Julius Evola
analysiert kurz die beiden Wege zum Verständnis des Göttlichen und das Problem des Bösen, das ihre größte Herausforderung darstellt.
Der folgende Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift ›Roma‹ am 27. November 1971 gegen Ende des Lebens von Julius Evola veröffentlicht. Nach Meinung des Übersetzers ist er besonders aufschlußreich für Evolas Persönlichkeit.
Wer sich eine Vorstellung von der Gottheit und ihrer Beziehung zur realen Welt machen will, dem bieten sich zwei Wege an, von denen wir den einen deduktiv und den anderen induktiv nennen könnten. Wer den ersten Weg einschlägt – wie es jeder Gläubige gewohnheitsmäßig tut –, geht von einer bestimmten apriorischen Vorstellung der Gottheit aus, die mit seinem Glauben übereinstimmt und auf deren Grundlage er die geschaffene Welt zu erklären versucht. Auf dem zweiten Weg, dem induktiven Weg, hat man dagegen, nachdem man sich ein realistisches und umfassendes Bild von der Welt gemacht hat, Mühe, sich vorzustellen, welcher Gott ihr Schöpfer oder Urheber gewesen sein könnte.
Auf dem ersten Weg ergeben sich Schwierigkeiten von einiger Tragweite, wenn man von der Vorstellung eines persönlichen Gottes mit besonders positiven, leuchtenden und sozusagen „moralischen“ Eigenschaften ausgeht. In der Tat läßt sich das Böse in der Welt und in der Existenz beobachten; in ihr wirken zerstörerische Prozesse und dunkle Kräfte, und so muß man sich fragen, wie all dies mit einer solchen Vorstellung von Gott in Einklang gebracht werden kann. Diese Versöhnung ist das Problem eines Zweiges der Theologie, der als ›Theodizee‹ bezeichnet wird: Im Rahmen des Christentums können wir feststellen, daß dieses Problem nie auf befriedigende Weise gelöst worden ist.
Bereits in den ersten Jahrhunderten des Christentums wurden die Schwierigkeiten in diesem Bereich von Marcion in Form eines Dilemmas auf ziemlich plumpe Weise dargestellt. Auf der einen Seite betrachtet Marcion die Welt unter den oben genannten dunklen und problematischen Aspekten, auf der anderen Seite postuliert er einen Gott, der weise, gut und allmächtig sein soll. Vor diesem Hintergrund argumentiert Marcion wie folgt: Wenn die Welt so ist, wie sie ist (und nicht die „beste aller möglichen Welten“ ist, wie die ›Theodizee‹ des Leibniz zu zeigen versuchte), dann könnte Gott zwar gut, aber nicht allmächtig und weise sein; oder aber er ist allmächtig, aber nicht gut und weise; oder aber er ist weise, aber nicht allmächtig und gut.
Marcion glaubte, einen Weg gefunden zu haben, um mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden, indem er in gewissem Sinne zwei Gottheiten zuließ: die erste ist der ›Demiurg‹, ein niederer Schöpfergott, der für das Sein, für die Schöpfung, so wie sie ist, verantwortlich ist; die andere ist der höhere Gott, der transzendente, der wahrhaft leuchtende Gott.
Für Marcion war der erste Gott der Gott des Alten Testaments (der in der Tat nicht immer sympathische Züge zeigt); der zweite ist der Gott der Liebe und der Gnade, der Gott, der sich im Neuen Testament offenbart.
Um diese beiden Thesen miteinander zu verbinden, scheute Marcion keine Mühe, die Aspekte der Wirklichkeit und der Existenz aufzuzeigen, die seiner Meinung nach nicht auf die höchste Weisheit eines Gottes hindeuten; sein Werk entbehrt auch nicht einer pikanten Note, wenn er sagt, man müsse nur die „lächerliche Gymnastik“ (sic) betrachten, die für die Fortpflanzung notwendig sei, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß die Schöpfung nicht das Werk eines wahrhaft weisen Gottes ist. (Vielleicht hätte Marcion, wenn er sie gekannt hätte, die Worte jenes berühmten griechischen Redners übernommen, der die Götter und insbesondere Zeus fragte, warum er, nachdem er beschlossen hatte, dass sich der Mensch fortpflanzen müsse, nichts Besseres als die Frau für diese Aufgabe erdacht habe).
Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, den Begriff der Göttlichkeit neu zu dimensionieren, indem man von der Realität der Welt ausgeht. In einem der Aufsätze, die in dem in italienischer Übersetzung bei ›Edizioni Mediterranee‹ erschienenen Band ›Mefistofele e l’androgino‹[1] enthalten sind, weist der Religionshistoriker Mircea Eliade darauf hin, daß in verschiedenen Zivilisationen immer wieder etwas auftaucht, das wir als eine doppelgesichtige Vorstellung von Göttlichkeit bezeichnen könnten, die einer ›coincidentia oppositorum‹ [2] entsprechen könnte: Ein Gott, der Gegensätze in sich birgt, der leuchtend und düster, schöpferisch und zerstörerisch, gut und böse ist – und daher, wenn man so will, ebenso sehr Gott im strengen traditionellen Sinn wie der Anti-Gott, der Teufel, Mephistopheles oder, wie es manchmal heißt, die „andere Hälfte“.
Diese Auffassung unterscheidet sich von der Auffassung der alten dualistischen persischen Religion (der iranischen Religion, die ›Mazdeismus‹ genannt wird), die an der Opposition zweier Ursprungsprinzipien festhielt (der Gott des Lichts gegen Ahriman), von denen angenommen wird, daß sie nebeneinander existieren, sich aber in einem Zustand ständiger Spannung und ständigen Kampfes befinden.
