben wird zu einer Reihe von Schubladen. Er öffnet und schließt sie nach Belieben. Das Gefühl, daß Gott tot ist, hat ihm jeglichen Ehrgeiz genommen. Er glaubt, das Glück erfunden zu haben. Ein Glück für alle, zum Einheitspreis. Er will Wärme haben. Er ist vorsichtig. Er hat Angst, über Steine zu stolpern und sich zu verletzen.

Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. (Also sprach Zarathustra).

So hat der Buddhismus gegen Nietzsche triumphiert. Es gibt jedoch auch fruchtbare Leiden, vor denen man nicht weglaufen sollte. Sie sind fruchtbar, wenn sie die Schöpfung und das Schöne fördern, oder die Selbststeigerung, oder die Klarheit, oder die Entwicklung des Willens zur Macht. Das Leiden abschaffen wollen?

Nietzsche bestreitet nicht, daß die buddhistische Methode, die Unterdrückung der Begierden und des Willens – eine Methode, die Schopenhauer aufgreift – wirksam sein kann. Aber Nietzsche zieht es vor, daß das Leiden einen Zweck erfüllt. Nietzsche hat nicht die gleichen Werte wie Buddha. Und ihre Wege sind sehr unterschiedlich!

Quelle: https://arktos.com/2023/09/09/nietzsche-and-suffering-beyond-dolorism-and-hedonism/
Originalquelle: https://www.revue-elements.com/nietzsche-et-la-souffrance-au-dela-du-dolorisme-et-de-lhedonisme/