Guillaume Durocher
vertritt die Ansicht, daß die ›Schule der Antike‹ als Korrektiv für unser gescheitertes Bildungssystem dienen könnte.
Ich bin davon überzeugt, daß unsere Bildungssysteme die klassischen Fächer nicht richtig unterrichten. Nehmen wir mein eigenes Beispiel: Ich habe es geschafft, fleißig zu studieren und einen Abschluß in Geisteswissenschaften mit Auszeichnung zu machen, ohne jemals Aristoteles oder Tocqueville gelesen zu haben, geschweige denn Homer. Kein Wunder, daß mein Blick auf die Welt ziemlich beschränkt war.
Tatsächlich liegt der Fehler nicht nur bei der Bildungseinrichtung: Die Klassiker sind für Uneingeweihte oft schwer zu lesen, da sie vor Hunderten oder Tausenden von Jahren für eine ganz andere Zeit und einen ganz anderen Lebensraum geschrieben wurden und oft einen rätselhaften Ursprung haben. In den antiken Klassikern begegnen wir dem allerersten Aufflackern des menschlichen Bewußtseins, suggestiv, kraftvoll und rätselhaft, wie die Notizen, die man unmittelbar nach dem Aufwachen aus einem der seltsamsten Träume machen kann.
Von allen antiken Völkern scheint keines so vollständig biopolitisch gewesen zu sein wie die Griechen. Bei keinem anderen Volk war der Wunsch, das höhere Leben zu fördern und durchzusetzen, so natürlich, bei keinem anderen waren menschliche Tugend und Vernunft so sehr miteinander verbunden, so daß sie diese Weltanschauung ausdrücklich formulierten und rechtfertigten. Das macht die Griechen besonders studierenswert: Sie sind nicht nur die Begründer unserer westlichen Zivilisation, sondern ihre Weltanschauung stimmt auch erstaunlich gut mit unseren eigenen Annahmen überein.
In diesem Artikel möchte ich kurz auf einige Werke des hellenischen Kanons eingehen. Ich hoffe, daß dieser Wegweiser zur Lektüre anregt und diese Werke weniger abschreckend erscheinen läßt, denn keine europäische Bewegung kann ohne moralisches Selbstvertrauen obsiegen, und dieses Selbstvertrauen rührt auch aus der Gewißheit, daß unsere Bemühungen auf einem soliden geistigen und kulturellen Fundament beruhen. Darüber hinaus kann das Leben und Denken eines jeden von uns durch die Auseinandersetzung mit der alten Weisheit nur positiv beeinflußt oder gar verändert werden.
Jeder liebt eine gute Abenteuergeschichte, und selbst Kinder können die Erzählungen in Homers Odyssee zu schätzen wissen. Je weniger ich Homer umschreibe, desto besser. Es genügt zu sagen, daß ›Odysseus‹ die Tugenden des europäischen Helden durch die Jahrhunderte hindurch verkörpert: Treue, Zähigkeit und Kühnheit, in einer Geschichte, die sich um Heimat, Identität und Schicksal dreht. Odysseus ist der Lebenskünstler, dessen Ehre und Intellekt in vollem Einklang mit seinem Entdeckungs- und Eroberungsdrang stehen.
In einem ähnlichen Genre ist die ›Anabasis‹ des Schriftstellers und Soldaten ›Xenophon‹ angesiedelt, sein Bericht über seinen Dienst in der Expedition der zehntausend Griechen, die in Persien einfielen und erfolgreich entkamen. Das Werk ist nicht nur eine unterhaltsame Erzählung, sondern zeigt auch die notwendigerweise gewaltsame Entstehung des Staates, der von einem verantwortungsbewußten Männerbund gegründet wurde, sowie die Tugenden der Führung.
Die ›Meditationen‹ des Marcus Aurelius sind vielleicht die prägnanteste Einführung in die antike philosophische Ethik. Man erfährt nicht die Argumente und Spekulationen rund um die Ethik, die für viele langweilig und verwirrend sind, sondern vielmehr die Schlußfolgerungen: eine Synthese, die die antike Ethik in der Praxis anhand des geistigen Tagebuchs eines römischen Kaisers offenbart. Die Lektüre der ›Meditationen‹ kann in der Tat eine transformative Erfahrung sein. Marcus Aurelius ist der fromme Mann, der sich ständig in Selbstbeherrschung übt, zum Wohle seiner Gemeinschaft.