Mit der oben genannten Auffassung hingegen geht man über diesen kosmischen Gegensatz hinaus; man stellt sich eine Einheit vor, die diese Einheit umfaßt und über sie hinausgeht. Eine solche Vorstellung, die sicherlich für viele befremdlich ist, hat häufig einen Platz in der Welt der Mysterien und der Einweihung, aber hier galt sie als das letzte esoterische Geheimnis, das dem Uneingeweihten nicht offenbart werden sollte. Es spiegelt sich im übrigen auch in den Ansichten des mystischen englischen Dichters William Blake wider, der von der „Hochzeit von Himmel und Hölle“ sprach.
Es liegt auf der Hand, daß sich ausgehend von einer solchen Vorstellung der Gottheit und des höchsten Prinzips das Problem der Erklärung der Welt und des Daseins in all seinen Gegensätzen auflöst; es besteht auch keine Notwendigkeit, mit Marcion eine untergeordnete Gottheit zu postulieren, die allein für die Schöpfung verantwortlich ist und die sozusagen keine besonders gute Arbeit geleistet hat. Aber die vielleicht ausgewogenste Sichtweise bietet uns die sogenannte Trimurti des Hinduismus.
Nach dieser bekannten Auffassung sollten wir drei Aspekte des Höchsten Prinzips betrachten, die von ebenso vielen Göttern verkörpert werden: den schöpferischen Aspekt (Brahman), den Aspekt, der die Existenz und die Ordnung bewahrt (Vishnu), und den zerstörerischen Aspekt („schwarz“, Shiva). Mit dieser Triade ist es möglich, eine globale Interpretation des Universums und des Lebens zu versuchen, bei der nichts ausgelassen wird.
In diesem Zusammenhang läßt sich vielleicht nachvollziehen, wie die Idee des Satans im Bereich des christlichen Glaubens entstanden ist. Es ist charakteristisch für das Christentum, der Gottheit nur die positiven, leuchtenden, „moralischen“ Eigenschaften zuzuschreiben. Angesichts dieser Polarisierung mußte alles, was einen anderen Charakter hat und nach der oben erwähnten metaphysischen und transzendenten Auffassung der Gottheit in einer höheren, unergründlichen Einheit aufgeht, in der Person eben des Teufels, des Satans, Luzifers oder dergleichen die Züge eines an und für sich ausschließlich negativen Prinzips – nicht nur der „anderen Hälfte“ – annehmen. Man kehrt damit zur alten dualistischen Sichtweise zurück, nur jetzt in einem moralisierenden Ton.
Natürlich beinhaltet der Begriff des ›Teufels‹ auch noch etwas anderes. Einerseits ist der Teufel das Böse, der Versucher. Um die Möglichkeit der Existenz eines solchen Wesens in der kosmischen Ökonomie des Göttlichen auf seiner eigenen Ebene zu erklären, haben manche versucht, ihn in ein Instrument des Göttlichen selbst zu verwandeln. So sprach Goethe von einer Kraft, die immer das Böse will, aber am Ende trotz ihrer selbst das Gute hervorbringt. Dies schließt jedoch nicht aus, daß – abgesehen vom „Happy End“[3] – der Wunsch nach dem Bösen den christlichen Satan oder Luzifer in seiner Eigenschaft als „Anfechter“, als Widersacher, als „Rebell“ schlechthin, als „Rebell von Beruf“ und „Rebell aus Berufung“ charakterisiert, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß man aus ihm fast den illustren Schutzpatron all jener wilden, wenn auch kapriziösen und ziemlich profanen Tendenzen machen kann, die heute in Mode sind.
Genau dieser Aspekt kommt in dem reizvollen Roman ›Aufruhr der Engel‹ von Anatole France zur Geltung. Die mit Luzifer gestürzten Engel steigen auf die Erde hinab, wo sie sich neu organisieren, um sich zu rehabilitieren, wobei sie alles einsetzen, was ihnen Wissenschaft und Magie zu bieten haben. Alles ist so gut arrangiert, daß es keinen Zweifel am günstigen Ausgang des Unterfangens zu geben scheint. Außer, daß Luzifer am Vorabend des großen Tages einen Traum hat: Er träumt den Sieg, träumt, daß der alte Gott entthront worden ist, daß er selbst den leeren Platz eingenommen hat. Aber in dem Gefühl, der allmächtige Gott des Lichts ohne Rivalen zu sein, überkommt Luzifer ein solches Gefühl der Langeweile, daß er beim Erwachen sofort seine Befehle widerruft und alles über den Haufen wirft. Er zieht es vor, der „ewige Rebell“ zu bleiben.
Anmerkungen
[1] Dieser Titel wurde ins Englische übersetzt als ›Mephistopheles and the Androgyne‹: Studies in Religious Myth and Symbol (Sheed and Ward, 1965). Soweit der Herausgeber herausfinden konnte, ist es derzeit vergriffen.
[2] Lateinisch: „Zusammentreffen von Gegensätzen“, d.h. das gleichzeitige Vorhandensein von gegensätzlichen oder widersprüchlichen Merkmalen, Aspekten, Eigenschaften, Elementen usw. in ein und derselben Sache.
[3] Im Italienischen hat Evola ein „Happy End“ verwendet.
Quelle: https://arktos.com/2023/08/31/the-two-conceptions-of-divinity/
Siehe auch: