Fabrizio Fratus

Der erste Wissenschaftler, der eine gemeinschaftliche Gesellschaft entwarf, war Ferdinand Tönnies, ein gebürtiger Deutscher, Professor an der Universität Kiel und Gründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Der Soziologe wurde 1855 geboren und starb 1936 in Kiel. Er kritisierte die moderne Gesellschaft in seinem bekanntesten Werk: Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Jahr 1887. Tönnies entwickelte und beschrieb den Gegensatz zwischen einer Gemeinschaft (Community) und einer Gesellschaft (Society).

Die Beschreibung der Gemeinschaft durch den deutschen Soziologen ist spezifisch und konkret und wurde als ein System erklärt, in dem die Koexistenz als dauerhaft, intim und exklusiv angesehen werden muß. Ein System, in dem die Einheit der Menschen stark empfunden wird und auf Konsens, auf gegenseitigem Verständnis beruht. Die Entscheidung, einer Gemeinschaft anzugehören, ergibt sich aus einer freiwilligen und sehr spezifischen Mitgliedschaft natürlicher Art, die sich aus Voraussetzungen wie gleicher Herkunft (Blut), gleichen Gefühlen (Sitten) und gleichem Grundstreben (Volk) ableitet.

Tönnies‘ Denken steht in scharfem Gegensatz zum rationalistischen Modell der Aufklärung und zum Kontraktualismus, einer philosophisch-politischen Auffassung, nach der der Staat durch einen Vertrag zwischen den Individuen entsteht; das moderne Konzept wurde im 17. und 18. Jahrhundert von der Schule des Naturrechts vertreten: Durch den Vertrag erklären sich die Individuen bereit, den Naturzustand – in dem sie gleich und frei sind – zu verlassen.

Der deutsche Soziologe entwickelte mehrere wesentliche Unterscheidungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft: Während in der Gemeinschaft das Erbe der Vorfahren wichtig ist, basiert die Gesellschaft auf einem einfachen Bedürfnis nach Nutzen. Während erstere durch echte und von allen geteilte Verbundenheit Bestand hat, bindet sich letztere an sinnlose, materialistische und kurzlebige Annahmen, die in dem Moment enden, in dem das Zusammenleben um des Nutzens willen aufhört. Das Gemeinschaftssystem hat eine holistische Natur, in der das Ganze als lebender Organismus und nicht als Summe von Individuen betrachtet wird. Die Gesellschaft hingegen ist kalt, mechanisch, entzaubert, personalistisch, individualistisch und weit entfernt von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Die eben vorgenommene Beschreibung läßt sich aus der spezifischen Definition desselben Gelehrten ableiten, der in den „warmen Impulsen des Herzens“ die Grundlage der Gemeinschaft sah, während die Gesellschaft „aus dem kalten Intellekt entspringt“. In der Praxis ist es eine Frage des Herzens im Gegensatz zum Verstand: Instinkt gegen kalte Rationalität.

Das Denken von Ferdinand Tönnies ist offen antithetisch, um nicht zu sagen, stark gegensätzlich zu den Prinzipien, die mit der industriellen und der französischen Revolution aufkamen und die den Gesellschaftsvertrag, die Menschenrechte und das System inspirierten, das heute in der westlichen Welt so populär ist.

Um seinen Gedanken Nachdruck zu verleihen, zählt der deutsche Soziologe mehrere Urformen der Gemeinschaft auf, die in der Geschichte der Menschheit zu finden sind, darunter die Beziehung zwischen Mutter und Kind, Mann und Frau und zwischen Brüdern. Alle soeben dargestellten Bindungen haben einen instinktiven und menschlichen Charakter, und auf der Grundlage dieser Art von Beziehung hat der deutsche Soziologe die Fundamente für die Organisation der zukünftigen Gemeinschaften gelegt.

In dieser Spur können wir Aristoteles‘ Gedanken erkennen, daß die Familie das Zentrum der Gemeinschaft war, vom Zentrum (der Familie) ausgehend, in konzentrischen Formen, wurde die Gemeinschaft gebildet.

Das Grundprinzip, von dem Ferdinand Tönnies‘ Opposition ausgeht, ist die Kritik am modernen gesellschaftlichen Versagen, das durch die soziale Atomisierung und die unkontrollierte Urbanisierung als Quelle von Desintegration und Entfremdung gekennzeichnet ist.

Diese Szenarien fügen sich nahtlos in die Vision der Gesellschaft ein, d. h. des oben beschriebenen utilitaristischen und mechanistischen Systems. Um diesen in der Moderne ablaufenden Prozeß zu überwinden, ist eine einfache Rückkehr zur menschlichen Dimension des gesellschaftlichen Lebens, wie sie in den Dörfern bestand, erforderlich. Es muß klargestellt werden, daß seine Anfechtung keine a priori Verleugnung des städtischen Modells und der Figur des Bürgers ist, sondern eine Beschreibung der Art und Weise, wie bestimmte Verhaltensweisen zur Gewohnheit werden, in denen der echte Wille zur Kommunikation, zum Teilen von Erfahrungen, Gefühlen und vor allem Werten verloren geht.

Die Entwicklung eines Gemeinschaftsgeistes ist sowohl für den Einzelnen selbst als auch für die gesamte Gemeinschaft wichtig. Die Gedanken des deutschen Gelehrten sind absolut aktuell und relevant für unsere Zeit, und sie wiederzuentdecken kann eine große Hilfe sein, um dem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der materialistischen, massenhaften und standardisierten Gesellschaft entgegenzuwirken.

Während der deutsche Soziologe seinen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in einer theoretischen und ideologischen Form darstellte, werden seine Beschreibungen heute verstärkt durch den technischen Fortschritt und den Wirtschaftsliberalismus verwirklicht, die maßgeblich zu einer Atomisierung der Gesellschaft beitragen.

Die soziale Realität ist zunehmend durch die Dominanz des Privatinteresses im Gegensatz zum Gemeinschaftsinteresse gekennzeichnet. Indem man die Aspekte des deutschen Gelehrten erfaßt, ist es nicht nur möglich, eine substanzielle Opposition zum Modell der liberal-kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln, sondern vor allem einen Prozess aufzuzeigen, der dem durch die Technologie erzwungenen entgegengesetzt ist, um sich auf ein System zuzubewegen, in dem die menschliche Beziehung und der Mensch wieder im Mittelpunkt des realen Lebens stehen.

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2022/11/30/redecouvrir-la-communaute-retour-a-tonnies.html

 

Bildquelle: Deutsche Weltanschauung

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