Die ›Politeia‹ von Aristoteles kann und sollte von allen Menschen gelesen werden, die behaupten, sich für öffentliche Angelegenheiten zu interessieren. Wir können den Philosophen aus Stagiria durch diese versteinerten Vorlesungsaufzeichnungen zu uns sprechen hören, deren Punkte immer greifbar, empirisch und praktisch sind. Aristoteles‘ übliche Methode, die Praktiken und Meinungen zu seinem Thema aufzulisten, macht dies zu einer guten Einführung in die antike griechische Politik und die Politik im allgemeinen. Was die Prinzipien betrifft, so plädiert Aristoteles überzeugend für einen eudaimonischen, kommunitären und biopolitischen Republikanismus, der in keiner Weise durch eine spätere „Sklavenmoral“ oder liberale Ansprüche verdorben ist. In vielerlei Hinsicht sollte die ›Politeia‹ auch nach über zwei Jahrtausenden unser Maßstab für die Art von Politik sein, die wir anstreben: Platon mag ehrgeiziger und inspirierender sein, aber Aristoteles ist bodenständiger und greifbarer.
Ganz allgemein können viele der Werke von Aristoteles von fast jedem mit Gewinn gelesen werden, sei es die ›Nikomachische Ethik‹ (über persönliches Verhalten), die ›Poetik‹ (über kreatives Schreiben), die ›Rhetorik‹ (über Überzeugungskraft) und so weiter. Aristoteles stellt auf formal akademische Weise die unverhohlen aristokratische Lebensweise und die Fähigkeiten der alten Griechen dar.
Platon stellt in vielerlei Hinsicht den Gipfel der Philosophie dar. Wenn Aristoteles ein Wissenschaftler und vielleicht sogar ein Akademiker im modernen Sinne war, so war Platon selbst so etwas wie ein Dichter [sic] und ein großer geistiger Erneuerer. Sein Werk kann durchaus reizvoll, anregend und inspirierend sein. Aber er nimmt einen nicht an die Hand. Mit ihren Paradoxien und Rätseln bildet der riesige Korpus der platonischen Dialoge ein großes Koan, ein Rätsel. Niemand außer Platon hätte von so unterschiedlichen Kreisen wie der antiken Intelligenz, den Kirchenvätern, den amerikanischen Transzendentalisten oder auch dem Dritten Reich so verehrt werden können. Aber dieser rätselhafte Philosoph kann auch lästig sein: Jefferson war von seiner Republik ziemlich angewidert, und Nietzsche hat es Platon, Sokrates und/oder Platons ›Sokrates‹ nie verziehen, daß er die Philosophie zu einem Spiel von Definitionshaarspaltereien gemacht hat, von Strebern, die Sportler demoralisieren.
Dennoch muß man kein Berufsphilosoph sein, um von Platon zu profitieren und ihn zu genießen. Die Tetralogie über die letzten Tage des Sokrates kann nur diejenigen bewegen und inspirieren, die auf der Suche nach der Wahrheit sind, sie aussprechen und leben wollen, insbesondere in einem demokratischen Zeitalter.
›Der Staat‹, dieses berühmte Buch, ist vielleicht die beste Synthese von Platons Projekt, mit seinen Scherzen, seinen Provokationen, seinen logischen Extremen…, indem es die spirituelle Suche des Philosophen nach Wahrheit und die Suche des Politikers nach einem besseren Staat parallel stellt, ohne dabei, wie so oft bei antiken und modernen Moralisten, die biologischen Grundlagen des menschlichen Strebens zu vergessen.
Wem das alles zu hoch erscheint, der sollte Platons ›Siebten Brief‹ lesen, der, ob authentisch oder nicht, auf lehrreiche Weise die praktischen Auswirkungen der platonischen Philosophie auf das persönliche Leben und den politischen Aktivismus darlegt.
Die langatmigen Gesetze haben einen schlechten Ruf; und sicherlich wird vieles in der ›Politeia‹ auf zugänglichere Weise behandelt, und vieles ist von rein historischem Interesse. Nichtsdestotrotz hat das Werk seinen Reiz und seine Einsichten, und man kann es genießen, wenn man es mit der richtigen Einstellung liest. Die Gesetze machen deutlich, daß Platons Philosophie nicht in den Wolken schwebt, sondern sich einer entschieden praktischen, realistischen und ehrgeizigen sozio-politischen Umgestaltung verschrieben hat. Man kann vermuten, daß ein Großteil seines Projekts in der Tat eine seltene Beschreibung der spartanischen Praxis ist.
Es gibt noch viele andere platonische Werke, die sich mit Erkenntnistheorie, Ethik, Metaphysik, der Seele und so weiter befassen. Es genügt zu sagen, daß Platon keinen Widerspruch zwischen der Biologie und der spirituellen Suche sah, und das macht ihn äußerst wertvoll. Und er unternahm all diese Dinge, während er ein wohltuendes Lachen verbreitete.
Neben Platon kann man sich mit großem Gewinn Xenophons eigenen sokratischen Dialogen zuwenden. Akademiker haben Xenophons ›Apologie des Sokrates‹ oft als weniger tiefgründig empfunden, aber diese Dialoge – die von Nietzsche sehr hoch bewertet wurden – sind zugänglicher, wohl auch konstruktiver und sicherlich unmittelbar moralisch lehrreich. Man entdeckt einen Sokrates, der ein stichhaltiger Kritiker individualistischer, egalitärer und wurzelloser kosmopolitischer Exzesse ist, und der kunstvoll für Gemeinschaft, Disziplin und Selbstkultivierung plädiert.
Von den antiken Geschichtsschreibern kann man viel lernen, aber ihre Weisheit ist in ihren sehr langen Werken begraben, die als Chroniken oder Annalen zwangsläufig „eine verdammte Sache nach der anderen“ sind (und dazu noch von oft höchst ungewisser Zuverlässigkeit). Wenn Sie also nicht alle Einzelheiten wissen wollen, müssen Sie sich mit Auszügen aus den berühmtesten Passagen begnügen.
Ich persönlich habe eine Vorliebe für Herodot: Seine Erzählungen sind oft unglaubwürdig, aber als Ganzes betrachtet voller Weisheit und Einsicht. Zu den Höhepunkten gehören das Treffen zwischen ›Krösus‹ und ›Solon‹, die Diskussion über König Nomos, die persische Debatte über die Regierungsformen und die heroische Darstellung des Sieges von Athen und Sparta über die Perser mit vielen ikonischen Szenen und Redensarten.
Thukydides ist der erste bekannte Autor, den wir als echten Historiker und nicht als Märchenerzähler betrachten würden. Sein Werk ist lang, trocken und bitter. Zu den denkwürdigen Passagen gehören die Einleitung über die Geschichtsschreibung, der berühmte ›Melierdialog‹ über die Ausrottung widerspenstiger Untertanen durch die Athener, die Schilderung des Bürgerkriegs, die letzte Schlacht der sizilianischen Expedition und vor allem die Leichenrede des Perikles, eine bewegende und beredte Verteidigung der athenischen Demokratie.
Aus späterer Zeit ist ›Polybius‹ ein hervorragender Chronist des Aufstiegs der römischen Republik. In den Büchern I und XII finden sich auffallend moderne Passagen über die Geschichtsschreibung, insbesondere die „Universalgeschichte“. Buch VI enthält eine berühmte Darstellung der Tugenden der römischen Verfassung, insbesondere des Gleichgewichts zwischen den sozialen Ordnungen, die für die modernen Republikaner sehr einflussreich war.
Was ›Plutarch‹ betrifft, so kann ich nur von seinen Werken über Sparta sprechen, insbesondere vom Leben des ›Lykurg‹ und den gesammelten Sprüchen der Spartaner. Zusammen mit Xenophons kurzer Verfassung von Sparta sind dies die längsten Werke, die ausschließlich diesem berühmten und doch geheimnisvollen, strengen Stadtstaat gewidmet sind. Sie müssen zusammen mit der ›Gefallenenrede‹ des Perikles studiert werden, da sie den Grundstein für die westliche Bürgerpolitik legen: Man entdeckt ein gesetzmäßiges, gemeinschaftliches und biopolitisches System, das in Plutarchs idealisierter Beschreibung eine ungewöhnliche Kombination aus antiker Weisheit und männlicher Tugend zum Ausdruck bringt.
Die verschiedenen vorsokratischen und sophistischen Denker, die nur in Fragmenten überliefert sind, sind notwendigerweise rätselhaft und sehr heterogen. Vieles ist bizarr, aber man findet auch vieles, das einen modernen Menschen ansprechen kann: tiefe Einsichten in die Natur der Wirklichkeit, wirklich wissenschaftliche Beobachtungen und Theorien („die Sonne … ist ein feuriger Stein, größer als der Peloponnes“!) und vertraute gesellschaftspolitische Debatten, manchmal mit subversivem Charakter.
›Die Goldenen Verse‹, die Pythagoras zugeschrieben werden, sind eine Synthese der antiken philosophischen Ethik in Form eines regelmäßig rezitierten quasi-religiösen Gedichts. Daß sich die alten philosophischen Schulen nicht wie der Buddhismus zu volkstümlichen und institutionalisierten Religionen entwickelten, bewahrte sie vor gewissen Entstellungen, bedeutete aber auch, daß sie nicht als lebendige Traditionen überlebten.
Aus dem Jenseits beschämen uns die Sprüche und das Leben von Diogenes, dem Kyniker, für immer für unsere Inkonsequenz.
Wenn Diogenes‘ Possen unverständlich erscheinen, kann man sich den Briefen des letzten heidnischen Kaisers ›Julian‹ zuwenden, um feurige und wortgewaltige Erklärungen zu erhalten und einen umfassenderen Einblick in die heidnische Religion und philosophische Praxis zu gewinnen (seine religiösen und politischen Reden hingegen lassen den modernen Menschen vielleicht eher kalt).
Ähnliches kann man aus den Diskursen des Epiktet lernen, der immer wieder die tägliche Praxis und Denkweise der Stoiker erklärt und bekräftigt. Die stoische Lebensweise ist in seinem Handbuch (Enchiridion) prägnant zusammengefaßt, das als hilfreicher ethischer Leitfaden für den Alltag dienen kann und als solcher auch jahrhundertelang von der orthodoxen Kirche verwendet wurde.
Um zu den ursprünglichen Dichtern zurückzukehren: Hesiods ›Theogonie‹ zeigt die großen Leidenschaften und die Gewalt am Ursprung der Dinge auf, während seine Werke und Tage eine Synthese und ein Katechismus der hart erkämpften Weisheit und des gesunden Menschenverstands der Bauern sind, die damals wie heute Gültigkeit haben.
Homers ›Ilias‹ ist das schwierigere, tiefgründigere und ehrfurchtgebietendere seiner beiden Gedichte: In ihr kommen mit einzigartiger Kraft die schrecklichen Kräfte der Liebe und des Krieges zum Ausdruck, die schiere Macht, die allem Leben zugrunde liegt.
Ich will das oben nicht kommentieren oder kritisieren, weil es sich um den Widerhall der persönlichen Begegnung des Autors mit der Literatur des griechisch-römischen Altertums handelt. Das alleine ist heute schon lobenswert. Ich vermisse lediglich einige bedeutende Namen wie Heraklid, Demokrit, Epikur und Plotin, ohne deren Thesen die genannten und gewürdigten Autoren nicht richtig verstanden werden können, da letzere auf die ersteren reagierten: Plato auf Heraklid und Demokrit, Seneca auf Epikur und Plotin auf die Stoa. In der Antike diskutierten alle philosophischen Schulen miteinander, auch wenn sie sich leidenschaftlich bekämpften. Es gab innerhalb der gelehrten Welt des Altertums keine „Cancel“-Kultur, keine Denkverbote, kein Totschweigen und keine Zensur. Bezeichnenderweise trat das alles erst auf den Plan, als das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion geworden war. – Ich will aber auch noch etwas zur gegenwärtigen Verdummung anmerken, die der Autor ja mit einer Wiedererinnerung der Antike bekämpfen will. Ursache dieser Verdummung ist in allererster Linie das Umsichgreifen der sogenannten „Leichten Sprache“ , d.h. einer einer fast grammatiklosen Sprache im Nominalstil , allenfalls noch mit beiordnenden Relativsätzen, aber ohne logisch unterordnende Nebensätze oder Partizipialkonstruktionen. Die Logik des Aristoteles hätte ohne die altgriechische Grammatik nicht entstehen können. Sie korrespondiert mit der griechischen Grammatik. Wir im Deutschen sind oder vielmehr waren einmal in der glücklichen Lage, die altgriechischen Satzkonstruktionen am besten nachahmen zu können, worauf vor allem Wilhelm von Humboldt stolz war. . Je mehr wir aber unsere Sprache dem Englischen oder vielmehr Amerikanischen angleichen, desto weniger Möglichkeiten haben wir, um unser Denken we auf einem dreistufigen Cembalo-oder Orgelmanual auszuspielen. Es wird vielmehr alles einspurig, eindimensional und unbegründet (doktrinär) gesetzt. Es gibt keine Argumente mehr, sondern nur noch hingeknallte Aussagen. Nur vor dem fatalen Hintergrund der Entwicklung zur „leichten Sprache“ sind so fatal-hirnlose Parolen wie „Wir sind mehr“ oder „Kein Mensch ist illegal“ oder „Wir haben Platz“ überhaupt denkbar. Ich bin versucht in Analogie zum berüchtigten kreolischen Schimpansen-Englisch die „leichte Sprache“ im Deutschen als Schimpansen-Deutsch zu bezeichnen, um von der unsäglichen „Kanak-Sprak“, die gewisse Soziologen tatsächlich als die deutsche Sprache der Zukunft feiern, schon gar nicht zu reden.